Kapitel achtunddreißig
Cathy war auf dem Sofa eingeschlafen. Obwohl sie sich in einer fremden Stadt befand und eine befremdliche Mission zu erfüllen hatte, schlief sie friedlich und traumlos.
Versunken sah Eamonn sie an: ihre samtweiche Haut, ihre langen Wimpern, die im Licht des anbrechenden Morgens deutlich zu sehen waren, und ihre Brüste, die aus dem geöffneten Morgenmantel drängten. Er spürte seine zunehmende Erregung. Nie hatte er eine Frau mehr begehrt, nie hatte er mit solchem Verlangen auf eine Frau geschaut.
Die Arme hatte sie über dem Kopf verschränkt; sie lag da wie ein Kind, so wie sie als kleines Mädchen neben ihm im Bett geschlafen hatte, mit seinen kalten Füßen an ihrem Rücken.
Bei dem Gedanken musste er schmunzeln.
Er wusste, dass er nicht einfach so hätte hereinkommen dürfen, auch wenn es sein Apartment war. Sie besaß ein Anrecht auf ihre Privatsphäre und darauf, ungestört zu bleiben und sich in der Wohnung wie zu Hause zu fühlen. Aber er hatte sich trotzdem hineingeschlichen, um sie in Ruhe zu betrachten.
Begierig verschlang er ihren Körper mit seinen Blicken. Unter dem dünnen Stoff ihres Negligés konnte er ihr üppiges blondes Schamhaar erkennen.
Er legte die Hand über die Lippen. Ihm war zum Heulen zumute, zum Heulen darüber, dass sie beide ihr Leben so vergeudet hatten.
»Genieß es, Eamonn, so nahe wirst du mir nie wieder kommen.«
Ihre rauchige Stimme schreckte ihn auf. Cathy sah ihn an und lächelte zögernd. Dann setzte sie sich auf und zog ihren Morgenmantel zurecht. Als sie ihre Brüste bedeckte, spürte Eamonn eine tiefe Traurigkeit. Cathy war für ihn der Inbegriff von Sicherheit und Liebe. Seit ihrer gemeinsamen Kindheit war sie es, und das gehörte untrennbar zu der Anziehungskraft, die sie auf ihn hatte.
Er setzte sich zu ihr und sagte stockend: »Ich wollte dich nur ansehen. Dich so ansehen, wie ich es getan habe, als wir noch Kinder waren.«
Am liebsten hätte sie ihn an sich gezogen. Stattdessen seufzte sie leise.
»Wir sind aber keine Kinder mehr. Wir sind erwachsen und haben beide unser Leben vertan. Gut, ich habe meinen Club - er ist inzwischen einer der besten in London, das La Cage von Soho. Und ich habe Kitty. Ohne sie wüsste ich nicht, was ich all die Jahre hätte machen sollen.«
Sie verstummte, hing ganz den Gedanken an ihre Tochter nach. Eamonn betrachtete ihr Profil. Sie kam ihm noch immer vor wie das kleine Mädchen von damals. Sie war der einzige Mensch, den er je uneingeschränkt geliebt hatte.
»Ich liebe dich, Cathy. Ich habe dich immer geliebt, und ich werde dich immer lieben.«
Unwirsch wandte sie sich ihm zu. »Das ist nicht fair, Eamonn, und das weißt du.« In ihren Augen schimmerten unvergossene Tränen. Und jetzt wurde ihm klar, dass auch sie ihn immer noch liebte.
Er zog sie an sich, presste seinen Mund auf ihre Lippen und öffnete sie mit seiner drängenden Zunge. Er schmeckte nach Zigaretten und Grappa und roch nach seinem Rasierwasser.
Sie spürte seine Berührung brennend heiß durch den Stoff ihres Morgenmantels, spürte, wie die Hitze sich über ihren ganzen Körper ausbreitete, in ihre Brüste fuhr und zwischen ihre Beine.
Sie riss ihm die Kleidung vom Körper, zerrte an seinem Hemd, bis die Knöpfe flogen, und zog ihn über sich, stieß ihn zwischen ihre Beine und ließ ihn kosten und küssen. Sie wölbte ihm den Oberkörper entgegen, damit er ihre Brüste packen konnte, als er in sie eindrang. Als sie spürte, dass ihr Orgasmus nahte, drückte sie sein Gesicht an ihren Körper. Noch nie zuvor hatte sie so empfunden, und niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen Mann mehr begehrt. Gemeinsam erreichten sie einen nie gekannten Höhepunkt.
