Kapitel dreizehn
Richard Gates schäumte vor Wut.
Es war Viertel nach zehn, und er hatte gerade sein Telefongespräch mit dem Sozialdienst beendet. Die Frau, mit der er gesprochen hatte, eine gewisse Mrs. Mary Barton, war in Bezug auf Cathy Connor wenig auskunftsfreudig gewesen. Nachdem er zehn Minuten damit vergeudet hatte, glaubhaft zu machen, dass er Polizist war, hatte sie die nächsten zehn Minuten darauf verwendet, ihm zu schildern, wie aggressiv sich das Mädchen angeblich aufgeführt hatte. Schließlich hatte er ihr dann rundheraus angedroht, wenn sie ihm nicht den wahren Grund für Cathys Aufenthalt in Benton verriete, würde er umgehend bei ihr zu Hause auftauchen und die Erklärung aus ihr, ihrem Mann und sämtlichen Sprösslingen herausschütteln, wenn denn aus der Verbindung überhaupt welche zustande gekommen seien. Das hatte der Frau am anderen Ende der Leitung fast einen Schlaganfall beschert, während die junge Polizistin in seinem Büro Tränen lachen musste, ebenso wie Betty.
Wenn er in der Nähe des Telefons bleiben möge, hatte sie ihm schließlich auf betont reservierte Weise bedeutet, würde sie dafür sorgen, dass jemand von der Schule bei ihm anrufen und die Situation erklären würde.
Ohne auch nur »Guten Abend« zu wünschen, knallte er den Hörer auf die Gabel, sah nacheinander die Polizistin und Betty an und verkündete: »Da ist was so faul, dass es zum Himmel stinkt. Laut der Vorgesetzten dieser Frau sollte das Mädchen zu den Hendersons gebracht werden, wer zum Teufel die auch sein mögen. Nach Aussage von Mary Barton aber hat Cathy jeden attackiert, dem sie begegnet ist, und wurde daher in Sicherheitsverwahrung genommen … Als ich die Kleine zuletzt gesehen habe, war sie so eingeschüchtert, dass sie vor jedem verdammten Mäuschen Reißaus genommen hätte, und da will mir dieses Miststück von Sozialarbeiterin weismachen, dass Cathy sie während der Autofahrt angegriffen hat.«
Betty sah ihn entgeistert an.
Die junge Polizistin seufzte tief. »Hätte ich doch bloß rechtzeitig meine Bedenken angemeldet, aber ehrlich, Sir, so was erleben wir doch alle Tage. Kinder, die von der Behörde einfach so abgeholt werden. Barton sah zwar aus wie eine fiese Kuh, aber ich dachte, sie würde das Mädchen zu einer Pflegefamilie bringen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie diese Cathy in Sicherheitsverwahrung bringen würde. Ich meine, selbst wenn das Mädchen sie angegriffen hat - und da hab ich meine Zweifel -, selbst dann hätte Barton sie nicht irgendwo einliefern dürfen, bevor die Gerichte entschieden haben, was mit ihr geschehen soll. Es hätte doch zuerst einen offiziellen Richterspruch geben müssen, oder?«
Gates nickte. »In der Tat. Wieso konnte sie also noch am selben Abend in der Sicherheitsverwahrung enden? Da stimmt doch etwas nicht, und ich werde herausfinden, was es ist, selbst wenn ich heute noch persönlich in dies verdammte Deal fahren muss.«
Betty war gleichzeitig verängstigt und beflügelt. Sie wollte nur das Beste für Cathy, die doch ein gutes Mädchen war, und jetzt, da Gates ihr zur Seite stand, ging es ihr gleich viel besser. Er war ein Mann, der etwas bewegen konnte - auch wenn er aussah wie jemand, der selbst in einem Bela-Lugosi-Film keine Rolle bekommen hätte.
 
Denise paffte an ihrer Zigarette und redete wie ein Wasserfall. Cathy schwieg, rauchte eine Senior Service und war ganz froh, dass Denise die Unterhaltung bestritt. In Gedanken verloren versuchte sie, die Schmerzen in ihren Händen einfach zu vergessen, und ließ Denise den Mann in Beschlag nehmen. Da sie sich allmählich an ihn gewöhnt hatten, war der Fischgeruch auszuhalten, und während der Laster London entgegenrollte, wurden Cathys Lider immer schwerer.
