Kapitel eins
JANUAR 1960
»Ich will da nicht rein. Er geht doch gleich auf
uns los.«
Cathy seufzte tief und strich dem Jungen eine
Strähne aus der Stirn. »Und wo sollen wir sonst hin,
Schlauberger?«
»Können wir nicht nach nebenan, Cath?« Eamonns
Stimme klang weinerlich, und sie schüttelte langsam den Kopf.
Mrs. Sullivan wohnte direkt neben ihnen im zweiten
Stock. Sie war eine grundgütige Seele und bot den Kindern stets
Zuflucht, wenn zwischen deren Eltern Streit entbrannt war - was
sehr häufig geschah. Eamonn Docherty Seniors erboste Stimme drang
durch die Eingangstür, vor der sie standen, und immer wieder
durchbrach Madge mit ihrem Kreischen seine wütende Tirade.
»Wir dürfen sie nicht verarschen. Wenn wir sie
nämlich mal wirklich brauchen, schickt sie uns zum Teufel. Also,
ich sag dir …«
Die Tür wurde aufgerissen, und Madge Connor stand
in ihrer ganzen imponierenden Stattlichkeit vor ihnen. Ihr
100-Kilo-Leib war in einen gesteppten rosa Hausmantel gehüllt, das
Make-up in ihrem breiten Gesicht verschmiert. Nur die Zigarette
zwischen ihren geschwollenen Lippen bewegte sich, tanzte auf und
nieder. Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie die Kinder an und
fauchte schließlich mit einer Stimme, die Glas hätte schneiden
können: »Kommt ihr tatsächlich noch mal nach Hause, ihr faules
Pack! Rein mit dir, Eamonn, und bring deinen Alten zur Ruhe! Der
ist mal wieder auf der Zinne!«
Cathy hörte, dass Eamonn Senior irgendwas von
Irland brüllte,
und nachdem Eamonn Junior hineingegangen war, schloss sie ganz
fest die Augen.
Sie hatte sich immer gefragt, wie es wohl sein
mochte, wenn man einen Vater hatte, aber nach zwei Jahren
Zusammenleben mit Eamonn Senior war sie froh, nur mit ihrer Mutter
fertigwerden zu müssen. Doch die beiden Erwachsenen bescherten
Cathy und Eamonn einen nie endenden Alptraum. Entweder küssten oder
prügelten sie sich. Eine entspannte, glückliche Zeit dazwischen gab
es nicht. Beim Betreten der Wohnung schlug ihr der gewohnte Mief
entgegen: Bratenfett und Katzenpisse, vermischt mit dem
allgegenwärtigen Geruch aus offenen Bierflaschen. Mit diesem Geruch
würde sie nie zurechtkommen. Er brannte ihr in der Nase und im
Rachen, er schlug ihr jedes Mal auf den Magen und verdarb ihr die
Laune. Der Gestank der Armut.
Als sie den winzigen Vorraum betrat, löste der
Liebhaber ihrer Mutter seinen Gürtel. Sein massiger Körper, an dem
kein Gramm überflüssiges Fett war, wirkte furchteinflößend. Alles
an Eamonn war gewaltig, von den Füßen, Schuhgröße 46, bis zu den
riesigen blauen Augen, und die animalische Kraft und Schläue, die
er ausstrahlte, ließ Männer geringerer Größe schon verzagen, bevor
er noch ein Wort an sie gerichtet hatte.
»Ich hack euch die verdammten Beine ab, ihr
Dreckspatzen. Ich schreib mir eure Namen in mein Buch rein und
streich sie gleich durch. Wie gefällt euch das?«
Cathy seufzte erleichtert. Die blauen Augen
zwinkerten ihr jetzt zu, sein Wutanfall schien vorüber, und weil er
genug getrunken hatte, war sein ungezügelter Zorn beschwichtigt und
einer grenzenlosen Zufriedenheit mit sich und der Welt gewichen. Er
hatte seinen Lieblingswitz gemacht, einen alten IRA-Spruch aus den
Tagen der Freiheitskämpfer. Anscheinend schreiben sie Namen in ihr
Notizbuch, und wenn man sie durchstrich, wurden die Betreffenden
bei Tagesanbruch erschossen.
Cathy griente, als sie den großen Mann brüllen
hörte. »Bei Tagesanbruch erschossen, beide. Wie gefällt euch das,
äh?«
Er senkte sein riesiges Gesicht ihnen entgegen, und
sein Herz schien bersten zu wollen vor lauter Liebe zu den beiden
Kindern, besonders zu dem Sohn, der seinen Namen trug, seinem
einzigen Kind.
»Chips hättet ihr gerne?« Er lächelte. Ein breites
Grinsen, das eine Menge Zähne zeigte, sein Gesicht an all den
richtigen Stellen mit Lachfalten überzog und jedem augenfällig
machte, was die Frauen an ihm fanden. Denn Frauen liebten Eamonn
Docherty - und zwar schon immer.
Zumindest eine bestimmte Sorte Frauen.
Madge Connor, in deren Gesicht die Verblüffung
stand, schüttelte ungläubig den Kopf. »Man weiß doch nie, was der
Arsch vorhat. Nie weiß man das nicht.« Sie sprach mit breitem
Cockney-Akzent, eine Spur Stolz im rauen Ton. Dieser Raufbold,
dieser Säufer und Hurenbock, dieser mächtig große Kerl, mit dem sie
in wilder Ehe lebte, blieb ihr ein Rätsel. Und gerade das machte
ihn so anziehend, wie sie sich in nüchternen Momenten
eingestand.
