Kapitel zwölf
Der Arzt war entsetzt darüber, wie man das Mädchen, das da im Bett lag, offenbar behandelt hatte. Er hatte sich bereits entschlossen, sie ins Krankenhaus einweisen zu lassen, als man ihn darauf hinwies, dass es sich um eine gewalttätige Straffällige handelte, die ohne Bewachung nirgends hingebracht werde durfte.
Der Arzt, der erst einige Monate zuvor gerufen worden war, damit er half, ein Kind zu retten, das sich und seine Zimmergenossin verstümmelt hatte, war nicht so erschüttert, wie er sich gab. Im Gegenteil, er nutzte seine Erlebnisse aus diesem Erziehungsheim als Tischgespräch und wünschte sich sogar, noch häufiger dorthin gerufen zu werden.
Eine echte Fesselung gäbe für seine Freunde wie für seine Berufskollegen eine prima Geschichte ab.
Innerhalb einer Woche hatte er es geschafft, dass die Kleine weit genug genesen war, um zu erfassen, was man ihr sagte, und sich artikulieren zu können. Auf diese ärztliche Leistung war er stolz, und obendrein brachte sie ihm die aufrichtige Dankbarkeit der Schulleitung von Benton ein.
Die Tore der Institution blieben jedoch von da an für ihn geschlossen, und er hätte sich über das weitere Schicksal dieses speziellen Mädchens ebenso Gedanken machen müssen wie über das Wohl aller anderen, die er mittlerweile behandelt hatte. Insgeheim wusste er genau, dass er an einem Komplott teilhatte, aber fälschlicherweise glaubte er, es ginge nur darum, den guten Namen von Deal als Ferienort zu schützen. Mrs. Barton verstand sich auf die menschliche Natur und hatte den guten Doktor auf den ersten Blick richtig eingeschätzt, während er sich zu der Tatsache beglückwünschte, dass dieses Mädchen mindestens ein Bein oder einen Arm verloren hätte, wenn er nicht gewesen wäre.
So wie es ausschaute, konnte sie aber weiterhin über gesunde Gliedmaßen verfügen, und ihre Genesung machte ausgezeichnete Fortschritte.
Cathy war eine schweigsame und stoische Patientin.
Er schrieb ihre Schweigsamkeit der Tortur zu, die sie hatte ertragen müssen, und ihm wäre nicht im Traum eingefallen, dass es die Anwesenheit von Miss Henley war, die dem Kind die Lippen versiegelte.
Es sollte noch zwanzig Jahre dauern und des Eingeständnisses der Fürsorgebehörden bedürfen, dass diese Fesselungspraktiken existierten, bevor er sich zusammenreimen konnte, was direkt vor seiner Nase geschehen war.
Bis dahin würde er sich stets beglückwünschen, welch hervorragende Arbeit er geleistet hatte.
 
Man hatte Denise erlaubt, das kranke Mädchen regelmäßig zu besuchen. Die Angst der Verantwortlichen, dass Cathy sterben könnte, hatte sich für die Heiminsassen positiv ausgewirkt, und alle merkten, dass sie tatsächlich einmal die Oberhand hatten.
Es gab reichlich zu essen, jeden Tag wurde geheizt, und hemmungslose Strafaktionen gehörten urplötzlich der Vergangenheit an. Jeder wusste, dass es nicht so bleiben würde, und sie alle, besonders aber Denise, genossen die Ruhepause, solange sie andauerte.
Als sie hinuntersah auf das Mädchen im Bett, schnürte es ihr die Brust ein, und sie wusste, dass es mit Liebe zu tun hatte.
Miss Henley und die anderen wussten, dass Denise im Heim das Sagen hatte. Je nach eigenem Gutdünken arbeitete das Mädchen jedoch mit ihnen zusammen, um eine gewisse Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber auf ein Wort von Denise hätte es auch vor ihren Augen Mord und Totschlag geben können. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet, und das nutzte Denise weidlich aus.
Sie wusste jedoch nicht, dass die schuldigen Mitglieder der Heimleitung bereits gemeinsam einen Plan austüftelten, sowohl Cathy wie auch sie so schnell wie möglich aus dem Erziehungsheim zu entfernen.
