Kapitel siebenunddreißig
Achtundvierzig Stunden waren seit dem Tod der
jungen Frau verstrichen, und Tommy hatte immer noch kein Wort
gesprochen. Er saß nur auf einem Stuhl in der Wohnung in Manhattan
und starrte ins Leere. Eamonn hatte versucht, mit ihm zu reden, ihm
eine Tasse Tee einzuflößen und ihm zu essen zu geben.
Vergeblich.
Er wusste, dass Tommy unter Schock stand, hatte
aber keine Ahnung, was er tun sollte. Jack und Petey hatten ihm
nahegelegt, einen aufgeschlossenen Arzt zu kontaktieren, der ihn
behandelte und darüber Stillschweigen bewahrte. Eamonn hatte sehr
schnell die richtige Adresse aufgetan, und bald kamen drei speziell
ausgebildete Pfleger in einem unauffälligen Krankenwagen
vorgefahren, um Tommy abzuholen. Eamonn blieb jetzt nur noch eins
zu tun.
Er wählte Cathys Nummer und sprach zum ersten Mal
seit Jahren ein Gebet. Er war nicht sicher, ob er darin um
Vergebung nachsuchte oder Gott bat, ihm endlich seine Cathy
zurückzubringen.
Als Cathy auf dem JFK den Zoll passiert hatte,
wurde sie bereits von Eamonn erwartet. Am liebsten hätte er sie
geküsst, aber ein Blick in ihr abweisendes blasses Gesicht verriet
ihm, dass das keine gute Idee war. Er musste sich damit
zufriedengeben, ihr die Hand zu drücken und ihr sachte den Arm um
die Schultern zu legen, als er sie zur wartenden Stretchlimousine
dirigierte.
Auf der Fahrt in die Stadt sah sie teilnahmslos aus
dem Fenster.
Eamonn betrachtete sie fasziniert. Nach zwölf Jahren sah sie immer
noch aus wie das Mädchen, das er in England zurückgelassen hatte,
und nicht wie eine erwachsene Frau und Mutter einer heranwachsenden
Tochter. Er hätte es für möglich gehalten, auf eine kreischende
Furie zu treffen, die zu wissen verlangte, was ihrem Ehemann
zugestoßen war. Er hätte es besser wissen müssen. Cathy verhielt
sich eiskalt. Und wie sollte er also dieser abweisenden und
unversöhnlichen Fremden die Wahrheit über ihren Ehemann
eröffnen?
»Verdammt, Eamonn«, herrschte sie ihn an, als hätte
sie seine Gedanken gelesen, »du hast mich über den Atlantik
herzitiert. Ich kann nur hoffen, dass es mehr ist als eine
Scheißlaune von dir! Ist Tommy okay oder was? Würdest du mich bitte
aufklären.«
Sie erkannte die Unsicherheit in seinem Blick und
beobachtete, wie er nervös an seinen Manschetten zupfte. Ihr
Fluchen, ihre Kälte und ihre Verachtung hatten ihm die Fassung
geraubt.
Sie lachte spöttisch. »Ist die IRA hinter ihm her?
Ja, ich weiß, dass er in deren Kasse gegriffen hat. Er hat es mir
nämlich erzählt. Mein Mann ist ein Spieler, ein ganz schlimmer. Er
hat Schulden bei aller Welt. Verbringt die Nächte mit Edelnutten,
die er zuvor ins Casino ausgeführt hat. O ja, mein Tommy, der mich
so liebt und seine Tochter, ist der Spielsucht verfallen. Das war
schon vor Jahren so, aber damals hatte er sie unter Kontrolle. Was
ist also los? Ich hab nicht viel Zeit - ich muss nach England
zurück und mein Leben neu ordnen.«
Ihr bitterer Unterton lockte ihn aus der Reserve.