»Ich muss mich langsam fertig machen und zur
Arbeit. Cathy, tu mir einen Gefallen, Kleine. Bügel mir das rote
Kleid.«
Cathy ging in die Kochnische, stöpselte das
Bügeleisen ein und breitete das sauberste Handtuch, das sie finden
konnte, auf dem Tisch aus. Sie handelte ganz automatisch. In diesem
Haushalt widersetzte man sich keinem Befehl, auch nicht, wenn er
sich anhörte wie eine Bitte. Wenn man die Nacht überstehen wollte,
sprang man unverzüglich, wenn es hieß »Spring!«. So einfach war
das.
Zwanzig Minuten später, nach einer Katzenwäsche und
nachdem sie ihr Make-up vom Vortag mit einer dicken Schicht
Schminke übertüncht hatte, war Madge in ihrem roten Kleid, das aus
allen Nähten zu platzen drohte, fertig zum Arbeitsantritt. Sie
kämmte sich das Haar noch ein letztes Mal nach hinten,
sah ihre Tochter an und sagte sanft: »Wie seh ich aus,
Liebes?«
Cathy lächelte das Zahnlückenlächeln einer weisen
Siebenjährigen und sagte ehrlich heraus: »Du siehst hübsch aus,
Mum. Richtig schön.«
Das war die gewünschte Antwort.
»Hol meine Tasche aus dem Schlafzimmer.«
Cathy trollte sich und grinste Eamonn zu, der jetzt
auf dem Schoß seines Vaters saß und in einer großen Handvoll
Kleingeld nach Münzen für Chips kramte.
Sie sahen einander in die Augen, erleichtert und
ergriffen von kindlicher Freude über diese unerwartete Wendung.
Normalerweise war der Mittwoch ein unberechenbarer Tag für die
Kinder. Zur Mitte der Woche pleite und streitlustig, waren beide
Elternteile im Allgemeinen übelgelaunt, wenn die Kinder aus der
Schule kamen. Heute jedoch waren sie aus unerfindlichen Gründen gut
gelaunt. Und wenn die Erwachsenen gute Laune hatten, waren die
Kinder schier aus dem Häuschen.
Wann war je an einem Mittwoch die Rede von Chips
gewesen?
Cathy kam mit der perlenbesetzten Tasche ihrer
Mutter in die Küche zurückgehüpft. »Danke. Und du hast auch alles
schön aufgeräumt, wenn ich heute Abend wiederkomme, hm?«
Cathy nickte feierlich.
Madge presste die Wange an die ihrer Tochter und
lachte leise. Ihr Atem roch säuerlich nach billigem Scotch und
Zwiebeln und traf Cathys empfindliche Nase wie der
Verwesungsgestank eines schon seit Tagen toten Hundes.
»Ich bring dir auch ein paar Chips mit, was sagst
du?«
Cathy nickte, darauf bedacht, nur nicht den Mund zu
öffnen und den fiesen Geruch in ihren Körper zu lassen.
Es klopfte an der Tür, und sie nutzte das als
Vorwand, um zu entkommen. Es würde Betty sein, die Freundin ihrer
Mutter. Die beiden arbeiteten gemeinsam in einer kleinen Pinte in
Custom
House, wo sie ausländischen Seeleuten Drinks servierten und auch
sonst noch gewährten, worauf die Seeleute aus waren. In Gegenwart
von Eamonn Senior wurde darüber jedoch nie gesprochen, es sei denn,
er selbst brachte das Thema auf. Obwohl er doch trank und aß, was
das so verdiente Geld auf den Tisch brachte, und die beiden Frauen
manchmal sogar zur Arbeit fuhr, tat er so, als wisse er von nichts.
Bis er dann mal wieder, zweimal im Monat oder so, beschloss, Madge
windelweich zu prügeln, um seinen Standpunkt klarzumachen. Und der
war, dass er als Mann an dem Arrangement keinen Gefallen
fand.
Betty stolzierte in den kleinen Flur, eine
wandelnde Max-Factor-Reklame im Mantel aus Biberlamm.
»Hallo, kesse Cathy!« Die dröhnende Stimme passte
nicht recht zur schlanken Gestalt. Betty Jones war so dünn, dass es
bereits an Auszehrung grenzte, besaß aber die Konstitution eines
Ackergauls, wie sie jedem erzählte, der es hören wollte. Sie
drückte Cathy ein Dreipennystück in die Hand und zwinkerte ihr
zu.
Cathy betete Betty an. Eamonn Junior betete Betty
an. Eamonn Senior hasste sie, und das beruhte auf
Gegenseitigkeit.
Madge eilte in den Flur und streifte dabei ihren
Kaninchenfellmantel über. Der wies zwar schon hier und da kahle
Stellen auf, war aber bei dem Schnee, der jetzt lag, auf alle Fälle
wärmer als die Leinenjacke, die sie sonst trug.
»Mädchen, der Mantel löst sich doch gleich in
Wohlgefallen auf! Dein Kerl müsste mal einen neuen spendieren. Der
rührt doch sonst keinen verfluchten Finger. Da soll er dich
wenigstens einkleiden.«
Eamonn Junior kniff ängstlich die Augen zu. Er
spürte, wie sein Vater sich bei Bettys Worten verkrampfte. Ihre
Stimme wirkte auf seinen Vater wie ein rotes Tuch auf einen Stier,
und als der Mann aufstand und ihn ohne alle Umschweife zu Boden
fallen ließ, rollte sich Eamonn schnellstens aus dem Weg.