Denise war dem Mann neben sich ehrlich dankbar, und nicht einmal seine Akne und sein Mundgeruch schreckten sie ab. Als Halbchinesin und unbestreitbar übergewichtig wusste sie sehr wohl, dass sie den Mann ihrer Träume niemals bekommen würde, aber dieser mit seiner angenehmen Art und Herzlichkeit zog sie an, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Der Instinkt sagte ihr, dass sie bei ihm sicher waren. Nach dem, was sie hatten ausstehen müssen, war das allein schon eine Erlösung. Er bot ihnen Zigaretten an und unterhielt sie mit spöttischem Geplänkel, als wären sie wiedergefundene alte Freunde. Und das Beste war, dass er keine komischen Fragen stellte.
Denise war sehr angetan davon, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Cathy und sie mussten nicht mehr frieren und konnten sich endlich ein wenig entspannen. Sie waren auf dem Weg und in Sicherheit. Das machte Denise froh und glücklich.
Auch Derek war erfreut. Ihm gefiel das chinesische Mädchen sehr. Trotz ihres Körperumfangs hatte sie etwas Verletzliches an sich, und was sie zu erzählen hatte, war interessant und lustig. Er bemerkte die bewundernden Seitenblicke, die sie ihm zuwarf, und lächelte sie an. Er wusste, dass diese Begegnung noch viel weiter führen würde, und er dankte seinem Glücksstern dafür, dass er den Weitblick gehabt hatte, anzuhalten und die beiden Mädchen mitzunehmen.
Das Leben machte wieder Spaß, und die große Abby schlug er sich ein für alle Mal aus dem Kopf.
»Nimm noch eine Senior Service, Süße«, forderte er Denise auf.
Er hatte ein großes Herz und war freigebig - genau das, was die beiden Ausreißer brauchten.
 
Mr. Hodges hörte mit Entsetzen, dass nicht nur zwei der Mädchen entflohen waren, sondern auch noch ein Detective Constable aus London telefonisch Erkundigungen einholte. Miss Henley hatte den Anruf von einer verstört klingenden Mary Barton entgegengenommen, und jetzt hatten sie und Hodges völlig die Fassung verloren.
Die beiden Misses sahen sich das Schauspiel stillvergnügt an. Keine von beiden hatte etwas zu befürchten, keine hatte sich etwas vorzuwerfen. Sie waren einfach daran interessiert, wie die Hauptakteure in diesem abstoßenden Schauspiel es anstellen würden, sich aus dem Morast zu befreien.
In Anbetracht all dessen versprach es eine unterhaltsame Nacht zu werden.
009
Richard Gates nahm den Anruf aus Benton kurz nach halb zwölf entgegen. Sowohl die Polizistin als auch Betty horchten neugierig auf, als er zum Hörer griff.
»Detective Inspector Richard Gates hier. Mit wem spreche ich?«, sagte er knapp, und seine Stimme klang aggressiv. »Mr. Hodges, sagen Sie? Könnten Sie mir bitte Ihren Namen buchstabieren? Ich würde mir sehr gerne alles ganz genau notieren für den Bericht, den ich morgen früh weiterleiten muss.«
Er lächelte den beiden Frauen zu und fuhr fort: »Welcher Bericht? Nun, natürlich mein Bericht an das Gericht. Wie ich feststellen muss, ist ein Fehler gemacht worden, und da das Mädchen anfänglich unter meiner Obhut stand, beabsichtige ich, dafür zu sorgen, dass dieser Fehler so schnell wie möglich korrigiert wird.«
Er seufzte theatralisch und sprach weiter. »Ein nettes kleine Ding, diese Cathy. Ich kenne sie schon von Kindesbeinen an. Soweit ich verstanden habe, sollte sie zur Familie Henderson kommen, nicht wahr - also verstehe ich nicht, was sie in Sicherheitsverwahrung zu suchen hat. Das müsste doch auch Ihnen seltsam vorkommen, oder? Es sei denn, Sie hätten mir etwas zu sagen, das ein anderes Licht auf die Angelegenheit wirft, wie zum Beispiel ein Gerichtsbeschluss wegen aggressiver Straftaten oder dergleichen … Nein? Nun, in dem Fall sollte ich am besten gleich zu Ihnen kommen und das Mädchen persönlich abholen. Erspart doch Mrs. Barton einen Weg.«
Während er sich anhörte, wie der perfide Hodges mit einer Flut von Ausreden aufwartete und versuchte, sein Verhalten zu rechtfertigen, steckte Gates sich eine Zigarette an und lehnte sich völlig entspannt auf seinem Stuhl zurück.