Mit wenigen Worten hatte sie ihre Lebenssituation preisgegeben, und
er wollte sie beschützen, wollte sich ihrer annehmen - obwohl sie
wahrscheinlich lieber von einer Giftschlange gebissen worden
wäre.
Kurz und knapp schilderte er ihr, was geschehen
war.
Fast unmerklich verzog sie das Gesicht, zeigte aber
keine Gefühlsregung. Sie starrte wieder nur aus dem Wagenfenster.
Er gab ihr Feuer.
»An uns klebt der Tod, oder?« Sie schüttelte
traurig den Kopf. »Ich habe getötet, und du weißt, warum. Davon ist
mein Leben immer noch überschattet. Was mir als Kind geschehen ist,
hat mich veranlasst, bei Tommy zu bleiben. Ich habe ihn geheiratet,
um dir zu entkommen, und dann musste ich erfahren, dass er genau
wie du in todbringende Geschäfte verstrickt war. Alle Menschen, die
ich je geliebt habe, hatten mit dem Tod zu tun. Kaum dass ich
eingeschlafen bin«, flüsterte sie, »träume ich schon von Ron und
dem vielen Blut. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Was für ein
Mensch er auch gewesen sein mag, auf diese Weise zu sterben hatte
er nicht verdient. Und die arme alte Madge war ihr Leben lang auf
der Verliererstraße. Ihr musste so etwas passieren. Aber wie hätte
ich das als Kind wissen sollen? Trotz Schmutz und Elend hab ich
meine Mom geliebt. Ich hab sie wirklich geliebt. Jetzt liebe ich
meine Tochter, und sie weiß es. Jeden Tag sage ich es ihr.«
So verbittert und einsam hörte sie sich an, dass
ihn tiefes Mitleid überkam.
»Ich muss auf sie achtgeben, verstehst du? Ich darf
nicht riskieren, dass sie irgendwann so wird wie wir, wie du und
ich und Tommy … der arme Tommy, der doch eigentlich nur glücklich
sein möchte. Kitty kann ihn nicht ausstehen, und er ist Luft für
sie, weil sie weiß, wie schwach er ist. Geliebt habe ich Tommy nie,
aber ich bin bei ihm geblieben. Es war einfacher, Mrs. Pasquale zu
sein und alle Annehmlichkeiten zu genießen, die dieser Status mit
sich brachte, als mir ein eigenes Leben aufzubauen. Außerdem bin
ich gänzlich unfähig, einen Mann zu lieben. Du warst der einzige,
den ich vielleicht hätte lieben können …«
Eamonn war perplex. Diese Worte hatte er am
allerwenigsten erwartet. Aber sie klangen wie Musik in seinen
Ohren.
»Wo ist Kitty?«, fragte er. »Wer kümmert sich um
sie?«
Cathy drückte ihre Zigarette aus und steckte sich
sofort eine neue an. »Sie ist im Internat, und Desrae nimmt sie zu
sich,
wenn ich während ihrer Ferienzeit hierbleiben müsste. Also, Tommy
… ist er in diesem Sanatorium gut aufgehoben?«
Eamonn war froh, über etwas Konkretes sprechen zu
können. »Ein besseres Sanatorium gibt es nicht. Es ist privat und
liegt außerhalb. Mit den Ärzten kann man reden …«
Sie unterbrach ihn. »Du meinst, gegen angemessene
Bezahlung vergessen sie, was der Patient getan hat.« Sie sah ihn
herausfordernd an. »Werden sie ihn auch nach Hause
entlassen?«
Eamonn schüttelte den Kopf. »Er braucht besondere
Betreuung. Sie sagen, er hat einen Zusammenbruch erlitten. Der Arzt
meint, es hat sich im Laufe der Jahre aufgestaut, und der Vorfall
im Club brachte alles zum Ausbruch.«
Cathy lächelte kühl. »Wann immer eine Bombe
hochgeht, sehe ich ihn vorwurfsvoll an und kann ihn nicht in meiner
Nähe ertragen. Er kann das Morden auch nicht mehr ertragen, aber
aus der Sache kommt er nicht mehr raus. So hat er es mir jedenfalls
schon vor Jahren erklärt.« Sie lehnte sich vor, so dass er durch
den dünnen Stoff ihrer Bluse die Rundung ihrer Brüste sehen
konnte.