Cathy öffnete die Augen und lächelte milde. »Meine Hände bringen mich um.«
Denise zog eine Grimasse. »Das glaub ich aufs Wort, Mädchen. Man kann’s ihnen ansehen, dass sie noch wehtun.«
Die festgezurrten Stricke hatten an den Gelenken die Blutzirkulation abgeschnitten. Ihre Hände waren dadurch ganz schlimm angeschwollen, und jetzt, nach einer Woche, verlor Cathy sämtliche Fingernägel. Seltsamerweise empfand sie das als schmerzhaftesten Teil der Folterqualen.
»Ich hasse es, gefüttert zu werden, und komm mir echt dämlich vor.« Cathys Stimme klang härter als früher, ihr Blick war argwöhnischer, aber dass sie sich niemals würde unterkriegen lassen, war dem zierlichen Mädchen auf den ersten Blick anzusehen.
Sie hatte innerhalb so kurzer Zeit so viel durchgemacht, dass sie nichts mehr umwerfen konnte. Die Benton School for Girls hatte zwangsläufig ihren Lebensweg vorgezeichnet.
Denise spürte das und war darüber sowohl erfreut wie enttäuscht. »Was meinst du, wie lange es noch dauert?«, fragte sie leise. Obwohl sie allein waren, wollte keine von beiden Gefahr laufen, gehört zu werden.
»Noch eine Woche, und ich steh wieder auf meinen Stelzen. Und dann will ich hier weg.« Die Sehnsucht war Cathys Stimme anzumerken, ihr Bedürfnis, dem Heim zu entkommen, so stark, dass es beinahe greifbar war.
»Dich holen sie ja auch nicht wieder zurück, weil du gar nicht hier sein solltest. Aber bei mir ist das anders«, flüsterte Denise. »Ich muss draußen sofort anschaffen gehen. South London kommt überhaupt nicht infrage. Ich dachte an oben im Westen oder sogar an den Norden. Die Zwillinge, Maureen und Doreen, glauben, ich könnte an der Lumb Lane in Bradford gut was verdienen. Angeblich ist da schwer was zu holen, und die Frauen, die da arbeiten, stehen zu ihrem Job und haben gute Zuhälter und alles.«
Ihrer Stimme waren Zuversicht und Freude über die rosige Zukunft anzuhören, die von den Zwillingen ausgemalt worden war. Die Aussicht, viel Geld zu verdienen und wieder mit echten Prostituierten zusammenzukommen, schien einen Traum wahr werden zu lassen. Denise wusste, dass sie mehr als das vom Leben nicht zu erwarten hatte. Schon als Kind hatte sie hinzunehmen gelernt, dass ihr Leben ein harter Kampf sein würde. Und das hatte sich bis jetzt bewahrheitet.
»Dir ist doch klar, was wir tun müssen, um hier rauszukommen, oder?«, verlangte sie von Cathy zu wissen.
Cathy nickte. Ihr Gesicht verdüsterte sich für einen Moment, aber dann lächelte sie grimmig. »Ich mach es und du auch. Ich würde alles tun, um von hier wegzukommen.«
Beide verstummten, als hätte ihnen die Ungeheuerlichkeit dessen, was vor ihnen lag, die Sprache geraubt.
Was mehr oder weniger auch der Wahrheit entsprach.
 
Zum ersten Mal in ihrem Leben war Mary Barton aufgeschmissen.
Eine aufdringliche Frau namens Betty Jones hatte alle möglichen Fragen über die kleine Connor gestellt. Irgendwie hatte sie von dem ursprünglichen Plan erfahren, sie bei Pflegeeltern unterzubringen, und ständig nachgefragt, warum keine Briefe gekommen waren und man auch keine Nachricht von dem Kind hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Mary richtige Angst.
Bis zum Auftauchen von Cathy Connor war sie so gut wie immer nach Gutdünken verfahren, sowohl bei den Leuten, mit denen sie zu verhandeln hatte, als auch bei den Kindern, die sie in Heime, zu Pflegefamilien oder in Institutionen schickte, ganz wie es ihr passte. Jetzt wollte doch tatsächlich jemand wissen, was mit den Kindern geschehen war, die man ihr anvertraut hatte, und sie musste sich rechtfertigen. Eine ernüchternde Übung.
