Kapitel zwei
1965
Madge schenkte sich einen gehörigen Schluck Black
and White ein und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Sie rülpste
laut und sah auf die Uhr. Elf Uhr morgens und immer noch kein
Anzeichen von ihrem Mann.
Sie steckte sich eine Zigarette an, drehte das
Radio neben sich leiser und ließ die sanften Klänge der
Kirchenmusik an sich vorbeirauschen. Sie konnte Cathys Stimme aus
der Küche hören, wo sie das Huhn für ihr Weihnachtsessen
zubereitete. Das Lachen des jungen Eamonn vermischte sich mit dem
ihrer Tochter, und einen Moment lang lächelte sie zufrieden. Dann
fiel ihr wieder ein, dass der Vater des Jungen letzte Nacht nicht
nach Hause gekommen war, und ihr verging das Lächeln.
Immer öfter blieb er in letzter Zeit fort, und
Madge Connor, die sich rühmte, einen Braten schon zu riechen, bevor
er in den Ofen geschoben war, musste sich eingestehen, dass es zum
Himmel stank. Dass Eamonn sich ab und an mal einen Fehltritt
leistete, daran war sie gewöhnt, aber mit dieser Wachtel lief es
schon seit Wochen, und daher musste es was Ernstes sein.
Nach fünf Jahren ging er also seiner Wege. Das
wusste sie im Herzen so gut, wie sie den eigenen Namen kannte.
Brennende Tränen traten ihr in die blassblauen Augen, und ihr Kinn
bebte bedrohlich. Sie griff noch mal zum Scotch und zwang sich, die
Fassung zu bewahren.
Cathy kam ins Zimmer und brachte ihr ein
Schinkensandwich und eine Tasse Kaffee. »Hier, Mom, etwas zum
Frühstück.« Sie bemerkte das leere Glas in der Hand der Mutter und
verdrehte
die Augen. »Mom, du hast es doch versprochen. Kein Alkohol vorm
Abendessen. Mrs. Cartwright in der Schule sagt, wenn man tagsüber
trinkt, hat man ein Problem mit …«
Madge fiel ihrer Tochter barsch ins Wort. »Zum
Teufel mit der dämlichen Mrs.-Weiß-alles-besser-Cartwright! Wenn
ich am Weihnachtstag einen Drink will, dann nehm ich mir einen.
Kapiert?«
Cathy erblasste bei dieser aggressiven Tirade, und
bei Madge rührte sich ganz kurz das Gewissen. Es war der Alte, der
sie wütend machte, nicht ihre Tochter. Als Cathy in die Küche
zurückging, rannen ihr die unterdrückten Tränen nun doch übers
Gesicht.
Wo mochte er stecken, ihr irischer Macker, dieser
Mistkerl? Weihnachten und keine Spur von ihm.
In der Küche trank Cathy ihren Kaffee und zog an
ihrer Zigarette. Mit zwölf sah sie aus wie fünfzehn und wusste das
sehr wohl. Seit sie denken konnte, hatte sie schon älter gewirkt,
als sie war. Jetzt pfiffen sie ihr auf der Straße nach und nannten
sie »Schulmädchenluder«.
»Weißt du, wo dein Vater steckt, Eamonn?«
Der Junge, der mit fünfzehn schon an die zwei Meter
groß war, zuckte gleichgültig die Achseln. »Wenn ich’s wüsste,
würde ich’s ihr eh nicht sagen. Wozu auch? Du weißt doch, wie mein
Dad ist - irgendwann kommt er nach Hause, sie prügeln sich, und das
wär’s dann bis zum nächsten Mal.«
Cathy nickte. Sie drückte die Zigarette aus und sah
nach dem kleinen Huhn im Backofen.
»Riecht ja gut, Mädchen.«
Cathy lächelte. »Ich weiß! Eamonn, darf ich dich
was fragen, und du lachst mich bestimmt nicht aus?«
Der Junge nickte, bereits ein breites Lächeln auf
den Lippen. Mit seinem Vater teilte er das blendende Aussehen der
schwarzhaarigen Iren.