»Bei all dem Reichtum seid ihr nicht mehr eure
eigenen Herren und werdet es auch nie wieder sein. Aber ihr wollt
das nicht einsehen. Ich hab dich vor vielen Jahren gefragt, ob du
überhaupt noch schlafen konntest. Du kannst es vielleicht, aber
Tommy konnte es nicht und ich auch nicht. Fast beneide ich ihn.
Wenigstens ist er auf diese Weise alledem entronnen. Nicht einmal
die IRA wird sich mit einem manischen Irren abgeben wollen,
oder?«
Danach redeten sie kaum noch. In einem hatte sie
Recht - Eamonn war nicht mehr sein eigener Herr. Aber was Tommy
betraf, irrte sie sich. Er war alledem nicht entronnen. Noch
nicht.
Nur mit seinem Seidenpyjama bekleidet, saß Tommy
in dem luxuriösen Zimmer und starrte ins Leere. Cathy hatte sich zu
ihm gesetzt und sah ihm in die Augen. Wo immer er sein mochte - er
war weit entfernt von diesem Krankenhaus und dem Leben, das er in
der Vergangenheit geführt hatte. So viel erkannte sie sehr
schnell.
Sie seufzte. »Wie viel kostet das alles
hier?«
Eamonn beruhigte sie eilfertig. »Ich übernehme das.
Mach dir keine Sorgen.«
Ihr Blick war mitleidlos kalt, als sie antwortete:
»Ich hatte nicht die Absicht zu bezahlen. Ich frage mich nur, wie
viel es kostet, wenn man der Verantwortung für einen Mord in einem
diskreten Privatversteck entgehen möchte. Nein, mach nur, spiel den
guten Samariter, die Rolle passt zu dir. Du hast all das
verursacht, und jetzt darfst du es auf diese Weise wieder ins Lot
bringen. Eine verdrehte Moral.«
Sie stand auf. »Ich möchte in ein Hotel gebracht
werden, wenn du nichts dagegen hast.« Sie war so distanziert, dass
sie ihm vorkam wie eine Fremde. Wie jemand, den er nie wirklich
gekannt hatte.
»Ich habe ein Apartment, in dem du wohnen kannst,
solange du hier bist«, schlug er vor.
Sie nickte. »Schön. Solange du nicht meinst, kommen
und gehen zu dürfen, wie es dir gefällt.«
Er biss sich auf die Lippe, um nicht zu antworten.
»Ich bring dich hin. Möchtest du noch mit dem Arzt sprechen, bevor
wir fahren?«
»Wozu? Du hast mir alles erzählt, was ich wissen
muss.«
Cathy saß in Eamonns Apartment, nippte an einem
Napoleon Cognac und sah durch die gläserne Wand hinunter auf das
Lichtermeer Manhattans. Der atemberaubende Anblick ließ sie für
eine Weile allen Kummer und alle Sorgen vergessen. Sie war von der
Luxuswohnung beeindruckt, wusste aber auch, dass Eamonn genau das
bezweckt hatte. Er wollte sie wissen lassen, wie gut es ihm ging,
wie reich er war. Sie lehnte sich zurück und blickte weiter hinaus.
Doch sie hatte nur noch Eamonn vor Augen.
Jedes Mal, wenn sie ihre Tochter betrachtete, ging
es ihr ähnlich: Sie hatte Eamonn vor Augen. Er war Kittys Vater,
und Tommy hatte das nie herausbekommen. In all den Jahren war Cathy
nie wieder schwanger geworden. Manchmal hatte sie sich allein
deswegen sehnlichst ein Kind gewünscht, um ihrem Ehemann dieses
Geschenk zu machen. Sie hatten oft miteinander geschlafen, aber
Tommy hatte immer gewusst, dass sie eigentlich keinen Sex mit ihm
wollte und sogar seine Berührungen nur widerwillig hinnahm.