Hodges war gar nicht mehr zu halten. Cathy könne abgeholt werden, sobald Gates es wünschte.
Betty, die übers ganze Gesicht feixte, fragte sich, wann sie das arme Ding wohl holen könnten. Sie freute sich schon darauf, die Kleine wieder daheim zu haben.
 
Cathy wachte auf, als sie in North London einfuhren. Denise kicherte, und Cathy grinste zurück.
»Wo sind wir?«, fragte sie schlaftrunken.
Denise reagierte nicht, und Cathy merkte, dass die Freundin mit dem Lastwagenfahrer gelacht hatte, nicht mit ihr.
»Hör mal, Cath, ich weiß, dass es so nicht geplant war, aber ich werd dich in Soho absetzen lassen. In Ordnung?«
Cathy sah die Freundin ungläubig an. »Was soll das heißen?«
Denise schloss die Augen und musste schwer schlucken, bevor sie antworten konnte. »Na ja, Derek hier meint, er kann mir einen richtigen Job besorgen. Also ist es das Beste, wenn du nach Soho gehst. Ich hab ihm die ganze Sache erklärt, und wir meinen beide, dass du dich vom East End fernhalten solltest, zumindest für ein paar Tage. Ist doch klar, dass sie da zuerst suchen, oder? Ob du nun weggeschlossen gehört hast oder nicht, ich mein, bis wir nicht wissen, was die alte Barton gemacht hat, können wir nicht ruhig schlafen, oder? Lass ein paar Tage verstreichen und geh dorthin zurück, wo du mal gewohnt hast. Peil die Lage. Die Bullen beobachten all die Orte, wo du dich immer rumgetrieben hast. Glaub mir, ich weiß Bescheid. Ich hab das alles schon mal mitgemacht.«
Cathy sah ihre Freundin entgeistert an, ohne zu verstehen, was sie eigentlich sagen wollte. »Wohin willst du denn?« Ihre Hände schmerzten wieder. Sie fror und war müde.
»Wie ich schon gesagt hab. Ich geh mit Derek.«
Denise schaute schuldbewusst aus, Derek lächelte offen. Er verstand nicht so recht, was für Probleme die beiden hatten. Er sah während der Fahrt immer wieder zu ihnen hinüber und lächelte, bis Cathy schließlich nicht anders konnte, als zurückzulächeln.
»Aber wohin willst du denn?«, beharrte sie.
Denise seufzte. »Nach oben in den Norden mit ihm. Diese Ladung liefert er hier ab, und dann fährt er noch mehr Fisch holen in einem Ort namens Grinsby, stimmt’s? Aber was denkst du eigentlich, wer du bist? Vielleicht ‘n Scheißbulle, oder was?«
Es sollte scherzhaft klingen, aber Cathy verstand sehr wohl. Denise hatte einen Kerl gefunden, und von jetzt an ging jede ihren eigenen Weg.
»Aber was soll ich in Soho machen?«, fragte Cathy verzweifelt. »Ich kenn mich da nicht aus und kenn doch keinen.«
Denise lachte laut. »Du hast fünfundzwanzig verdammte Scheine, du dämliche Kuh. Du kannst hingehen, wo es dir gefällt.«
Denise gab sich große Mühe, sie aufzumuntern, aber es entging ihr nicht, wie verwirrt und eingeschüchtert Cathy war. Mitfühlend sagte sie: »Ich find’s auch furchtbar, dich einfach so abzusetzen, Kleine. Kannst du mir glauben. Aber ich hab hier eine Chance, verstehst du, es könnte ein neuer Anfang sein. Wenn du willst, kannst du auch gerne mitkommen.«
Cathy schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass dieses Angebot nur aus freundschaftlichem Pflichtgefühl ausgesprochen wurde und zur Belastung würde, wenn sie es tatsächlich annahm. Sie schloss die Augen und versuchte zu lächeln.