Wie die meisten tyrannischen Menschen war Mary Barton im Grunde eine feige Person. Sie war glücklich, wenn sie die uneingeschränkte Kontrolle besaß, aber verloren, sobald jemand ihre Macht infrage stellte.
Catherine Connor hätte niemals in die Benton School for Girls überstellt werden dürfen, und das wussten sie alle. Das kleine Biest hatte höchstpersönlich die Unverfrorenheit besessen, sie wegen der Situation zur Rede zu stellen. Einfach unerhört! Niemand kritisierte eine Entscheidung von Mary Barton. Das war sozusagen das elfte Gebot, ein ungeschriebenes Gesetz. Aber inzwischen maßte sich in ihrem Arbeitsbereich jeder an, von ihr getroffene Entscheidungen zu hinterfragen, und das empfand sie als höchst unangenehm.
Wie sollte sie erklären, warum sie das Kind hier eingeliefert hatte, statt es einer privaten Pflegefamilie anzuvertrauen? Sie hatte einen Bericht eingereicht, in dem es hieß, das Mädchen habe sie und auch Miss Henley angegriffen. Normalerweise reichte das. Jetzt plötzlich wollte die Behörde sich das Kind vorführen lassen.
Diese Betty Jones verursachte ebenfalls unsagbare Schwierigkeiten, indem sie anbot, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Als würde Mrs. Barton ein Kind der Gefährdung in einem Haus von schlechtem Ruf aussetzen und dazu bei einer Frau, die ihren Körper an fremde Männer verkaufte! Miss Benton vergaß dabei wohlweislich, was sogenannte achtbare Mitglieder des Establishments innerhalb der Benton School for Girls den Schutzbefohlenen antaten.
Alles in allem war die Situation prekär.
Wie sie feststellte, wurde ihr das Connor-Mädchen immer unsympathischer. Sie hatte Cathy schon vom ersten Augenblick an nicht gemocht, aber jetzt schlug die Antipathie allmählich in Hass um.
Das Mädchen war an allem selbst schuld, natürlich. Man muckte nicht auf gegen den, der einem zu essen gab und für die Kleidung sorgte. Das musste dieses Connor-Balg lernen, und zwar auf die harte Tour.
Dafür zu sorgen war Mary Barton wild entschlossen.
Sobald das momentane kleine Fiasko behoben war, würde das Mädchen in einer entlegenen Anstalt für Geisteskranke verschwinden und dort schon bald die Flügel gestutzt bekommen.
 
Betty Jones’ Gesicht war ungeschminkt, und das Haar hatte sie zu einem gänzlich ungewohnten Knoten aufgesteckt. Zuerst hatte sie versucht, ganz sie selbst zu bleiben, aber als sie damit anscheinend nicht ankam, war sie zu der Überzeugung gelangt, eine größere Chance zu haben, von den Leuten ernst genommen zu werden, wenn sie nicht so sehr wie eine Hure aussah. Da lief irgendwas mit Cathy. Die vom Sozialdienst waren nicht ehrlich zu ihr. Das roch sie einfach.
Sie beschloss, die Hilfe von Richard Gates in Anspruch zu nehmen, aber der lachte erstmal nur über ihr verändertes Aussehen.
»Irgendwie kam mir das Gesicht doch bekannt vor, aber ich konnte es nicht unterbringen. Was, um Himmels willen, ist denn mit dir los? Du siehst ja noch schlimmer aus als sonst. Du bist doch nicht zur Heilsarmee gegangen, oder?« Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen.
Betty vergaß, warum sie gekommen war, und fauchte ihn an: »Leck mich doch, Gates. Verarschen kann ich mich selber.« Sie stand auf und wollte aus dem Zimmer gehen. Er stand ebenfalls auf und zerrte sie grob zurück.