Betty und Madge waren auf dem Weg zur Wohnungstür,
als ihnen die polternde Stimme Einhalt gebot.
»Was hab ich dir gesagt von wegen hier bei mir zu
Hause aufzutauchen?«
Betty zog ihren Mantel wie zur Abwehr um sich.
»Redest du mit mir?« Ihre Stimme klang herausfordernd und
streitlustig.
»Gibt es noch ein anderes Stück Scheiße, das ich
meinen könnte?« Eamonn Senior sprach beherrscht und eiskalt. Er
stand inzwischen im Türrahmen des Vorderzimmers.
»Du machst mir keine Angst, Kumpel, hast du noch
nie gemacht. Wenn du Manns genug wärst, würdest du für die Kinder
hier sorgen, und deine Alte müsste nicht ihren Arsch in metertiefem
Schnee verhökern! Du imponierst mir nicht, Mister Docherty.
Hier gibt es nur ein Stück Scheiße. und das hab ich direkt vor der
Nase!«
Das Gesicht des Mannes war inzwischen vor Wut
dunkelrot angelaufen, und als er einen Schritt vorwärts machte,
stemmte Madge sich ihm entgegen. Vergeblich.
»Lass gut sein, Eamonn. Du kennst doch Betty, ist
doch nur heiße Luft. Sie hat was getrunken und …«
Er schleuderte Madge gegen die Wand, so dass sie
ihr Gleichgewicht verlor. Cathy stellte sich vor Betty, als der
große Kerl auf sie zu trat. Betty grinste aufreizend und stichelte
weiter.
»Na, komm schon, schlag mich doch. Frauen zu
schlagen, darauf verstehst du dich doch, oder? An Männer traust du
dich nicht ran. So groß du bist, Männer schlägst du nicht,
oder?«
Cathy schob Betty zur offenen Eingangstür. Kalte
Luft strömte herein, und im kleinen Flur herrschte
Eiseskälte.
»Geh raus, Betty! Mach keinen Ärger mehr.«
Sie drehte sich um und warf sich gegen die Beine
des großen Mannes. Der hob sie mit einem Arm in die Höhe und
streckte Betty einen bebenden Finger entgegen.
»Warte nur, eines schönen Tages, Lady, dreh ich dir
den Hals um.«
Betty lachte laut und höhnisch. Sie verstand sich
perfekt darauf,
Eamonn Docherty zur Weißglut zu bringen. »Verpiss dich bloß, du
irischer Loddel!«
Unsanft stieß Madge ihre Freundin zur Tür hinaus.
»Schluss jetzt damit, Betty. Du weißt doch, ich muss das
ausbaden.«
»Komm du mir nach Hause, Lady.«
Madge sah dem großen Mann ins Gesicht und
nickte.
Der junge Eamonn zog seinen Vater zurück ins
Vorderzimmer, und im schmalen Flur legte sich die aggressive
Stimmung.
Madge zog die Eingangstür hinter sich zu. »Verdammt
noch mal, vielen Dank auch, Betty. Das wird was setzen. Bist du
zufrieden? Da hast du mir ‘ne anständige Tracht Prügel
verschafft.«
Bekümmert schüttelte Betty den Kopf, ihr gelb
gefärbter Haarschopf steif wie ein Brett vom angetrockneten
Zuckerwasser. »Tut mir ja leid, Madge, aber du weißt ja, was ich
von ihm halte - nichts als ein Loddel ist er.«
Madge lächelte schwach. »Das brauchst du mir nicht
zu erzählen, Betty, aber er ist mein Loddel!«
Grinsend stöckelten die beiden Frauen in ihren für
die Witterungsverhältnisse völlig ungeeigneten, aber für ihre
Arbeit obligatorischen Stilettos über die Fliesen in Richtung
Treppe. Kichernd wie Schulmädchen stiegen sie die Treppen hinunter,
zwei alternde Dirnen, die glaubten, dass sie immer noch was
hermachten.
Cathy und Eamonn lagen mit verschränkten Armen im
Dunkeln beieinander. Mit seinen zehn Jahren war er viel größer als
sie, doch sie hatte ihm etwas voraus: Cathy war erst sieben, aber
die geborene Diplomatin.
Als die Wohnung aufgeräumt war, hatten sie alle
gemeinsam Chips und Zervelatwurst gegessen und dazu heißen süßen
Tee aus Bechern getrunken. Dann hatte Cathy für sie beide als
Betthupferl Milchstullen gemacht.
Eamonn war um halb neun in den Pub gegangen, und
danach hatten die beiden Kinder erstmal ihre Ruhe. Das
allgegenwärtige
Gefühl drohender Gefahr war mit ihm verschwunden. Jetzt hatte
seine Rückkehr sie geweckt, und im schummrigen Licht der
Straßenlaterne warteten sie mit angehaltenem Atem darauf, dass er
einschlief. Sie fanden nachts erst dann Ruhe, wenn sie ihn
schnarchen hörten. Bis er das tat, konnte alles Mögliche geschehen,
und häufig tat es das auch.
Sie hörten, wie eine Tasse zerschmettert wurde, und
mit einem Stoßseufzer glitt Cathy aus dem Bett.