»Würdest du je heiraten?«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht in
tausend Jahren, Cath. So was wie das hier mein Leben lang
mitmachen? Ich denk nicht dran! Ich bin weg, Kleine, sobald ich
meine eigene Knete verdienen kann.«
Sie zündete sich die nächste Zigarette an. »Ich
will heiraten und ein hübsches Haus haben und zwei Kinder. Ich will
einen Garten mit schönen Blumen darin und einen Ehemann, der mich
über alles liebt und regelmäßig arbeiten geht. Und ich koche ihm
die schönsten Sachen, und er kann gar nicht aufhören, mich zu
küssen …«
Ihre Worte klangen wehmütig, und statt sie
auszulachen, legte Eamonn ihr den Arm um die Schultern und
hätschelte sie. »Und genau das alles wirst du auch bekommen.«
Cathy zog an ihrer Zigarette und schüttelte den
Kopf. »Nein, werde ich nicht. Jeder anständige Kerl würde vor ihr
da drinnen Reißaus nehmen, und ich könnte es ihm nicht mal
verdenken. Weißt du, was Desmond Blackburns Vater neulich zu mir
gesagt hat? ›Mädchen, du wirst schon bald die Röcke raffen wie
deine Mutter, und ich steh als Erster in der Schlange.‹ Der geile
Bock! Ich hab ihm gesagt, er soll’s sich selbst besorgen, so sauer
war ich, und er hat nur gelacht und gemeint: ›Auf die Sprache
verstehst du dich ja schon. Was hat dir Eamonn Docherty denn sonst
noch beigebracht?‹ Ich weiß nicht, ob er dich gemeint hat oder
deinen Vater.«
»Das hat er also gesagt, was?«
Cathy schob eine Strähne ihres dicken blonden
Haares aus der Stirn. »Reg dich bloß nicht auf, das sind die nicht
wert. Aber man kann’s den Nachbarn gar nicht übelnehmen, so wie
unsere beiden sich aufführen. Denk doch nur an letzten Freitag -
wie meine Mom und Betty sich mitten auf der Straße gestritten
haben! Ich hab das alles so satt. Sie könnte sich einen anständigen
Job suchen. Davon gibt es doch genug, aber nein, für sie kommt das
nicht infrage. Wir könnten wegziehen, wo keiner was von uns weiß.
Als ich ihr das vorgeschlagen hab, ist sie fast durchgedreht.
Manchmal hasse ich sie. Ich weiß, das schickt sich nicht, aber ich
kann nicht anders.«
Eamonn nickte verständnisvoll. »Freu dich, dass du
nicht denselben Namen trägst wie so’n verrückter Scheißire. Ich
hoffe, er kommt nie wieder. Ich hoffe, irgendwo liegt seine Leiche.
Anders werd ich ihn doch nie los. Na ja, fröhliche Weihnachten
jedenfalls.«
Er grinste sie an, und ohne Grund lachten sie
los.
»Weißt du, was echt komisch ist?«, fragte Cathy und
blickte hinauf in seine fröhlichen blauen Augen. »Ich mag meine Mom
echt, und ich weiß nicht, warum. Den ganzen Tag hockt sie auf ihrem
Arsch, und die ganze Nacht lang verhökert sie ihn. Sie rührt keinen
Finger im Haushalt und erwartet, dass ein Wunder geschieht und die
Sachen gewaschen und gebügelt im Schrank liegen. Sie frisst sich
dumm und dämlich und würde sich noch nicht mal ein Ei kochen! Aber
trotzdem, manchmal sehe ich sie an, und mir schnürt’s die Kehle
zusammen. Als wär sie das Kind und ich die Erwachsene.«
Sie schüttelte fassungslos den Kopf und lachte
wieder los.
»Ist doch irre, oder? Im nächsten Moment seh ich
sie dann die Straße entlangwatscheln, und schon hasse ich sie von
ganzem Herzen. Aber wenn jemand etwas Schlechtes über sie sagt,
würde ich ihn am liebsten umbringen. Auch wenn ich weiß, dass es
stimmt, was sie sagen.«
Eamonn sah ihr zu, wie sie die Kartoffeln schälte,
die Zigarette zwischen den Lippen baumelnd, die Augen zugekniffen
gegen den Rauch.
»Nächstes Jahr geh ich von der Schule ab - ich
kann’s kaum erwarten, mein eigenes Geld zu verdienen«, sagte er zu
ihr. »Ich werd Schauermann. Ich hab den Mumm dafür und auch den
Grips, wie mein Alter sagen würde.«
»Da kommst du bestimmt gut zurecht, und die
verdienen auch gutes Geld. Ich wünschte, ich könnte einen richtigen
Job kriegen.« Cathy richtete das Kartoffelmesser auf seine Brust.
»Eines Tages, ich sag’s dir, eines Tages hab ich alles, was alle
anderen auch haben - und noch mehr. Verdammt viel mehr. Denn das
hier ist mein Leben nicht, Eamonn, und ich hab vor, das
wahrzumachen, was ich gerade gesagt hab.«
Bevor er antworten konnte, ging die Vordertür auf,
und Bettys Stimme tönte durch die ganze Wohnung.