»Komm schon, beruhige dich, Betty. Sei doch ehrlich - du wärest auch schockiert, wenn du mich plötzlich mit vollem Haupthaar und einem Colgate-Lächeln sehen würdest. Also gilt das auch für mich, oder? Was kann ich für dich tun?«
Im Gegensatz zu seinen Kollegen hörte Gates allen und jedem zu. Man wusste nie, von wem die nächste wichtige Information stammen könnte, und die Erfahrung hatte ihn gelehrt, alle seine Informanten ernst zu nehmen. Bettgeflüster hatte ihm wichtigere Informationen verschafft als alle Geldzuwendungen. »Auch Diebe tun sich dick bei den Dirnen«, sagte er gern, und so hörte er stets und überall hin.
Betty machte noch immer ein vergrätztes Gesicht. Großmütig bestellte er Tee für sie beide und lächelte die Frau an. Betty ließ sich erweichen.
»Es geht um die Kleine von Madge. Ich hatte läuten hören, dass sie zu Pflegeeltern kommen sollte, aber jetzt heißt es, dass man sie in irgend so ein Erziehungsheim in Deal gesteckt hat. Wo sie echt weggeschlossen ist. Aber sie hat doch nichts getan, und ich versteh nicht, warum sie dort ist. Man lässt mich auch nicht zu ihr, obwohl ich immer wieder darum gebeten habe.« Sie zuckte die Achseln. »Sie sind meine letzte Rettung.« Sie trank einen Schluck Tee und sah den großen Mann skeptisch an. Wenn Gates ihr eine Abfuhr erteilte, wusste sie nicht mehr weiter.
Er musterte sie eine Weile. »Mit deiner Kriegsbemalung hast du zwar auch nicht besonders stark ausgesehen, Betty, aber jetzt …«
Betty spürte die Tränen aufsteigen, und Gates merkte, dass er zu weit gegangen war.
»Na komm, war doch nur ein Scherz. Mach nicht so ein trauriges Gesicht. Also, die kleine Cathy Connor … was ist da gelaufen? Sie hat das Revier in Begleitung einer alten Schachtel mit Geiergesicht verlassen, die sie offenbar zu einer guten Pflegefamilie bringen sollte. Wie zum Teufel ist sie dann in ein geschlossenes Heim geraten?«
»Fragen Sie mich nicht, Mr. Gates. Das will ich ja gerade herausfinden. Ich ertrag den Gedanken nicht, dass sie in so einem Erziehungsheim ist - das wäre doch nach allem, was sie durchmachen musste, nicht richtig, oder?« Betty merkte, dass Gates interessiert zuhörte. Endlich würde ihr jemand helfen, und wenn auch nur mit einem Rat. Nachdem man sie in den letzten Wochen so oft an der Nase herumgeführt hatte, war das hier ein Lichtblick.
Richard Gates’ Miene gab keine Regung preis, während er mit wachsender Besorgnis von der Notlage der Kleinen hörte, die er bereits einmal aus einer schlimmen Bredouille befreit hatte.
 
Cathy war verblüfft, Denise um neun Uhr abends bei sich am Bett zu sehen.
»Wie bist du hier reingekommen?« Denise schüttelte den Kopf und zog sie an den Armen in die Höhe. »Zieh dich an, wir hauen hier ab.«
Cathy riss verblüfft die Augen auf. »Was sagst du?«
»Miss Brown hat mir einen Wink gegeben. Ich soll morgen weggebracht werden. Wenn ich wirklich eingewiesen werde, bin ich drin bis in alle Ewigkeit. Man wird behaupten, dass wir nicht alle Tassen im Schrank haben. Du bist die Nächste, sobald sie dich für transportfähig halten. Wir müssen heute Nacht noch weg!«
Cathy hatte schreckliche Angst, und das sah man ihr an. Sie verspürte noch immer starke Schmerzen in den Fingern und konnte nur schwer das Gleichgewicht halten, als sie aufgestanden war.
»Komm, Cathy, ich helf dir. Wir müssen weg.«
Das ältere Mädchen half ihr mit Hochdruck beim Anziehen, und diese Eile gab Cathy den nötigen Ansporn, selbst in Schwung zu kommen.
»Ich hab die Schlüssel für die vordere und die hintere Tür. Wir müssen nur mit dem alten Sack draußen fertig werden. Wir haben das ja schon besprochen, und ich verlass mich darauf, dass du nicht schlappmachst. Denk immer dran, warum wir es tun. Dann schaffst du es auch, alles durchzuziehen, was getan werden muss. Okay?«
Cathy nickte und wartete ungeduldig darauf, dass die Freundin ihr die Schnürsenkel gebunden hatte.