»Geh nicht, Cathy, lass ihn bloß.«
Sie zog einen schmutzigen Morgenmantel über. Im
Zimmer war es eiskalt, und ihr Atem gefror zu kleinen Wolken, als
sie sprach. »Du bleibst hier und hältst dich schön warm, in
Ordnung? Ich mach ihm sein Bovril und bring ihn ins Bett. Sonst
kommt keiner von uns zum Schlafen.«
Der große Mann stand in der kleinen Küche. Er hatte
nur Unterhemd und Unterhosen an und kratzte sich den Bauch. Er
hatte große Mühe, auf die Porzellanscherben zu seinen Füßen zu
achten, und sein alkoholisierter Körper reagierte
kälteresistent.
Cathy hob die zerbrochene Tasse auf. Schnell und
geschickt warf sie die Scherben in den Mülleimer, nahm den Mann bei
der Hand und führte ihn ins Vorderzimmer. Er ließ sich schwerfällig
auf das ramponierte Sofa sacken.
»Bist ein gutes Mädchen. Und wo steckt mein Junge?«
Seine missgelaunte Frage bedurfte keiner Antwort, und Cathy gab ihm
auch keine. Stattdessen schlüpfte sie in die Küche und setzte
Wasser für seine allabendliche Fleischbrühe auf. Egal wie betrunken
er war, Eamonn Docherty brauchte sein Bovril, andernfalls konnte er
nicht schlafen. Cathy wusste aus Erfahrung, dass es klüger war, ihm
die Brühe zu machen, zuzuschauen, wie er sie austrank, und ihn
anschließend ins Bett zu bringen, auch wenn sie ihre müden Augen
kaum mehr aufhalten konnte und es sich anfühlte, als hätte man
heißen Sand hineingestreut.
Als sie ihm seinen Trunk brachte, nahm er ihn
dankbar an.
»Du bist ein gutes kleines Mädchen, stimmt’s? Mein Püppchen! Komm
zu mir auf den Schoß, Kind.«
Cathy schüttelte abwehrend den Kopf. »Sie können
nicht beides halten, mich und den Becher. Trinken Sie Ihr Bovril,
Mister Docherty.«
Eamonn blickte unter schweren Lidern hervor und
musterte sie. Cathy war so winzig, wie sie da auf dem Hocker saß
und die mageren Beinchen baumeln ließ. Aber aus ihrem Gesicht
sprach die Erfahrung einer erwachsenen Frau.
»Ich würde dir nie wehtun, Kind, das musst du mir
glauben.« Er hörte sich nüchtern an, und Cathy bereute ihre
Antwort. Mochte er noch so viele Fehler haben, in jener Hinsicht
fühlte sie sich bei ihm sicher.
»Wir haben doch oft darüber geredet, Mr. Docherty.
Ich mag eben bei keinem auf dem Schoß sitzen. Mochte ich noch
nie.«
»Ich bin nicht wie die anderen Männer, mit denen
sich deine Mutter eingelassen hat. Ich weiß, wie man ein Kind
behandelt. Und du bist mir wie ein eigenes Kind.«
Er fragte sich, warum er immer das Gefühl hatte,
sich bei diesem Mädchen rechtfertigen zu müssen. Sie benahm sich
eben wie eine Frau, wie eine erfahrene Frau. Er konnte sich
ausmalen, was sie hatte durchmachen müssen, bevor er aufgetaucht
war.
Er schloss die Augen bei der Vorstellung. Er würde
niemals ein Kind auf diese Weise begehren, aber er wusste wohl,
dass Cathy Connor ihm vielleicht doch so was zutraute, und das
verletzte seinen Stolz. Schlimmer noch: Die Gewissheit, dass sie
bereits so viel von diesen Dingen wusste, und das mit erst sieben
Jahren, machte ihn traurig.
Eins konnte er sich zugutehalten. Bei allem, was er
war, bei allem, was er getan hatte, derartiges war für ihn niemals
infrage gekommen. Niemals. Er wollte, dass Cathy es wusste und ihm
vertraute. Und sie sprachen regelmäßig darüber.
»Sie sollten zu Bett gehen, Mr. Docherty. Morgen
früh müssen Sie doch zur Arbeit.«
Er nickte, fuhr sich durch sein dichtes schwarzes
Haar und lachte. »Du wirst niemals so enden wie deine Mutter, dafür
weißt du zu verdammt gut, was du willst. Geh schon ins Bett, Kind.
Ich komm zurecht. Ich nehm einen kurzen Schluck und hau mich
hin.«
Cathy nickte, sagte leise Gute Nacht und huschte
wieder ins Schlafzimmer. Der große Mantel, der das Bett bedeckte,
war zu Boden gerutscht. Sie zerrte ihn hoch und stopfte zur
Sicherheit einen Ärmel unter die Matratze.
Eamonn schlief schon, und sie kuschelte sich an
ihn. Seine Wärme war wie Balsam.
Madge fror erbärmlich. Sie spürte, dass sich die
Hände des Mannes unter ihr Mieder vortasteten, und fluchte unhörbar
vor sich hin. Er war ein kleiner Chinese mit schlechten Zähnen und
dem aufdringlichen Geruch von Chow-Mein im Haar. Er holte ihre
Hängebrüste hervor und quetschte sie so, dass es schmerzte und sie
ihn von sich stieß.