»Das Geld hatte ich ganz vergessen.«
Denise grinste. »Wie konntest du das vergessen? Ein kleines Vermögen.«
Die beiden Mädchen unterhielten sich danach schon fast vergnügt, aber eine Stunde später stand Cathy allein auf der Oxford Street, mit fünfundzwanzig Pfund in der Tasche und schwerem Herzen. Als sie ihrer Freundin zum Abschied nachwinkte, fühlte sie sich einsamer als je zuvor. Als sie das entsprechende Schild entdeckte, schlug sie die Dean Street in Richtung Soho ein. Wie Denise ihr versichert hatte, führten hier sämtliche Straßen nach Soho.
Mit ihren wenigen Habseligkeiten strebte Cathy in der Dunkelheit und Kälte einer Gegend zu, wo sie Lichterglanz, etwas zu essen und zu trinken und ein Bett für die Nacht zu finden hoffte.
Ihre Hände schmerzten wie ihr Herz, aber trotz aller Kälte und Trostlosigkeit spürte sie, dass sie auf dem Weg in ein besseres Leben war. Ohnehin war alles, wirklich alles auf der Welt besser als die Benton School for Girls.
 
Mr. Hodges war vor Entsetzen verstummt, und nur ein großer Brandy und Miss Henleys aufgeregtes Gezwitscher holten ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Wir sind erledigt, alle zusammen. Dieser Polizist, dieser Inspektor Gates, kommt morgen früh, um Connor abzuholen.«
Miss Henley schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber sie ist weg, haben Sie ihm das nicht erklärt? Unsere Polizei wurde bereits informiert. Davon kann er sich leicht überzeugen …«
Hodges sprang auf und brüllte: »Scheiße! Als ob ich das nicht wüsste, Frau! Aber was hätte ich denn machen sollen? Das Mädchen hätte überhaupt nie hergebracht werden dürfen, wie wir alle wissen. Jetzt ist es an Barton, die Angelegenheit zu klären und die Wogen zu glätten. Wenn sie das nicht schafft, sind wir geliefert. Wir alle!«
 
Mary Bartons Ehemann war normalerweise liebenswert und freundlich. Gestraft mit dieser dominanten Frau, ließ er sie um des häuslichen Friedens willen frei schalten und walten.
Mr. Justice Barton, Richter am Obersten Gerichtshof, trug den Spitznamen Unjust Barton, auf den er insgeheim stolz war. Stolz war er ebenfalls auf seinen Schnauzbart, sein stets akkurat gestutztes stahlgraues Haar und mehr als alles andere auf die harte Hand, die er alle Angehörigen der kriminellen Schichten spüren ließ. Er vermochte genauso leichthin und wirkungsvoll einen Zeugen einzuschüchtern wie die Staatsanwaltschaft zu beraten.
Sein Leben war ein Spiel, ein großes amüsantes Spiel, und er betrachtete alle Mitmenschen einschließlich seiner flachbrüstigen und spitznasigen Xanthippe von Ehefrau als seine Marionetten.
Heute Abend, nachdem er sich im Club ausgiebig am zwölf Jahre alten Malt gelabt und zudem die Fürsorge eines jungen Freundes genossen hatte, eines liebreizenden Jünglings mit goldenen Locken und einem Mund mit der Saugkraft eines Staubsaugers, wollte er nur noch schlafen. Doch seine Frau ließ ihn nicht.
Das Telefon läutete unaufhörlich, und ihre schrille Stimme riss ihn immer wieder aus dem Schlummer. Und jetzt, zum Teufel, verlangte sie mit jener unduldsamen Stimme, die sie gewöhnlich für Domestiken reserviert hatte, dass er aufstand.
»Schleich dich, Frau, und lass mich zufrieden. Ich hab morgen einen schweren Tag. Kümmere dich um deine Sachen und gib verdammt noch mal endlich Ruhe!« Sein Gebrüll ließ sie zusammenzucken.
Doch die panische Angst, die sich in ihrem Gesicht spiegelte, machte ihn stutzig, sodass er sich aufsetzte. Mary mochte mancherlei Eigenschaften haben, aber kleinmütig und ängstlich kam einem nicht in den Sinn, wenn man an sie dachte. Heute Abend sah sie jedenfalls gottserbärmlich aus.