»Zieh deinen Mantel über, und nimm alle persönlichen Dinge, die du brauchst. Wir haben noch ungefähr eine Stunde Galgenfrist.«
Cathy ließ ein paar Habseligkeiten vorsichtig in eine Papiertüte fallen und wandte sich an ihre Freundin. »Ich habe Angst«, sagte sie mit aller Bestimmtheit.
Die orientalischen Gesichtszüge von Denise wirkten ernst, als sei alle Weisheit dieser Welt darin eingegraben. »Schiss hab ich auch, wenn du’s wissen willst, aber es muss sein. Jetzt oder nie - wie der gute alte Elvis schon gesungen hat: It’s now or never. Hauen wir ab. Die beiden Misses haben versprochen, bis zehn Uhr keine Runden zu drehen. Das gibt uns eine Stunde Vorsprung. Die Hintertreppe runter und dann hinten raus ist bestimmt das Einfachste. Bis du sicher, dass du es schaffst?«
Cathy nickte. »Was bleibt mir anderes übrig?«
Als sie die Hintertreppe hinunterschlichen, verspürten sie im Dunkeln noch größere Angst. Aber als sie die helle Küche betraten, warteten dort die Zwillinge und drängten sie, sich zu beeilen.
»Ich hab euch ein paar Sandwiches gemacht.« Maureens Stimme bebte vor unterdrückter Aufregung. »Hätte ich doch bloß den Mut, mit euch beiden abzuhauen.«
Doreen war ebenfalls aufgeregt. »Um zehn Uhr legen wir in unserem Schlafraum los. Da werden sich die Balken biegen. Ihr wisst doch, wie es ist, wenn wir beide uns prügeln. Da mischt sich keiner ein.«
Die Zwillinge grinsten einander triumphierend an. Ihre Prügeleien waren legendär, und sie kämpften ausschließlich gegeneinander.
»Danke, Mädels. Kommt mal bei mir vorbei, wenn ihr draußen seid. Okay? Wir sehn uns«, versprach Denise.
Das Versprechen war ernst gemeint, und die Zwillinge nickten.
»Nimm die hier, Cathy, die schützen deine Hände.« Doreen reichte ihr ein Paar Wollhandschuhe. »Die hab ich Henley geklaut.«
Alle lachten.
»Und jetzt raus mit euch durch die Hintertür und dann nichts wie weg. Bestimmt nimmt euch jemand im Auto mit. Seid vorsichtig.«
Die Mädchen umarmten einander, und plötzlich bekam Cathy eine Höllenangst davor, was sie außerhalb der Mauern der Benton School for Girls erwartete. Wie jemand, der Jahr um Jahr im Gefängnis verbracht hat, stellte sie fest, dass sie sich nach dem Schutz ihrer Gefängniszelle sehnte und sich fürchtete, sie zu verlassen. Schließlich konnte das, was sie draußen erwartete, durchaus noch viel schlimmer sein …
Die kalte Luft schlug den beiden Mädchen ins Gesicht. Als sie die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatten, atmeten sie tief durch. Sie befanden sich auf dem Gelände, und das hieß, dass sie bereits jetzt offiziell als Ausreißer galten.
Sie wussten, dass sie keine Chance hatten, den Zaun zu überwinden. Der einzige Weg nach draußen führte durch das Vordertor, und das hieß: Sie mussten mit dem Jailer fertigwerden. Diesen Spitznamen hatte man Barney Jennings gegeben. Er war Ende fünfzig und daher in den Augen der Mädchen bereits uralt. Außerdem war er ein unverbesserlicher Lüstling und fast genauso schlimm wie Hodges. Wenn er im Haus zu arbeiten hatte, konnte er seine Hände nicht bei sich behalten, sondern grapschte ständig nach den Mädchen. Noch mehr belästigte er sie aber mit verbalen Entgleisungen, schmutzigen Bemerkungen und Zweideutigkeiten.