»Reiß dich zusammen, Kleiner. Ich bin nicht in
Stimmung. Und da ich doppelt so viel wiege wie du, kann ich dir nur
raten, nicht zu grob zu werden.«
Der Mann grinste im Dunkeln und stieß sie abermals
gegen die Mauer, wenn auch etwas sanfter. Sie spürte seine Lippen
auf ihrer Brustwarze und lächelte. Die Nippel waren in der Kälte
zentimeterlang und starr aufgerichtet. Als sie ihr Kleid über die
Hüften raffte, ließ der eiskalte Wind sie am ganzen Körper zittern.
Der Chinese nahm an, dass er es jetzt richtig machte, und saugte
wie ein Wilder an ihrer Brust. Madge spürte das Verlangen, ihm mit
bloßen Händen den Schädel einzuschlagen. Stattdessen stellte sie
ein Bein auf eine Holzkiste und forderte ihn auf, in sie
einzudringen.
»Mach schon, Junge, mir ist scheißkalt.«
Er war sehr kräftig für seine Größe, und als er sie
rhythmisch
zu stoßen begann, machte sie sich langsam an den entscheidenden
Teil ihrer Nachtarbeit. Mit anfeuernden Worten zog sie ihn in die
Wärme ihres Mantels. Sie ließ die Hände über seinen Körper gleiten
und entwendete ihm behutsam und gekonnt die Brieftasche. Er hatte
ihr bereits einen nagelneuen 10-Shilling-Schein gegeben; jetzt war
die fette Beute dran. Als wolle sie ihn streicheln, tastete sie ihn
nach einem Messer ab. Die meisten Seeleute trugen Messer im
Stiefel, und Vorsicht war geboten. Ihr eigenes Messer war für den
Fall, dass sie es brauchte, in einem schmalen Gürtel hinten unter
ihrem Kleid versteckt. Der Chinese erschauerte, und sie spürte den
feuchten Schleim zwischen den Beinen. Wie es ihre Gewohnheit war,
hielt sie auch diesen Freier ein paar Sekunden lang fest, bis er
wieder fest auf den Beinen stand. Er atmete schwer und keuchend und
sprach Kantonesisch. Sie lächelte ihn freundlich an.
»Alles gut, Süßer?«
Er schien ihren Tonfall zu verstehen und erwiderte
das Lächeln. Erst jetzt stellte Madge fest, dass er noch sehr jung
war, höchstens neunzehn. Wie kam es nur, dass sie sich die Männer
erst genauer ansah, wenn die Nummer vorüber war?
Sie zuckte die Achseln, raffte den Mantel fest um
sich und strebte zur Rückseite des Gebäudes und in die Wärme der
Bar.
»Mach uns ‘n Grog, Pete«, rief sie auf dem Weg zur
Damentoilette dem Barmann zu. Drinnen hob sie ein Bein auf den
schmutzigen Sitz und wischte sich sauber. Dann spülte sie sich die
Hände im eiskalten Leitungswasser ab und schüttelte sie trocken.
Die letzten Tropfen strich sie an ihrem Kleid ab und zog dann die
Geldbörse aus der Tasche. Es war ein billiges Plastikteil mit der
Aufschrift »Buenos Aires«. Ein Souvenir, das ihr Freier von einer
Reise mitgebracht hatte. Madge schmunzelte, weil auf der Rückseite
»Made in China« stand.
»Lange Reise für eine Geldbörse, wenn sie aus der
eigenen Heimat stammt!« In dem kleinen Toilettenraum hallte ihre
Stimme wider.
In der Börse befanden sich drei Fünfpfundscheine
und das Foto einer älteren Frau, wahrscheinlich seiner Großmutter.
Jetzt musste Madge grinsen. Sie ließ die Börse achtlos in ihre
Handtasche fallen und ging in die warme Bar zurück.
Nachdem sie sich durch die Menge gedrängt hatte,
nahm sie ihren Grog, und als sie Betty mit zwei Seeleuten an einem
Tisch sitzen sah, gesellte sie sich zu ihnen.
Pete’s Bar war eine ehemalige Lagerhalle, die er
von einem Schläger aus der Gegend gemietet hatte. Der hieß Jimmy
Capper und sorgte für den nötigen »Schutz« und dafür, dass der
Laden von Razzien verschont blieb. Er war fünfundzwanzig, clever
und gewalttätig. Perfekte Referenzen für Custom House und der
perfekte Hintermann für Peter Lawson, den Barbesitzer. Peter
ermunterte seine Mädels anzuschaffen, und auf seine derbe Art
sorgte er auch für sie. Er lieh ihnen Geld und schlichtete
Streitigkeiten. Alle Mädels respektierten ihn, nur wenige mochten
ihn. Sie hatten eine »Abgabe« zu entrichten, um in der Bar arbeiten
zu dürfen, ärgerten sich aber darüber und führten ins Feld, dass
sie ihm schließlich die Gäste brachten. Pete konterte damit, dass
sie doch nichts anderes im Sinn hatten, als die Seeleute
auszurauben, und wenn sie seinen Schutz suchten, müssten sie eben
dafür löhnen. Wie sie es drehten und wendeten, einig wurden sie
sich nicht.