»Was ist denn los? Geht’s um eins der Kinder?«, fragte er beunruhigt. »Um Himmels willen, Frau, was ist denn passiert?«
Mary Barton fing zu weinen an, und das allein reichte, um ihren Mann aus seinem Bett hinüber in ihres zu holen.
»Ach, ich bin ein furchtbar ungezogenes Mädchen gewesen, aber ich wollte doch nur den netten Hendersons einen Gefallen tun …«
Mr. Justice Barton betrachtete seine Frau, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Dann schloss er sie seufzend in die Arme. »Na komm, Mary. Sag mir, wovon du da lamentierst, und ich versuch es für dich zu regeln.«
Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass sie ihm erklärte, worum es bei all dem Theater eigentlich ging. Dabei hatte er seinen kleinen blonden Freund im Kopf und konnte immer nur denken: Bitte, lieber Gott, mach, dass sie es nicht herausgefunden hat.
Bereits nach ihren ersten Worten entspannte er sich. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Und als seine Frau ihr Dilemma schilderte, spürte er sogar insgeheim einen Hauch Genugtuung. Wenn er ihr aus diesem Schlamassel half, würde sie vielleicht in Zukunft ein wenig nachsichtiger sein.
Mary Barton, als Frau ein mieses Stück, als Ehefrau eine Plage und Geißel der Sozialdienste, hatte einen Riesenmist verzapft.
Das würde er weidlich ausnutzen können. Und genau das hatte er auch vor.
Mary wandte das tränenüberströmte Gesicht ihrem Ehemann zu, und beide wussten haargenau, was der andere dachte.
Nichtsdestoweniger spielten sie das Spiel weiter. Weil sie das unter einer zivilisierten Ehe verstanden.
Cathy trat durch die Tür eines kleinen Cafés in Soho. Sie suchte sich einen Platz so nahe an der Heizung, wie es ging, bestellte Kaffee und Toast und setzte sich, um zu überlegen.
In ihren Händen pochte der Schmerz, und nachdem sie behutsam die Handschuhe ausgezogen hatte, betrachtete sie entsetzt ihre Finger. Die meisten Nägel waren abgefallen, und die Haut darunter war wund.
Als der Grieche hinter der schmuddeligen Theke das bemerkte, schüttelte er mitleidig den Kopf.
»Bleib da sitzen, Kleines. Ich bring dir deine Bestellung. Was ist denn passiert? Ein Unfall oder so? Ich würde sagen, die muss sich unbedingt ein Arzt ansehen. Bleib schön sitzen und wärm dich erstmal auf.«
Dankbar machte sie es sich bequem, und der Mann brachte ihr Kaffee und Toast.
»Lass mich mal sehen. Ich tu dir nicht weh.«
Sie war der einzige Gast in der Kaffeebar und deswegen nervös. Als er das spürte, lachte er, und sein großes rundes Gesicht strahlte freundlich.
»Keine Sorge. Ich fresse schon lange keine kleinen Mädchen mehr - ich knabbere höchstens an ihren Fingern.«
Cathy musste unwillkürlich schmunzeln, und er lächelte zurück. Dabei zeigte er unregelmäßige, aber schneeweiße Zähne. Er untersuchte ihre Hände und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann nahm er vorsichtig ihre Handgelenke und fragte: »Hat man dich etwa gefesselt, Mädchen?«
Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich war nur krank, sonst nichts.«
Der Mann musterte sie. Dann sagte er: »Ich glaube nicht, dass sie verbunden sein sollten, die Luft wird ihnen guttun. Aber du musst sie absolut sauber halten, verstehst du?«
Cathy nickte.
»Du stinkst wie ein altes Fischweib, Mädchen. Du brauchst ein Bad, was anderes zum Anziehen und eine Menge Ruhe, so wie ich das sehe. Trink deinen Kaffee und iss. Ich kümmere mich dann später um dich.«
Während er sprach, ging die Tür auf, und zwei Frauen kamen herein. Cathy sah gleich, dass es Prostituierte waren. Sie hatten dieselbe Art drauf wie Madge. Sie schenkten ihr nur einen flüchtigen Blick und setzten sich. Sie unterhielten sich angeregt und lachten fröhlich.