»Frohe Weihnachten!« Mit dem Arm voller Geschenke
kam sie hereinmarschiert, den Streit mit Madge schon vergessen.
»Was duftet denn so gut? Ich wünschte, du würdest zu mir ziehen,
Cath. Ich würde dich auch für all das bezahlen, ehrlich!«
Ihre kleinen weißen Zähne blitzten, als Cathy
griente. »Ich weiß, dass du’s tätest, Tante Bet, aber meine Mom
würde es nicht dulden.«
Betty folgte ihr in die Küche. »Hier, Eamonn, du
Riesenbaby, nimm mal die Geschenke. Wie ist sie bei Laune?«
Cathy zuckte die Achseln und füllte die Kartoffeln
in die Schüssel, in der sie gebacken werden sollten. »Besoffen, wie
immer. Er ist wieder nicht nach Hause gekommen. Du weißt doch, wie
das ist, Tante Bet. Warum sollte es Weihnachten anders sein? Wie
Mom später sagen wird: War doch nur ‘n Tag wie jeder andere.«
Betty zog ihren Biberlammmantel aus und legte ihn
sorgfältig über die Rückenlehne eines Küchenstuhls. »Ist aber
diesmal was Ernstes, Kleine.«
Eamonn und Cathy sahen sie an.
»Wer ist es denn?«, fragte Cathy.
»Junie Blacklock, die verwitwete. Nichts für ungut,
Eamonn, aber du kennst deinen Vater so gut wie wir alle. Was Junie
von der Versicherung gekriegt hat, das war ein hübsches Sümmchen,
und obendrein ist sie so irisch wie er. Sie hat weder Kind noch
Kegel, und gut aussehen tut sie auch, muss ich ihr lassen. Hat sich
immer gepflegt, selbst im Krieg. Die vierzig hat sie hinter sich
und die wird sie nie wiedersehen, aber das ist doch schnurz, oder?
Ich hab’s brühwarm und komplett von der alten Mutter
Wacker, und die kennt ihr - wenn’s nicht wahr wäre, käm’s ihr
nicht über die Lippen. So wie sie sagt, zieht Eamonn bei Junie ein,
und das heißt doch wohl, du ziehst auch da hin, Junge, denn wo er
hingeht, da gehst du mit.«
Cathy schloss die Augen und schüttelte bestürzt den
Kopf. »Der verdammte Mistkerl! Kann er nicht wenigstens warten, bis
die Festtage vorbei sind? Das bringt Mom doch um. Außer mir ist er
doch alles, was sie je hatte.«
Eamonn setzte den Kessel auf und sagte: »Na ja, was
Gutes hat es auch. Wenigstens werd ich nicht weit entfernt sein von
dir. Das ist doch auch was, oder?«
Betty kaute nervös an ihrem Daumennagel. »Ich muss
es Madge sagen. Ich mein, schließlich ist sie doch meine beste
Freundin. Besser sie hört es von mir als von jemand anders. Und
wenn Mutter Wacker davon weiß, dann weiß morgen die ganze Welt
davon. Ist doch ‘n schlimmes altes Klatschweib.«
Cathy schaltete den Herd aus.
»Was machst du da? Ich hab einen Mordshunger«,
protestierte Eamonn.
Cathy sah ihn direkt an und sagte traurig: »Hier
wird es heute kein Festessen geben. Sie rastet doch aus, wenn sie
es erfährt. Da werden Krankenwagen vorfahren, und zu raten, wen sie
abtransportieren, ist bestimmt nicht schwer, äh? Geh schon, Tante
Bet, sag’s ihr. Bevor es sonst jemand tut und dabei nicht so nett
ist.«
Fünf Minuten später hörte Cathy den schrillen
Schrei aus dem Vorderzimmer, und sie hätte fast in das Gejammer
eingestimmt. Mochte Madge Connor noch so viele Fehler haben, sie
blieb Cathys Mutter, und das Mädchen liebte sie.
Liebte sie vielleicht mehr, als sie verdient
hatte.
Junie Blacklock war klein von Gestalt, mit
Wespentaille und guten Zähnen. Sie war stolz auf ihr hübsches Heim,
ihre hübsche Figur und ihren noch hübscheren Kontostand. Nicht
umsonst
hatte ihr Mann gescherzt, dass sie den Shilling strecken konnte
wie ein Gummiband, so dass er bis zur nächsten Woche reichte, und
auf diese Weise hatte sie über die Jahre ein schönes Sümmchen
beiseitegelegt. Jetzt war noch das Geld von seiner
Lebensversicherung dazugekommen, und so stand sie ganz anständig
da. Als Eamonn Docherty ihr begegnete, hatte er es ihr mit seinem
geschmeidigen irischen Ton und seiner beeindruckenden Erscheinung
sofort angetan. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Junie verliebt,
und man sah es ihr an.