Was die Mädchen jedoch an Barney besonders ekelhaft fanden, war die Tatsache, dass er sechs Finger an jeder Hand hatte. Als Gärtner und jemand, der alle Gelegenheitsarbeiten verrichtete, sprach er immer davon, dass die sechsten Finger seine grünen seien, und dann machte er den Mädchen gegenüber widerliche Bemerkungen darüber, wozu diese zusätzlichen Finger gut sein konnten. Im Sommer an ihm vorbei ins Freie zu kommen, war für die älteren Mädchen ein Klacks. Wenn er wusste, dass sie sowieso nur noch ein paar Wochen bleiben mussten, ließ er sie gegen eine kleine sexuelle Gefälligkeit für den Abend nach draußen.
Die beiden Misses gestatteten ebenfalls den Mädchen, die bald entlassen werden sollten, mehr Freiheiten, als ihnen zustanden, und wenn sie für ein paar Stunden auf der Strandpromenade bereit waren, dem alten Mann einen kleinen Dienst zu erweisen, dann drückten die Betreuerinnen auch mal ein Auge zu. Auf diese Weise zahlten die beiden Misses ihren Arbeitgebern die üble Behandlung heim und drückten oft ein Auge zu, um den Jailer zu einem glücklichen Mann zu machen. Heute Abend würde er jedoch nicht so zugänglich sein.
Denise war klar, dass Hodges und Barton ihm die Lage erklärt haben mussten und er, auch wenn sie ihm Sex anboten, bestimmt fürchtete, den geliebten Job zu verlieren.
Wie sie wussten, fanden sie Jailer in seinem kleinen Pförtnerhaus. Als sie zur Tür hineinkamen, saß er dort, trank Kakao und las den Evening Standard. Der entsetzte Ausdruck in seinem rot geäderten Gesicht sagte ihnen alles, was sie wissen mussten.
Er stand auf und begann eine wüste Tirade.
Mit einer Kraft, die sie aus der Angst schöpfte, stieß Denise ihn auf seinen Stuhl zurück. »Setz dich hin, alter Drecksack, und halt deine Klappe!«
Barney, ein sehniger Mann, den Jahre harter physischer Arbeit gekräftigt hatten, fragte sich noch, wie heftig er reagieren sollte, als Denise ein scharfes Messer zog.
Aus Cathys Gesicht wich alle Farbe.
»Ich schlitz dich auf wie ein verdammtes Schwein, Kumpel, und zwar von oben bis unten. Versuch nur, mich aufzuhalten, dann wirst du staunen, was ich mit dir mache!« Denises orientalisches Gesicht wirkte eiskalt, und ihre geschlitzten Augen verschwanden fast in den Höhlen, als sie den alten Mann angiftete. »Die werden mich sowieso nicht rauslassen, und deswegen sitz ich liebend gern auch noch deinetwegen Zeit ab, mein Alter. Jetzt gib uns die Schlüssel zum Tor, und wir sind verschwunden.«
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er zu den Typen zählte, die es nicht ertragen konnten, übertrumpft zu werden. Niemand machte Barney etwas vor, darauf war er stolz. Sogar im Krieg war es den Deutschen nicht gelungen, Barney Jennings unterzukriegen. Dass er seine Befreiung vom Wehrdienst für gutes Geld erkauft hatte, machte ihm überhaupt kein Kopfzerbrechen. Während andere Männer das Leben für ihr Vaterland opferten, ließ er es sich in Kent mit einem netten Job gutgehen, ohne Luftangriffe, Rationierungen oder Einberufungsbefehle fürchten zu müssen,.
Wenn Denise den Mann richtig eingeschätzt hätte, wären sie bestimmt sehr schnell mit ihm einig geworden. Aber so sah er sich veranlasst, etwas zu unternehmen. Dieses Gör wagte es doch tatsächlich, ihm zu drohen!
Mit einem Lächeln sagte er freundlich: »Reg dich nur nicht auf, Mädchen. Lass mich mal sehen, wo ich meine Schlüssel habe …« Er stand auf und spielte ihr überzeugend einen alten Mann vor, der etwas verlegt hat. Er legte seine Lesebrille auf der Lehne des Polstersessels ab und kratzte sich am Kinn.