Cathy aß unbehelligt ihren Toast und trank den heißen Kaffee in kleinen Schlucken. Sie spürte, dass ihr Körper allmählich warm wurde, aber die Schmerzen in ihrer Hand waren inzwischen kaum mehr erträglich.
Der Grieche brachte zwei weiße Pillen und trug ihr auf, sie zu nehmen, denn sie würden die Schmerzen lindern. Sie schluckte sie, ohne zu fragen, um was für welche es sich handelte. Ihre Hände waren so wund, dass sie alles genommen hätte.
Er brachte ihr noch einen Kaffee, und sie lächelte ihn dankbar an. Sie zog eine Fünfpfundnote hervor und streckte sie ihm entgegen. Wie gepeinigt kniff er die Augen zu, denn er hatte durchaus die Seitenblicke der beiden Prostituierten am anderen Tische bemerkt.
»Was machst du denn da, Mädchen? Steck das Geld weg, um Himmels willen. Du bettelst ja geradezu darum, beklaut zu werden. Die beiden da drüben würden die eigene Mutter umbringen für ein paar Pfund.«
Als er ihr erschrecktes Gesicht sah, wurde er nachsichtig, setzte sich zu ihr und sage freundlich: »Hör mal - du bist in Soho und siehst aus wie eine Ausreißerin. Ich treffe ständig welche wie dich. Sie kommen her, weil sie glauben, dass sie hier ein gutes Leben finden, dass hier alles besser sein wird. Das geschieht aber höchst selten. Du bist doch noch ein kleines Mädchen. Um weiter an Geld zu kommen, bleibt dir nichts anderes übrig, als mit Männern zu schlafen. Verstehst du? Also, wovor auch immer du weggelaufen bist, schlimmer als hier kann es nicht gewesen sein. Trink deinen Kaffee - der geht aufs Haus - und geh so schnell wie möglich zurück, wo du herkommst. Glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.«
Cathy ließ ihn aussprechen und zuckte dann die Achseln. Allem Anschein nach hielt er diese Rede oft, denn die Wörter klangen fast wie einstudiert.
»Ich bleibe nur ein paar Tage, dann gehe ich zu Freunden«, sagte sie.
Der Cafébesitzer lächelte bekümmert. »Den Spruch kenn ich auch schon. Bleib einfach hier sitzen, wärm dich auf und fühl dich wohl. Ich hab die ganze Nacht geöffnet und nichts dagegen, wenn du bleibst. Ich bitte dich nur darum, darüber nachzudenken, was ich dir gesagt hab, hm?« Er lächelte. Cathy lächelte. »Ich habe eine Freundin, die du vielleicht kennenlernen solltest, eine Lady mit einer kleinen Privatpension. Wenn du möchtest, kann ich sie anrufen. Sie schuldet mir eh noch einen Gefallen.«
Cathy strahlte. »Haben Sie vielen Dank, Mr. …?«
Der Mann nickte erfreut. »Tony Gosa - man nennt mich Tony Gosa.«
»Danke, Mr. Gosa. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
Er stand schnell auf, als sich die Tür nochmals öffnete und weitere Prostituierte hereinkamen sowie ein hochgewachsener Afrikaner in einem weißen Anzug und mit einem ledernen Stetson.
Cathy trank ihren Kaffee. Die Schmerzen in ihren Händen ließen langsam nach, und sie konnte sich endlich ein wenig entspannen. Voller Interesse betrachtete sie die fremdartigen Menschen um sich herum. Die Frauen schwatzten und lachten. Wolken von süßlich schwerem Parfüm waberten zu ihr herüber und gemahnten sie daran, wie sie nach der langen Fahrt im Fischlaster riechen und natürlich auch aussehen musste. Wenn sie ein Bett für die Nacht finden und ein Bad nehmen könnte, wenn sie sich umzog und ausruhte, dann wäre sie gewiss wieder fit genug, um Eamonn aufzuspüren. Das war ihr vordringlichstes Ziel.
Ihr war klar, dass sie sich ein paar Tage vom East End fernhalten musste, wie Denise ihr eingeschärft hatte, aber das Geld in ihrer Tasche reichte auf alle Fälle für eine Unterkunft.