Eamonn lag im reizvoll duftenden Bett der Frau,
freute sich am Aroma des Truthahns, der unten in der Küche garte,
und genoss es, sich den Bauch vollgeschlagen zu haben mit Eiern und
Speck, die sie ihm vorher gemacht hatte. Zu Eamonns Gefallen roch
es im ganzen Haus nach Möbelpolitur. Er und sein Junge würden hier
bestens aufgehoben sein. Junie war Irin von Geburt und verstand
daher, dass ein richtiger Mann auch mal einen richtigen Drink
brauchte. Solange er am Hafen arbeitete und dadurch zumindest für
sich selbst aufkam, würde er hier leben wie ein Fürst. Er war
sechsundfünfzig, und der Gedanke, seinen Lebensabend zusammen mit
Madge zu verbringen, war ihm ein Graus. Er würde ein neues Kapitel
beginnen, den kleinen Spatz da unten in der Küche heiraten und sich
auf das Alter freuen, in dem es die schöneren Dinge des Lebens zu
genießen galt. Gut zu essen und zu trinken und ab und zu auch mal
die anderen leiblichen Freuden. Was konnte sich ein Mann Besseres
wünschen?
Er stieg aus dem Bett und zog die Hosen an. Er warf
einen Blick zum Fenster und erstarrte. Durch die sauberen Gardinen
sah er Madge die Straße hinaufschwanken, Betty und Cathy im
Schlepptau. Er ließ sich auf die Bettkante sinken, vergrub den Kopf
in den Händen und sagte: »Scheiße!« Wieder und wieder.
Junie öffnete lächelnd die Vordertür. Sie hatte
diese Besucher bereits seit geraumer Weile erwartet und war ebenso
beklommen
wie freudig erregt, dass der Augenblick jetzt endlich gekommen
war.
»Kann ich Ihnen helfen, meine Gute?« Ihre sanfte
Stimme mit dem Cork-Akzent klang höflich, war aber im Unterton
stahlhart.
»Meinen Mann will ich, und zwar auf der Stelle!«
Madge sprach laut, leicht lallend und aufgekratzt.
Junie lächelte wieder. »Ihren Ehemann suchen Sie?
Ich wusste gar nicht, dass Sie einen besitzen.« Sie legte einen
Finger an die Lippen, als müsse sie nachdenken, und sagte: »Oder
geht es vielleicht um Ihren Untermieter? Mister Docherty?«
Cathy frohlockte, als ihre Mutter sich auf das
eingebildete Weibsstück stürzte. Sie und Betty schauten dem
Handgemenge eiskalt und stumm zu, bis Madge die Oberhand gewonnen
hatte, rittlings auf der anderen Frau hockte und deren Kopf aufs
Pflaster schlug.
»Wo ist der irische Mistkerl? Bevor ich ihn dir
lasse, bring ich ihn um!«
In diesem Augenblick erschien der besagte Mann auf
der Türschwelle und hob Madge gleich darauf mit spielerischer
Leichtigkeit von der kleinen Irin.
»Beruhige dich, Frau. Du machst dich doch für die
ganze Straße zum Gespött. Schämst du dich denn nicht?«
Cathy zerrte ihre Mutter aus seinen Armen. »Nach
all den Jahren am Hafen wird sie sich doch wohl kaum mehr schämen
können, oder was denkst du? Lass mich dir eins sagen, Eamonn
Docherty - du bist ein mieser Dreckskerl, dass du ihr so was
antust! Und was die da angeht …« Sie stieß Junie gegen die
Brust. »Wenn du die wirklich willst, wünsch ich dir alles Gute,
aber sie hat schon ihren Alten ins Grab gebracht, und hoffentlich
macht sie das auch mit dir. Meine Mutter hat was Besseres verdient
als dich, du versoffener irischer Schmarotzer.«
»Ich hätte es nicht besser sagen können«, tönte
Betty lautstark dazwischen. Sie genoss es, Blacklocks Nachbarn
dieses
Schauspiel zu bieten. »Und wenn ich du wär, Lady, würde ich mich
schnellstens beim Syphdoktor melden. Dem Docherty hat der harte
Schanker schon das Hirn zerfressen.«
Madge weinte noch immer hemmungslos. Sie befreite
sich aus den Armen ihrer Tochter und flehte Eamonn an: »Bitte komm
heim, Lieber. Wir kriegen alles geregelt, das verspreche ich dir.