Denise und Cathy beobachteten ihn argwöhnisch.
»Jetzt weiß ich, Mädchen, die sind in meiner Jackentasche im Schlafzimmer.« Er ging auf Denise zu, als wolle er ins Schlafzimmer. Aber stattdessen stürzte er sich auf sie.
Unwillkürlich ergriff Cathy mit einer Hand eine schwere Stange und zog sie Barney über den Schädel, obwohl sie wegen des Handschuhs nur unbeholfen zupacken konnte. Denise sah deutlich den Schock in den Augen des Mannes, bevor er auf dem Vorleger zusammensackte. Kopfschüttelnd blickte sie auf die zierliche Gestalt vor sich, bevor sie hysterisch auflachte und sagte: »Du hast es drauf.«
Cathy ließ die Stange fallen, weil ihre Hand unerträglich schmerzte. »Ist mit ihm alles in Ordnung?«, fragte sie verzagt.
Denise nickte. »Nur k. o. Ich hätte den Mistkerl abgestochen, kannst du mir glauben. Allein schon, um aus diesem verdammten Dreckloch wegzukommen.«
Ihre Hysterie legte sich, und jetzt kämpfte sie mit den Tränen. Als sie sich beruhigt hatte, sah sich Denise in dem Häuschen um. Es war gemütlich eingerichtet, und der rosige Schimmer des verglühenden Holzfeuers verbreitete eine behagliche, fast schon heitere Atmosphäre. Man konnte sich vorstellen, dass ein älteres Ehepaar seinen Lebensabend hier verbrachte, am Kaminfeuer plauderte und selbstgebackenes Brot genoss. Ein Häuschen wie aus dem Märchen.
Und das stellten die beiden Mädchen jetzt rücksichtslos auf den Kopf, weil sie nach Geld suchten oder nach anderen Wertgegenständen, die sie verscherbeln konnten. Schließlich mussten sie ja von irgendwas leben, bis sie ihr erstes Geld verdienten.
In einer Ovomaltine-Dose auf einem Bord in der Küche fand Cathy schließlich seine versteckten Geldreserven: zehn Fünfpfundscheine, zusammengehalten von einem Gummiband. »Hier, guck doch mal, Den.«
Sie teilten das Geld auf.
»Klasse, damit kommen wir erstmal weiter.« Sie strahlte vor Freude.
Barney stöhnte.
Mit dem Haken versetzte ihm Denise noch einen Schlag.
»Denise, mach keinen Scheiß!« Der Schlag war äußerst heftig gewesen, und als der Mann diesmal auf dem Kaminvorleger zusammensackte, bekam Cathy einen Schreck.
»Du hättest ihn umbringen können!«
Mit dem Fuß drehte Denise den Mann auf den Rücken. Sie betrachtete Jailer eine Zeit lang, schaute dann ihre Freundin an und sagte gehässig: »Scheiß auf den da. Scheiß auf die ganze Bande. Mir hat nie jemand was geschenkt. Ich will nichts von denen. Ich hab mir das hier verdient, weil ich Miss Henley immer wieder zu Gefallen war und ausgehalten hab, dass Hodges über mich hergefallen ist. Viel hab ich nicht gelernt, aber eins weiß ich jetzt: Alle wollen dich nur ficken, Mädchen, ob nun deinen Hintern oder deinen Kopf. Du musst irgendwann eine Grenze setzen, was du dir bieten lässt, und dann bei dieser Grenze bleiben. Mich kümmert es nicht, ob der alte Schmutzfink krepiert. Warum sollte es auch? Niemand schert sich einen Dreck um uns, oder? Also los, gehen wir. Wir haben schon genug Zeit vergeudet.«
Fünf Minuten später waren sie draußen vor dem Tor und rannten, als ginge es um ihr Leben.
Der Lichterglanz der Uferpromenade von Deal hieß sie willkommen. Als sie den Pier erreichten, fielen die ersten Regentropfen. Der Geruch von Fish & Chips war so verlockend, dass Cathy am liebsten den Imbiss betreten hätte und mechanisch nach dem Geld in der Tasche griff.