Tony Gosa, der unermüdlich freundliche Wirt, brachte ihr eine dritte Tasse Kaffee und winkte ab, als sie ihm Geld anbot. Er schien ihretwegen bekümmert in die Welt zu schauen und beunruhigt zu sein, und für sie war es ein Lichtblick, einem so mitfühlenden Menschen begegnet zu sein.
Allein und verängstigt, wie sie war, konnte sie nichts besser gebrauchen als einen Freund.
 
Duncan Goodings war siebenundfünfzig Jahre alt, ein rundlicher Mann mit stahlblauen Augen und meistens einem Lächeln auf den Lippen. Er war so dick, wie seine Schwester Mary Barton dünn war. Zudem war er weitaus resoluter als sie, und sogar die eigenen Eltern hatten eingeräumt, dass es diese Entschiedenheit war, die den Sohn zu einer gleichermaßen starken wie verstörenden Persönlichkeit machte.
Er war von deren Ehemann ins Haus seiner Schwester gerufen worden und erschien wie gewohnt makellos gekleidet in seinem Dreiteiler, so dass sich Mr. Justice Barton allmählich fragte, ob etwas Wahres an der verbreiteten Ansicht war, dass dieser Mann niemals schlief. Er wirkte so wach und gepflegt wie ein Mann, der morgens um neun Uhr auf dem Weg in sein Büro in der City ist.
Zum Glück für Mary war ihr Ehemann die vielleicht einzige Person, die Duncan Goodings einzuschüchtern vermochte. Ob es allein an der Körpergröße des Richters lag, an seinem beeindruckenden Auftreten oder seiner fast unheimlichen Fähigkeit, jede Situation auf Anhieb zu durchschauen, konnte Duncan nicht sagen. Er wusste nur, dass sein Schwager von ihm verlangte, der Schwester zu helfen. Und zwar in Rekordzeit. Und jetzt sollte er erfahren, wobei.
Er nahm den doppelten Scotch an, den sein pferdegesichtiges Biest von Schwester ihm reichte, und brachte trotz großer Anstrengung kein Lächeln zustande. Es kam ihm eher so vor, als würde sein Gesicht zur Maske erstarren. Mitten in der Nacht hierherbeordert zu werden und seine junge Frau allein im Bett zurücklassen zu müssen, empfand er nicht gerade als Vergnügen. Aber viel Vergnügen hatte er in diesem Haus ohnehin noch nie erlebt. Die Kinder seiner Schwester hatten dem imposanten Heim den Rücken gekehrt, kaum dass sie ihr Studium abgeschlossen hatten. Duncan konnte sie sehr gut verstehen. Alles war besser, als mit diesen beiden Menschen zusammenzuleben.
»Also, worum geht es?« Der selbstgefällige Gesichtsausdruck seines Schwagers sprach Bände, und Duncan hörte sich mit zunehmendem Unbehagen die konfusen Ausführungen seiner Schwester an. Er hatte gleich gewusst, dass er mit BiBi, seiner jungen, mageren, aber sehr vielseitigen eurasischen Ehefrau, hätte im Bett bleiben sollen.
Er hatte mit Herz und Seele das Ziel verfolgt, die Spitzenposition in der Sozialfürsorge zu erreichen, und jetzt erkannte er zweifelsfrei, dass man von ihm verlangen würde, etwas Illegales und zudem Unmoralisches zu tun. Bei all seinen Fehlern, und er wusste, wie zahlreich diese waren, hatte er doch niemals im Leben seine Vertrauensposition missbraucht. Im Gegenteil, er hatte sich immer seiner Integrität und seiner Fairness gegenüber den Untergebenen gerühmt.
Als er Marys mieser Geschichte über missbrauchte Macht lauschte, erkannte er eine Möglichkeit, diese Situation zu seinen eigenen Gunsten umzumünzen. Hier eröffnete sich die Chance, die er brauchte, um sich die Schwester vom Hals zu halten. Manchmal kam er nur höchst widerwillig ihrem Ansinnen nach, wie zum Beispiel zum Abendessen ohne seine geliebte BiBi zu erscheinen und zudem so zu tun, als würde sie überhaupt nicht existieren.