Aber komm bitte nach Hause, Eamonn, bitte komm zurück.«
Der große Mann sah sie verächtlich an und zischte:
»Geh du heim, Frau. Sieh dich doch mal an! Welcher Mann würde dich
schon wollen? Eine alte Nutte bist du - siehst aus wie eine und
stinkst wie eine. Du ekelst mich an. Verschwinde hier, bevor ich
dir in den Arsch trete.«
Als er wieder ins Haus ging, den Arm um die
Schulter der schluchzenden Frau gelegt, folgte Cathy ihnen. Im
sauberen und ordentlich aufgeräumten Vorderzimmer sah sie sich
einen Moment lang staunend um. Durch eine Türöffnung konnte sie
einen polierten Holztisch sehen, der für zwei Personen gedeckt war,
mit einem Stechpalmenzweig in der Mitte und richtigen
Stoffservietten neben den Tellern. Alles war poliert oder
gescheuert, und sogar die Wärme war irgendwie sauber, anders als
der stickige süßliche Mief bei ihr zu Hause. Es war ein Zimmer, wie
man es sich wünschte, ein Zimmer, über das sie liebend gern als
Frau des Hauses geboten hätte, wie sie sich eingestehen musste.
Augenblicklich verging ihre Wut. Wer wollte Eamonn einen Vorwurf
machen, wenn er das hier annahm, auf dem Tablett serviert? Nicht
mal zur Miete würde er etwas beisteuern müssen. Er war ein Mann,
der Frauen ausnutzte, der sich aushalten ließ. Junie hatte mehr zu
bieten als ihre Mutter. Da dürfte die Wahl nicht
schwerfallen.
»Eamonn wird deine Anziehsachen bringen,
okay?«
Der große Mann hielt Junie in den Armen und
schüttelte bekümmert den Kopf. »Tut mir leid, was ich gesagt habe,
aber du bist ein Kind mit Verstand. Du siehst, wie es ist.«
Cathy grinste gehässig. »Stimmt, ich sehe, wie es
ist. Du setzt
dich hier ins gemachte Nest. Ich würde dir jedoch nicht raten,
auch die hier nach Strich und Faden zu verprügeln, wie du es so
gerne mit meiner Mutter getan hast. Weißt du, was ich bei der
ganzen Sache nicht verstehe?« Sie sah der kleinen Frau ins Gesicht.
»Ich kapier nicht, was Sie an ihm finden. Meine Mom ist bestimmt
nicht die Frau des Jahres, das seh ich ein, aber ich hab immer
gedacht, dass sogar sie zu gut war für ihn. Er ist nichts als
irischer Abschaum, Lady. Aber nun, das sind Sie ja wohl auch, nehm
ich an.«
Sie ging hinaus auf den Flur. Und dann: »Oh, bevor
ich’s vergesse, Sie sollten noch für einen mehr decken, denn sein
Sohn wird schon bald hier auftauchen. Meine Mom hat jetzt bestimmt
kein Zimmer mehr frei für ihn.«
Draußen sah sie ihre Mutter zusammengesunken in
Bettys Armen und spürte, dass sich stechende Kopfschmerzen
meldeten. Als sie den gepflegten Weg zum Tor hinuntergingen,
bemerkte Cathy die Nachbarn, die neugierig auf ihren Eingangsstufen
standen. Spontan bückte sie sich, hob einen Stein auf und warf ihn
mit voller Wucht durch die Scheibe im Vorderfenster des schmucken
kleinen Hauses.
»Genug gesehen, ja? Wollt ihr vielleicht noch ein
verschissenes Foto?«, rief sie den Zaungästen zu.
Betty konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Du
bist nach meinem Geschmack, Cathy Connor. Da gibt’s kein
Vertun.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Na ja, dieses
Weihnachtsfest ist im Arsch. Ein weiterer fröhlicher Tag im Leben
der Connors. Hier, reich mir deinen Arm, und ich helfe dir, sie
nach Hause zu schleifen.«
So aufrecht wie möglich gingen sie ihren Weg, doch
was sie an Würde aufzubieten hatten, war nicht viel, wie sie sich
insgeheim auch eingestanden.
Eamonn Junior war fort, und Madge schlief im Bett
den Rausch aus, den sie sich nach der Rückkehr mit einer Flasche
Scotch angetrunken
hatte. Cathy räumte ein wenig auf, und als sie merkte, wie hungrig
sie war, öffnete sie den Backofen.
Vom Huhn waren nur noch die Knochen übrig. Eamonn
hatte ganze Arbeit geleistet. Sie vergrub das Gesicht in den Händen
und weinte bitterlich.