Heute Abend waren Petes Gäste wie gewöhnlich
chinesische, russische und europäische Seeleute, die sich
hauptsächlich dem Glücksspiel widmeten. Pete streckte ihre Drinks,
knöpfte ihnen zu viel ab und grinste über ihre Witze. Er hielt
unter der Theke eine abgesägte Schrotflinte bereit, um sie in Angst
zu versetzen, wenn sie Raufereien anzettelten. In der Damentoilette
hatte er für den Fall, dass sich die Huren stritten, einen
Baseballschläger deponiert. Ihm war Streit unter den Männern jedoch
lieber, denn zwei Frauen auseinanderzubringen, die um sich traten,
kreischten und kratzten, war seiner Erfahrung nach weitaus
gefährlicher. Besonders die Weiber vom Hafenviertel. Sie waren
die abgebrühtesten und fiesesten Weibsstücke, die ihm je
untergekommen waren. Aber er gestand ihnen zu, dass sie so sein
mussten.
In gewisser Weise bewunderte er sie wegen ihrer
Härte. Sie verbrachten ihr Leben auf der Syphstation, in seiner Bar
oder draußen an der Mauer. Jede Frau, die das jahrelang durchstand,
verdiente Achtung. Er ließ die Theke nicht aus den Augen und blieb
in ständigem Blickkontakt mit seinen beiden Türstehern. Alles
Mögliche konnte in Pete’s Bar geschehen, aber er sackte
durchschnittlich siebenhundert Pfund die Woche ein. Das Geld hielt
ihn hier bei der Stange und bot seiner Frau und den Kindern ein
Leben im Einfamilienhaus in Maida Vale.
Madge war bei ihrem zweiten Grog, als der
chinesische Seemann in die Bar zurückkam. Sie sah ihn erst, als er
direkt vor sie trat. Einen Moment lang erkannte sie ihn
nicht.
»Geld, Lady. Will Geld.«
Herausfordernd stand er da, und in der Stille
drehten sich alle neugierig zu ihm um. Sein weißer Anzug,
zerknautscht und fleckig, glänzte hell im grellen Licht.
»Geld, Lady. Will Geld.«
Madge grinste. »Verpiss dich! Ich weiß gar nicht,
wovon du redest.«
Sie widmete sich wieder ihrem Grog. Argwöhnisch
betrachtete Betty den kleinen Mann, der vor ihrer Freundin stand.
Viele Menschen, besonders Frauen, waren schon für weit weniger als
eine Geldbörse am Hafen in Custom House niedergestochen
worden.
Die Musikbox sprang an, und untermalt von Del
Shannons schmetterndem Gesang verlangte der Chinese noch einmal
höflich sein Geld. Die beiden Seeleute, die Betty aufgetan hatte,
waren Russen, bärige Mannsbilder, die ausgezeichnet Englisch
sprachen.
»Do you have his money?« Die kehlige Stimme des
russischen Seemanns klang barsch. Seeleute waren überall auf der
Welt
gleich. Wenn diese Frau die Geldbörse des Chinesen gestohlen
hatte, war es gar nicht so abwegig, dass sie bereits auch seine
abgegriffen hatte. Instinktiv schob er die Hand in die Tasche und
stellte erleichtert fest, dass die Ausbeulung zu ertasten
war.
Madge steckte sich eine Zigarette an und schüttelte
geringschätzig den Kopf. »Ich hab sein beschissenes Geld nicht. Der
muss doch bekloppt sein.« Sie lehnte sich vor und sagte: »Hör mal,
du hast doch deinen Spaß gehabt, oder? Dein Geld hast du
wahrscheinlich verloren oder so.« Sie lächelte dem Russen zu, der
neben ihr saß, und zog die Schultern hoch, als wolle sie sagen:
»Auf die Tour versuchen die es doch alle.« Diesen Russen wollte sie
nicht verlieren. Wenn sie heute Abend noch einen Freier klarmachte,
könnte sie sich morgen freinehmen.
Zwei Frauen steuerten auf den Tisch zu und blieben
in der Nähe stehen. Sie nippten an ihren Drinks. Wie die Seeleute
halten auch die Huren zusammen. Eine der beiden Frauen, eine
kräftig gebaute Afrikanerin namens Dobie, lächelte dem kleinen
Chinesen zu. Ihr Goldzahn schimmerte im Licht, und die Stammesmale
ließen ihr Gesicht wie eine Totenmaske erscheinen.
»Los doch, verpiss dich, Bürschchen!« Bettys Stimme
hatte etwas Endgültiges, das sogar der Chinese verstand.
Bevor jemand mitbekam, was geschah, hatte er Madge
sein Messer in den Oberarm gestoßen. Die zehn Zentimeter lange
Klinge schien sekundenlang unschlüssig am Knochen zu verharren,
bevor sie auf den Tisch fiel. Madge blickte entgeistert auf die
tiefe Stichwunde, aus der das Blut quoll. Ein Hautlappen schien für
einen Moment lose zu flattern, bevor er sich wieder über der Wunde
schloss.
Von Dobies Handtasche getroffen, segelte der
Chinese rückwärts und landete unverhofft auf dem Schoß eines
schwedischen Seemanns, der Karten spielte und den Streit nicht
beachtet hatte.
In Sekundenschnelle brach der Tumult los, und im
ganzen
Raum prügelten sich die Seeleute. Die chinesischen Gäste standen
ihrem Landsmann geschlossen zur Seite.
Pete Lawson holte seine abgesägte Schrotflinte
hervor, und die Frauen suchten allesamt das Weite. Sie eilten zur
Commercial Road, wo ein Kaffeehaus die ganze Nacht geöffnet hatte.
Auf dem Weg öffnete die Afrikanerin ihre Tasche und holte einen
Backstein hervor, den sie mit unbändiger Kraft
fortschleuderte.