Denise zerrte ihre Freundin ruppig zur Seite und fauchte sie an. »Bist du denn völlig bekloppt? Wenn wir da reingehen und ‘nen Fünfer kleinmachen wollen, weiß es in einer halben Stunde ganz Deal. Nein, wir gehen zur Hauptstraße, halten einen Lastwagen an und konzentrieren uns dann aufs Essen, Schlafen und Scheißen, okay?«
Die Predigt traf Cathy hart. Sie kam sich klein vor und folgte ihrer Freundin willig vorbei an den Schlossruinen in Richtung der Straße nach London. Ihr wurde klar, dass sie lange nicht so gewieft war, wie sie gedacht hatte. Aber dann tröstete sie sich damit, dass sie ja auch noch nie zuvor ausgerissen war. Kein Wunder, dass ihr alles ungewohnt und neu vorkam.
Sie konnte nur hoffen, dass sie einen solchen Fehler nicht nochmal machte. Als sie sich der Straße näherten, dachte sie an Eamonn, und ganz kurz setzte ihr Herzschlag aus. Wenn er sie sah, wenn sie ihm alles erklärt hatte, dann würde sie in Sicherheit sein.
Umsorgt werden.
Und geliebt.
Plötzlich spürte sie den stechenden Schmerz in ihren Händen nicht mehr, und im Gesicht auch nicht den beißenden Wind und den Regen. Sie empfand nur noch ein wohliges Gefühl der Vorfreude und schloss hastig zu ihrer Freundin auf.
Hand in Hand hielten sie im Schutz des Buschwerks am Straßenrand Ausschau nach Polizeiwagen und Lastern. Wortlos stapften sie durch den Morast. Beide waren mit eigenen Gedanken beschäftigt und wussten, dass sie so lange in ernster Gefahr waren, bis ein Lastwagen angehalten und sie mitgenommen hatte.
Wenn sie Hodges, Henley und Barton je wieder unter die Augen kämen, würden die mit heller Begeisterung Hackfleisch aus ihnen machen.
 
Derek Salmon pfiff zu dem Song von Freddie and the Dreamers, als er an seine Frau Abigail denken musste und ihm die fröhliche Stimmung verging. Plötzlich bekam die Zeile »How do you do what you do to me?« eine ganz andere Bedeutung. Er stellte das Radio ab und starrte bedrückt in die dunkle Nacht hinaus.
Abigail hatte ihn sechs Wochen zuvor wegen eines Seemanns verlassen. Sie war eine große und großherzige Frau von neununddreißig Jahren. Sieben Jahre älter als er, besaß sie zwar viel Mütterliches, hatte aber auch einen Riesenspaß am Sex. Auf dem Gebiet war sie für alles zu haben und genoss jede Minute.
Derek war klein - drahtig, wie er es zu nennen pflegte - und litt schon sein Leben lang unter Akne. Abigail war nicht nur seine Ehefrau gewesen, sondern einfach alles: Geliebte, Freundin, Vertraute. Er hatte sich den Arsch abgearbeitet für sie, und jetzt hauste er in einer Bruchbude, und der Seemann machte sich in Dereks Bett breit - mit Dereks Frau.
Das Leben war echt zum Kotzen.
Als er die Docks hinter sich gelassen hatte und an die Hauptstraße kam, sah er zwei Tramperinnen. Normalerweise wäre er an ihnen vorbeigerauscht. Viele Fahrer waren nämlich von solchen Mädchen böse reingelegt worden, und obendrein hatte man ihnen auch noch mit der Polizei gedroht. Aber heute fühlte er sich einsam, und daran waren das Wetter, seine Gedanken und der Song von Freddie and the Dreamers schuld.
Er bremste und hielt an. Aus dem Führerhaus rief er: »Es stinkt hier nach Fisch, Mädchen, aber ich nehm euch mit, so weit ich kann.«
Bevor er ausgesprochen hatte, saßen die Mädchen neben ihm im Führerhaus. Er lächelte ihnen zu. »Seid ja klatschnass, ihr Süßen.«
Denise nahm mit einem Blick sein freundliches Gesicht war, rümpfte die Nase wegen des Geruchs im Laster und fragte schmeichelnd: »Haste vielleicht ‘nen Glimmstängel, Alter?«
Die Aufsteigerin
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