Als sie den Blick in der winzigen und beengten
Küche schweifen ließ, die feuchten Wände und das verblichene
Linoleum auf dem Fußboden betrachtete, da sah Cathy Connor den Rest
ihres Lebens vor sich.
Sie rief sich noch einmal das schmucke Häuschen mit
den sauberen Gardinen vor Augen, die polierten Möbel und die frisch
tapezierten Wände. Eamonn würde dort in seinem Element sein,
nachdem er jahrelang unter einem Stapel Mäntel hatte schlafen
müssen und gewiss gelitten hatte unter der schludrigen Art, wie sie
das Haus zu putzen pflegte, und unter der Wolke von billigem
Parfüm, die ihre Mutter verteilte. Der Junge würde meinen, er sei
gestorben und zum Himmel gefahren.
Sie gab es nur höchst ungern zu, aber Cathy
beneidete ihn.
Junie hatte den schlimmsten Schock überstanden.
Ein paar Sherrys später trug sie das Festessen auf und konnte gar
nicht aufhören, davon zu plappern, wie großartig doch alles werden
würde. Madge würde jetzt zur Einsicht kommen, und sie könnten von
nun an in Frieden leben.
Dem jungen Eamonn fielen beinahe die Augen aus dem
Kopf, als Truthahn, Füllung, Karotten, Kohl und geröstete
Kartoffeln auf seinen Teller gehäuft wurden. Er sah seinen Vater
lächeln und lächelte selig zurück. Nachdem er das Truthahnmahl
verschlungen hatte, erlebte er staunend, dass Junie mit geschickten
Händen zu guter Letzt auch noch ein riesiges Sherry-Trifle auftrug.
Mit einem Dankgebet dafür, dass er endlich richtig gelandet war,
hatte er zwei Portionen des Biskuitdesserts verputzt, bevor sein
Vater sich geschlagen gab und mit Junie auf ein »Ruhepäuschen« nach
oben verschwand.
Nachdem er den nagelneuen Fernsehapparat
eingeschaltet hatte, setzte sich der Junge und lachte über Tony
Hancock. Er knackte Nüsse und trank ein Bier, als Junie im
Morgenmantel herunterkam.
Sie nahm ihm die Kristallglasschale vom Schoß und
stellte sie zurück auf die Anrichte. Mit verbiestertem Gesicht
schob sie ein Zierdeckchen unter das Glas, aus dem er sein Bier
trank, und sah ihn streng an.
»Mach dir von vornherein eines klar, junger Mann.
Du bist hier nur geduldet, weil dein Vater hier ist. Du bekommst
von mir zu essen und zu trinken, und wir werden uns benehmen wie
zivilisierte Menschen. Doch du rührst in diesem Haus nichts an ohne
meine ausdrückliche Erlaubnis. Hast du mich verstanden?«
Eamonn Junior blickte in ihre kalten grauen Augen
und nickte.
»Und jetzt komm hoch und nimm ein Bad. Du riechst
nämlich nach den Slums, Junge. In Zukunft wirst du zweimal die
Woche baden und deine Stiefel stets vor der Eingangstür lassen. Und
wenn dir das nicht gefällt … nun, du weißt ja, was du dann machen
kannst, oder? Dein Vater hat heute alle Brücken abgebrochen. Wenn
ich euch beiden den Abmarschbefehl gebe, was bleibt euch wohl? Denk
mal drüber nach.«
Im blitzblanken Badezimmer dachte Eamonn an
Sandwiches mit Würstchen, an die Zuwendung, die manchmal so
unverhofft von Madge kam, und ihm wurde klar, dass er vorher besser
dran gewesen war. Sein Dad hatte es gut getroffen, aber er selbst,
was hatte er denn davon? Die alte Wachtel mochte ihn nicht, und er
mochte sie genauso wenig.
Eamonn hörte das dröhnende Lachen seines Vaters von
unten. Es schauderte ihn. Schon jetzt hatte er Sehnsucht nach der
alten Wohnung. Mochte dieses Haus auch noch so schön sein,
willkommen würde er hier niemals sein. Hatte Junie ihm nicht ganz
klar gesagt, dass er nur geduldet wäre?
Als er nach unten kam, war sie die Freundlichkeit
in Person, machte ihnen Sandwiches mit Truthahn und gesüßten Tee.
Als sie schließlich in die Küche ging, um abzuwaschen, sah Eamonn
Senior seinen Sohn an und sagte mit gewissem Stolz: »Die werd ich
wohl heiraten, Sohn.«
Der Junge lachte leise. »Du machst Witze,
Dad!«
Sein Vater runzelte die Stirn. »Wieso sollte ich
Witze machen? Bist du blind oder was? Mein Gott, sieh dich doch um.