Auf der hell erleuchteten Commercial Road
verlangsamten sie die Schritte. Ein paar Schneeflocken tanzten im
Licht der Straßenlaternen, und die Frauen hüllten sich fester in
ihre Mäntel.
»Arschkalt, was, Mädels?« Betty sprach laut, bekam
aber keine Antwort. Sie stürzten in Lennys Nachtcafé, brachten
einen Schwall Kälte mit und eine Duftwolke billigen Parfüms. Sie
setzten sich an einen großen Tisch nach hinten, sahen einander an
und brachen in lautes, nervöses Gelächter aus.
»Frühstück geht auf dich, Madge Connor. Du hast die
Schuld an dem Schlamassel.«
Madge grinste und streifte ihren Mantel ab.
Allseits wurde ihre Wunde inspiziert.
»Wirst es überleben. Ein paar Stiche, und du bist
wieder wie neu. Bevor wir nach Hause gehen, machen wir noch’n
kleinen Abstecher ins Old London.«
Madge steckte sich eine Zigarette an und bekam
einen Hustenanfall. »Diese verschissenen Schlitzaugen! Kein Wunder,
dass sie die Bombe auf den Kopf gekriegt haben.«
»Das waren die Japse, dummes Huhn. Hier, habt ihr
das von Hedy Lamarr heute in der Zeitung gesehen? Ist in Hollywood
beim Ladenklau erwischt worden! Bei all dem Geld macht die trotzdem
noch lange Finger!«
Ungefragt schenkte Lenny ihnen Tee mit einem Schuss
Whisky aus. Er hatte nichts gegen die Huren, denn sie sorgten für
Umsatz. Die Frauen schwatzten über dies und jenes. So klar ihnen
war, dass sie nur mit Glück davongekommen waren, so wenig mochten
sie es sich eingestehen. Immer wieder wurden
Frauen am Hafen tot aufgefunden. Sie wussten, wie gefährlich sie
lebten, benutzt und missbraucht von Seeleuten, die innerhalb von
Tagen, manchmal sogar Stunden, kamen und gingen. Wenn eine von
ihnen ermordet wurde, zeigte die Polizei kein besonderes Interesse,
sondern reagierte nach dem Motto: Eine weniger zu drangsalieren,
eine weniger zu kontrollieren. Ihr Alter, ihre Lebensumstände und
ihr Aussehen verdammten diese Frauen dazu, in Custom House auf der
Straße ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sogar die übelsten
Kaschemmen in Soho würden sie an der Tür abweisen. Tiefer sinken
konnten sie nicht mehr, und das wussten sie nur allzu gut.
Und doch besaßen sie, wenn sie zusammenhielten,
ihre ganz eigene krude Würde.
Der junge Eamonn öffnete die Augen und gähnte
herzhaft. Mit zehn Jahren wusste er sehr wohl, dass er langsam zu
alt war, um neben seiner Stiefschwester zu schlafen. Aber ihre
Wärme gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Er lauschte auf ihr
leises Schnarchen. Als ihm dann einfiel, dass sie des Nachts noch
lange auf gewesen war, meldete sich das schlechte Gewissen. Er
wusste, dass er zusammen mit ihr hätte aufstehen sollen.
Stattdessen hatte er einfach weitergeschlafen. Er blickte zu den
Vorhängen, sah den schwachen Schein der Wintersonne
hindurchschimmern und kuschelte sich noch einmal unter die Decke.
Cathy machte das Aufstehen nichts aus, und schon bald würde sie
dafür gesorgt haben, dass die Küche warm und behaglich war. Er tat
so, als würde er sich nur umdrehen, und stieß seine Schwester grob
an. Er wusste, dass sie davon aufwachte. Dann gab er vor, noch zu
schlafen, und vergrub sich tiefer im Bett. Als er spürte, dass sie
aufstand, grinste er stillvergnügt.
Auf Cathy war Verlass. Sie wusste, was zu tun war,
und fackelte nicht lange. In zwanzig Minuten würde sie ihm Tee und
Toast hingestellt haben, und er konnte aufstehen und hinüberflitzen
in die Wärme der Küche.
Bibbernd machte Cathy den kleinen Herd an, in der
Hoffnung, mit zwei Flammen den Raum zu wärmen. Geschickt schnitt
sie Brot auf und legte es unter den Grill. Sie öffnete den
Speiseschrank und prüfte die Vorräte. Da waren noch Margarine und
ein klein wenig Marmelade. Summend machte sie sich daran, das
Frühstück zu richten. Sie hatte gerade eine große Kanne Tee fertig,
als Madge zur Vordertür hereinkam.
»Eine schöne Tasse Tee! Genau richtig. Draußen ist
es eisig kalt.« Sie überreichte Cathy kalte Würstchen, die in
Zeitungspapier gewickelt waren. »Die hab ich aus dem Kaffeehaus für
dich mitgebracht, Kleines.«
»Damit mach ich Sandwiches. Ich mag Würstchen doch
so gerne.«
Dankbar für die kleine Aufmerksamkeit lächelte
Cathy ihre Mutter an. In diesem Haushalt kam regelmäßig gutes Geld
herein, aber für Lebensmittel blieb nur ein armseliger Rest. Das
meiste wurde in Alkohol umgesetzt und in neue Kleider für Madge,
wenn sie die Lust überkam, sich herauszuputzen, und in aufwendige
Möbelstücke, die meist sehr bald zurückgefordert wurden.