Ja, bei genauer Überlegung dämmerte ihm, dass die Situation sehr viel Gutes hatte, denn die beiden brauchten ihn weitaus mehr als er sie. Jetzt fiel ihm das Lächeln leicht, und er sagte: »Dieser Polizist, wie heißt er noch gleich?«
Seine Schwester wie ihr Mann merkten, dass sie in die Enge getrieben waren, und besaßen tatsächlich den Funken Anstand, leicht beschämt auszusehen.
Duncan Goodings hatte bereits den Entschluss gefasst, die Hauptschuldigen in diesem Drama, besonders Hodges, Henley und seine eigene Schwester, schnellstmöglich und ohne öffentliches Aufsehen loszuwerden. Alles in allem schien diese Nacht doch ihr Gutes zu haben.
Abermals lächelnd hob er das Glas, damit seine Schwester nachschenken konnte, und konstatierte mit großer Genugtuung, dass sie und ihr Gatte sich geradezu überschlugen, um ihre Gastfreundschaft zu beweisen.
 
Cathy war Tony Gosa sehr dankbar und so froh, bereits während ihrer ersten Stunden im West End einen Freund gefunden zu haben, dass sie ihm freudig zur Pension folgte. Er führte sie durch ein Labyrinth von Straßen, und obwohl sie immer müder wurde, blieb sie doch erwartungsfroh. Als er ein Taxi anhielt, stieg sie mit ihm ein, ohne zu zögern.
Um Viertel vor vier Uhr morgens trat sie durch die Eingangstür eines baufälligen Gebäudes in einer Nebenstraße des Fulham Broadway. Eine korpulente Frau empfing sie mit ausgebreiteten Armen und nahm ihr Bündel und Mantel ab.
Mama Gosa war gewaltig. Speckrollen wogten bei jeder ihrer Bewegungen, und ihr Vielfachkinn schwabbelte aufgeregt, als sie die kleine Gestalt, die vor ihr stand, überschwänglich willkommen hieß und tätschelte.
»Was für ein kleines, Ding, Tony. Zu essen braucht sie und viel Wärme, nicht wahr?«
Cathy aß eine große Schüssel Eintopf. Bevor sie recht wusste, was mit ihr geschah, war sie ausgezogen und saß in einer dampfend heißen Badewanne. Mama Gosa war überraschend behutsam, als sie Cathys Hände wusch und ihr beim Baden half.
Nachdem man ihr noch zwei weiße Pillen gegeben und ein frisches Nachthemd angezogen hatte, durfte sie es sich im kleinen Vorderzimmer vor einem prasselnden Feuer bequem machen. Mama Gosa trug ihr auf, sich zu entspannen und vielleicht ein wenig zu schlafen. Sie werde dann später wiederkommen.
Cathy lag auf dem schmuddeligen Sofa und dachte über ihre Lage nach. Sie schien Glück zu haben. Ihren Händen ging es viel besser, sie hatte gebadet und gegessen. Dank Madge und ihrem früheren Leben war Cathy klar, dass sie auf sich aufpassen musste, und sie wusste, wie gefährlich es war, ganz auf sich allein gestellt zu sein. Doch diesen beiden Ausländern vertraute sie.
Sie sah sich im Zimmer mit den verblichenen braunen Tapeten und den schweren Eichenmöbeln um. An den Wänden hingen Ikonen und Bilder eines finsteren Mannes mit dunklen Augen und einem großen schwarzen Hut. Sie nahm an, dass da Religiöses im Spiel war, denn der Mann machte wie alle diese Kerle ein besonders frommes Gesicht. In ihrem kurzen Leben hatten die meisten Männer, die so aussahen, versucht, sie ins Bett zu kriegen.
Zufrieden damit, die Lage richtig einzuschätzen, lag Cathy da und genoss das Schicksalsgeschenk, frei zu sein und es warm zu haben.
Durch die Pillen fühlte sie sich leicht benommen, und langsam fielen ihr die Augen zu. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt Eamonn und dem Strahlen auf seinem Gesicht, wenn er feststellte, dass sie tatsächlich wieder zu Hause war. Dass sie seinetwegen zurückgekommen war.
Bis sie es wagte, nach ihm zu suchen, würde sie genießen, was die Gosas ihr boten. Es kam ihr nicht in den Sinn, sich zu fragen, wo ihre Habseligkeiten und - wichtiger noch - ihr Geld geblieben sein mochten.
Die Aufsteigerin
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