Hier sind wir bestens aufgehoben. Oder nicht, Blödian?«
Der Junge schüttelte den Kopf und seufzte. »Und du
hast die arme alte Madge eine Hure geschimpft! Du bist doch nicht
besser. Von ihr hast du dich aushalten lassen, und jetzt willst du
dich von der hier aushalten lassen.«
Die Miene seines Vaters verfinsterte sich, und
Eamonn ahnte, dass er sich vorsehen musste. Noch benahm sich sein
Vater tadellos, aber wenn es ihn überkam, würde er den Jungen
windelweich prügeln.
»Du bist doch auch nicht besser als ich. Du
wolltest doch schon immer höher hinaus, und so wird es auch
bleiben. Gleich als Erstes morgen früh würde ich dich für die
kleine Cathy eintauschen, weil die mehr Mumm hat, als du je
aufbringen wirst. Madge kann nichts passieren, weil sie Cathy hat,
die sich um sie kümmert. Ich wünschte nur, ich wäre mit solch einem
Kind gesegnet, denn wenn ich auf dem Sterbebett läge, würdest du
erst überlegen, was für dich dabei rausspringt, bevor du mir zu
Hilfe kämest!«
Eamonn Junior sah seinem Vater ins Gesicht. »Na ja,
ich hatte einen guten Lehrer, stimmt’s?«
Der große Mann war nicht beleidigt. Er nickte
ernst. »Ja, Sohn, das hattest du. Wenn ich dir auch sonst nichts
mitgegeben habe, den scharfen Grips im Kopf hast du von mir.«
Junie kam wieder ins Zimmer gewuselt,
freudestrahlend und voller Genugtuung, dass sie im Sessel ihres
verstorbenen Mannes jetzt dieses irische Prachtexemplar sitzen
hatte. Sie lächelte
ihm zu, setzte sich in ihren Sessel und begann zu nähen.
Stillvergnügt summte sie vor sich hin.
Eamonn sah zu, wie sein Vater ein Bier nach dem
anderen in sich hineinschüttete und ein Sandwich nach dem anderen
vertilgte. Er sah sich im Zimmer um und taxierte Stück für Stück.
Eines Tages, wenn er älter war, würde er das Haus hier leerräumen,
so dass den beiden nichts mehr blieb.
Diese Vorstellung genoss er umso mehr, als er sah,
wie sein Vater der kleinen dunkelhaarigen Witwe mit dem sanften
irischen Akzent und dem harten Herzen schmachtende Blicke
zuwarf.
Als er später zwischen den frisch gestärkten weißen
Laken eines richtigen Bettes lag, beschloss er, am nächsten Tag bei
Madge vorbeizuschauen. Er würde hier essen und schlafen, aber nicht
auf die Zuwendung verzichten, die er von Madge und Cathy bekam. In
diesem Haus hatte er davon nichts zu erwarten, und die alte Hexe
würde ihn hochkant vor die Tür setzen, sobald sie die geringste
Chance dazu sah.
Aber er würde dem Pärchen mit gleicher Münze
zurückzahlen und den richtigen Augenblick abwarten. Nicht umsonst
war er der Sohn von Eamonn Docherty. Wie er zu seinem Vater gesagt
hatte: Er war ihm ein sehr guter Lehrer gewesen.
Um ihre Freundin aufzuheitern, hatte Betty zwei
Männer unbestimmten Alters und unbestimmten Berufs aufgetrieben.
Beide trugen Sockenhalter und bunte Hosenträger, hatten schütteres
Haar und vom Staat bezahlte Zahnprothesen im Mund. Ihre Namen waren
Charlie und Bill. Charlie war anscheinend Stammfreier von Betty und
meinte deswegen, das Sagen zu haben. Als er das Glas ihrer Mutter
nachfüllte, zwinkerte er Cathy gönnerhaft zu.
»Na, was hast du denn zu Weihnachten bekommen,
Kleines?«
Cathy sah ihm in die kalten Augen und sagte
gleichmütig: »Was ich jedes Jahr kriege. Nicht die Bohne.«
Charlie grinste und bedachte sie nochmal mit seinem
übertriebenen Augenzwinkern. Er packte sich vorn an die Hosen und
posaunte lauthals: »Ich hätte hier was für dich, wenn du meinst, du
kannst was damit anfangen.«
Cathy verdrehte die Augen. »Lass den mal schön
drinnen, Jüngelchen. Ich brauch Belohnung, keine Strafe.«
Madge und Betty prusteten vor Lachen.