Regelmäßig einmal die Woche einzukaufen lag einfach
nicht drin. Wie alle anderen auch konnten sie bei Tamlin’s
anschreiben lassen. Sie lebten von einem Tag auf den anderen und
zahlten immer dann ein wenig ab, wenn man ihnen Zigaretten und
Lebensmittel nicht mehr auf Kredit geben wollte.
Madge zog ihren alten Mantel aus und grinste.
»Mistding! Ich brauch dringend einen neuen. Scheiße, ich renn doch
schon rum wie Yogi Bär.«
Cathy lachte fröhlich. »Dann muss Betty ja Boo-Boo
sein.«
Sie lachten gemeinsam über den Scherz.
Madge, satt von Speck, Eiern, Tomaten und
Würstchen, hatte kein Interesse an den Sandwiches. Der Anblick
ihrer Tochter, die so flink in der kleinen Küche hantierte,
versetzte ihr einen Stich der Reue. Sie sah das verfilzte blonde
Haar über den
Rücken des Kindes fallen, sah die großen blauen Augen des Mädchens
und spürte, wie sehr sie Cathy liebte. Die Kleine war ein gutes
Kind, und man konnte sich darauf verlassen, dass sie tat, was es zu
tun gab. In ein paar Jahren würde sie eine echte Stütze sein
…
»Gib ein Küsschen, Baby.«
Pflichtbewusst kam Cathy zu ihrer Mutter, legte die
dünnen Ärmchen um deren üppige Taille und küsste die dargebotene
Wange.
»Ich hab dich lieb, Mom.«
Madge nickte traurig. »Das weiß ich wohl.«
Madge schloss ihr kleines Mädchen fest in die Arme.
Wie süß sie roch und wie drahtig sich der schmächtige Körper
anfühlte. Cathy würde es schaffen. Sie war nicht unterzukriegen.
Das sagte sich Madge an jedem Tag ihres Lebens.
Eamonn Senior stand im Türrahmen und beobachtete
die beiden. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wieso hatte Gott in
seiner Weisheit für richtig angesehen, ihnen diese beiden Kinder zu
schenken?
Er betrachtete das verschmierte Make-up von Madge
und ihren fetten Bauch, ihre Krampfadern und die geschwollenen Füße
in den engen silbernen Stilettos. In ihrem großen runden Gesicht
war noch eine Spur der Schönheit zu erahnen, die sie einst besessen
hatte. Madge war gerade fünfunddreißig Jahre alt.
Er zog die Hosenträger über die Schultern und trat
in die kleine Küche. »Würstchen, hä? Hab’n wir keine Eier?«
Cathy schüttelte den Kopf, glücklich über seinen
launigen Ton. Madge zog eine Pfundnote aus ihrer Tasche, als Eamonn
Junior in die Küche kam, noch immer Schlaffalten im Gesicht.
»Lauf runter in den Laden und hol ein Dutzend Eier
und eine Zeitung. Das Pfund ist für die Schulden, und du kannst dir
was zu naschen aussuchen.«
Der Junge nahm das Geld und lief los. »Lass die
Sandwiches da, Kind. Ich mach uns dazu Eier, hm?«
Cathy nickte glücklich.
Der große Ire schenkte sich eine Tasse Tee ein und
wandte sich an Madge. »Und wie war die Nacht?«
»Fünfzehn Quid. Hab ‘n Chinamann geplündert, aber
der kreuzte plötzlich wieder auf. Hättest sehen sollen, wie wir
gerannt sind. Die Commercial Road rauf wie die Windhunde! Hat mich
aufgeschlitzt, hier!« Sie zeigte ihm ihren verbundenen Arm. »Nichts
Ernstes, nee, nur drei Stiche. Im London ham sie mich genäht, und
deswegen bin ich auch so spät. Er war klein, der Kerl. Gelber
Zwerg.«
Eamonn lachte. »Bist ‘ne Klasse für sich, Madge.«
Er strich sich mit der Hand über die Bartstoppeln. »Kannst mir
vielleicht was leihen? Fünfer würde reichen.«
Cathy sah zu, wie ihre Mutter ihm den
Fünfpfundschein gab, und seufzte innerlich vor Erleichterung. Madge
hatte Beute gemacht, wie sie es nannte. Das hieß, sie würden
allesamt schön frühstücken, und in der Wohnung würde Lachen statt
Verwünschungen zu hören zu sein. Alles in allem kein schlechter
Anfang eines Donnerstags.
Sie freute sich auf die Schule. Cathy gefiel es
dort. Es war ordentlich, es war warm, und ihre Lehrerin, Mrs.
Platting, nannte sie »Darling«.
Schmunzelnd schaute sie jetzt zu, wie ihre Mutter
und der große Mann schwatzten und lachten, und nachdem sie den
beiden noch Tee nachgeschenkt hatte, gönnte sie sich einen
verstohlenen Zug an der Zigarette ihrer Mutter.
Madge bemerkte sie und lachte nur. »Hast du das
gesehen, Eamonn! Sie raucht.«
Begeistert schauten die beiden Erwachsenen das
kleine Mädchen an, und Cathy sonnte sich in ihrer Zuneigung.
Augenblicke wie dieser waren selten, und sie hatte
schon vor Zeiten gelernt, die schönen Stunden zu genießen. Denn man
wusste nie, wie lange sie andauern würden.