Cathy unterdrückte die Tränen und schenkte sich
noch einen Cognac ein. Sie musste sich heute Abend betäuben, denn
wenn sie es nicht tat, würde sie Eamonn anrufen und ihn bitten zu
kommen, weil sie so einsam war. Aller Verbitterung zum Trotz würde
sie ohne Umschweife mit ihm ins Bett gehen, weil sie ihn begehrte,
wie sie ihn immer begehrt hatte. Schließlich war er gleichsam ein
Teil von ihr, sozusagen ihr zweites Selbst.
Sie hatte ihn ihr Leben lang geliebt und liebte ihn
immer noch. Aber sie durfte es ihn niemals wissen lassen, weil er
sie sonst ausnutzen würde. Er würde gar nicht anders können. Es lag
in seiner Natur.
Eamonn saß in einer Bar in der Nähe des Madison
Square Garden und unterhielt sich mit Igor Trawenowitsch. Der
Tschetschene war fünf Jahre zuvor nach Amerika geflüchtet und hatte
es inzwischen zum Oberhaupt einer russischen Familie gebracht, die
den Mahoneys vergleichbar war.
Die beiden Männer kamen gut miteinander aus. Sie
bedienten sich verschiedener Vorgehensweisen und waren auf
unterschiedlichen Spezialgebieten versiert, doch mehr als alles
andere waren sie an gewinnträchtigen Geschäften interessiert. Diese
Ähnlichkeiten machten aus zwei Egoisten gute Freunde.
Nachdem sie den Ablauf einer anstehenden
Transaktion haarklein durchgesprochen hatten, fragte Igor eher
beiläufig:
»Stimmt es, was man hört? Der Mann aus London soll sich was
ziemlich Übles geleistet haben?«
Eamonn lächelte. »Igor, ich erfülle meinen Teil
unserer Abmachung, und du solltest nicht so tief sinken, auf
solchen Tratsch zu hören. Der Mann hat Probleme, wie jeder von Zeit
zu Zeit mal welche hat. Aber wir haben alles im Griff und geregelt.
Deine Ware wird rechtzeitig ankommen. Ich kümmere mich um die Sache
mit Tommy, und wir wechseln jetzt das Thema. Okay?«
Igor verstummte und widmete sich seinem Steak.
Eamonn schnippte mit den Fingern nach der Rechnung, obwohl sie noch
gar nicht zu Ende gegessen hatten. Zehn Minuten später verließen
sie das Restaurant.
Igor verabschiedete sich mit Handschlag, bevor er
ein Taxi bestieg. Eamonn ging noch ein wenig zu Fuß. Er war
ernüchtert und besorgt. Immerhin hatte Igor sich angemaßt, Zweifel
anzumelden, ob er Tommy im Griff hatte. Damit wurde die einhellige
Meinung offenbar, dass die Iren immer mehr an Einfluss verloren. Es
hatte im Laufe der letzten Jahre alarmierende Entwicklungen
gegeben. Die Russen gewannen an Boden und wurden zur neuen Mafia.
Sie ließen sich mit jedem ein und ließen ihn auch genauso schnell
ausgeblutet zurück, sobald sie abgesahnt hatten.
Tommys Fehler war ihnen nicht verborgen geblieben,
und das war schlecht. Tommy Pasquale war zur Belastung geworden,
und es war Eamonns Job, diese Belastung loszuwerden. Aber insgeheim
wusste er auch, dass es noch einen Grund gab, warum Tommy sterben
musste.
Eamonn wollte für sich, was Tommy geschenkt
bekommen, aber nie wirklich besessen hatte: Cathy.