Bill, dem aufging, was das Mädchen gesagt hatte,
mischte sich ein: »Die Göre ist ganz schön vorlaut, oder?«
»Lasst sie zufrieden, ihr beide. Sie ist erst
zwölf.«
»Ganz schön groß für zwölf, wenn ihr mich
fragt.«
Betty wandte sich dem Mann neben ihr zu und fuhr
ihn an: »Nun, es hat dich keiner gefragt, oder? Also lass sie
gefälligst in Frieden.«
Aber in ihrer Stimme schwang Eifersucht mit.
Deswegen stand Cathy auf und ging hinaus. Sie zog eine Kommode vor
die Tür und machte sich daran, ihr Schlafzimmer aufzuräumen. Im
Hintergrund hörte sie Radiomusik und Gelächter. Sie seufzte tief.
Ein neuer Mann, und ihre Mutter war gleich wieder die alte Madge.
Morgen würde sie weinen und mit Selbstmord drohen, aber im
Augenblick war alles bestens.
Als sie zum Fenster hinaussah, erblickte sie all
die Weihnachtsbäume der Nachbarn und den warmen Schein der vielen
bunten Lichter, und sie fragte sich, wie es wohl sein mochte, in
einem ganz normalen Haushalt zu leben, mit einer normalen Mutter
und einem normalen Vater und einem normalen Leben.
Sie schloss die Augen und kämpfte gegen die Tränen.
Eamonn fehlte ihr ganz furchtbar. Die letzten sieben
Weihnachtsfeste waren sie zusammen gewesen, zu zweit gegen den Rest
der Welt - oder zumindest gegen ihre Eltern. Sie konnte mit allem
klarkommen, wenn er an ihrer Seite war. Jetzt hatte man sie
getrennt, und sie war nicht sicher, ob sie durchhalten würde. Er
war ihr Verbündeter, ihr Bruder, ihr Freund. Eamonn war ihr Ein und
Alles.
Sie hörte im Vorderzimmer ein Glas zerbrechen und
einen Mann fluchen. Dann wieder lautes Lachen. So würde von jetzt
an ihr Leben sein - sie musste es hinnehmen oder den Verstand
verlieren.
Es würde wieder so übel sein wie früher: die
ständig wechselnden Männer, die prekären Finanzen und die
Scheinschwangerschaften, mit denen sich ihre Mutter alle paar
Monate plagte. Sie würde Madge anbetteln müssen, um Lebensmittel zu
kaufen und die Wohnung zu heizen. Sie würde sich wieder das Stöhnen
und Schnarchen von Männern anhören müssen, die sie nie wiedersehen
musste, wenn Gott ihr gnädig war. Sie würde ein knarrendes Bett und
Zank hören oder ein knarrendes Bett und Gelächter.
Sie schaute sich in dem Zimmer um, das bald ihr
nächtliches Gefängnis sein würde, und seufzte betrübt. Zusammen mit
ihrer Mutter, dieser verrückten Alkoholikerin, hier zu wohnen, war
schlimm genug, aber damit würde sie klarkommen. Doch ohne Eamonn zu
sein, war unvorstellbar.
Von jetzt an würde sie ohne Liebe leben
müssen.
Der Liebe, die er ihr geschenkt hatte, war zu
verdanken, dass sie so lange durchgehalten hatte. Die Liebe ihrer
Mutter zählte in diesem Zusammenhang nicht, denn sie war
wechselhaft und höchstens dann spürbar, wenn kein Mann auf der
Bildfläche war. Bettys kleinliche Eifersucht hatte Cathy hellhörig
gemacht, aber insgeheim wusste sie bereits, dass sie jetzt vor der
Entscheidung stand. In ein, zwei Jahren würde nichts näherliegen,
als den Weg ihrer Mutter und Bettys zu gehen, aber sie war
entschlossen, das niemals geschehen zu lassen. Nicht in tausend
Jahren. Ihr Leben würde anders verlaufen. Das stand fest.
Schließlich schlief sie ein, Bilder von Eamonn vor
Augen, von einem winzigen Reihenhaus voller glänzender Möbel und
von sich, im Bauch kleine Arme und Beine, darauf wartend, dass ihr
siegreicher Held heimkehrte.
Im Schlaf lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und
ihre Augenlider
zitterten, als sie vom guten Leben träumte, ihrem anderen Leben.
Dem Leben, von dem sie wusste, dass es auf sie wartete.
Eines Tages würde alles wahr werden. Daran musste
sie glauben. Denn bis auf ihre Träume besaß Cathy Connor nichts,
und niemandem war das schmerzhafter bewusst als ihr selbst.