Nach Minuten schon war alles vorüber, aber keiner von beiden hatte Vergleichbares erlebt.
Sie sprachen nicht, denn es gab nichts zu sagen. Schließlich stand er auf, hob sie wie eine Puppe hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Als sie nebeneinander auf dem Bett lagen, kam es ihnen vor, als seien sie heimgekehrt. Tommy war vergessen, Deirdra war vergessen, selbst ihre Kinder waren vergessen, so sehr genügten sie einander.
Es kam ihnen wie Flitterwochen vor, eine Zeit für sie beide ganz allein. Doch sie wussten, dass sie diese Tage genießen mussten, solange sie dauerten. Sie waren zusammen, sie gehörten wieder zusammen, und keiner von beiden wollte über die Gegenwart hinaus denken.
 
Harvey O’Connor, ein Ire dritter Generation, trug Mokassins und über seinem Anzug einen weißen Kittel. Um den Hals hing ihm ein Stethoskop, und in der Brusttasche steckten diverse medizinische Utensilien.
Er betrachtete sich im Spiegel des Waschraums und zwinkerte sich anerkennend zu. Er sah unauffällig genug aus, um in jeder Menschenmenge unterzutauchen. Als er den Waschraum verließ, lächelte er zwei jungen Krankenschwestern zu, die nur beiläufig reagierten.
In der Tasche seines weißen Kittels hatte er eine bereits vorbereitete Spritze, und als er Tommys Zimmer betrat, lächelte er selbstsicher. Tommy stand noch immer unter Schock, starrte nur vor sich hin. Sein Frühstück stand unangetastet neben ihm.
Harvey zog die Spritze aus der Tasche. Sie enthielt eine Mischung aus Insulin und Cyanid. Niemanden kümmerte weiter, was er zu tun im Begriff war; der Totenschein war bereits vor Stunden ausgestellt worden. Es ging nur noch darum, die notwendigen Schritte zu vollziehen. Mit anderen Worten: die Spritze zu verabreichen und das Krankenhaus mit möglichst wenig Aufsehen zu verlassen.
Juanita, eine mexikanische Krankenschwester mittleren Alters, würde den Toten entdecken und die richtigen Leute alarmieren. Als Harvey die Nadel in Tommys Arm stieß, fiel ihm auf, wie kräftig und muskulös der Mann war, und er seufzte mitleidig. Es war eine Schande, aber es musste getan werden.
Diese Aktion brachte ihm zwanzig Riesen ein, und anders als sonst hatte er diesmal den Auftrag, mit bestimmten Leuten darüber zu sprechen.
Es sollte bekannt werden, dass ein Mord begangen worden war.
Trotz heftiger Gegenwehr gelang es Harvey, die Giftspritze im Arm seines Opfers zu versenken. Mit Genugtuung beobachtete er, dass sich Tommys Augen verschleierten und sein Leben schnell erlosch.
Der Mörder legte den Toten in Schlafhaltung aufs Bett, drückte ihm die Augen zu und zog ihm die Decke bis hinauf an den Hals.
Während er auf Juanita wartete, vertilgte er Tommys Frühstück und trank einen Schluck Krankenhauskaffee. Beides schmeckte scheußlich. Als die Frau pünktlich um Viertel nach neun kam, überließ er ihr das Feld und machte sich davon. Er hatte seinen Job bestens erledigt und durfte einen respektablen Stundenlohn einstreichen. Bis aufs Frühstück war nichts zu beanstanden.
Der Anruf erreichte Eamonn und Cathy um 10.35 Uhr, als sie gerade aus der Dusche kamen. Eamonn nahm das Gespräch an und setzte anschließend die gebührende Leichenbittermiene auf, als er Cathy die Nachricht überbrachte.
»Tommy hatte heute Morgen einen Herzinfarkt. Man konnte absolut nichts mehr tun. Schuld waren sein Drogenmissbrauch und seine Lebensweise.«
Wie betäubt hörte sie ihm zu. Während sie sich geliebt hatten, war ihr Ehemann, war der arme Tommy gestorben.
Eamonn erriet ihre Gedanken und sagte besänftigend: »Cathy, wir konnten es nicht wissen …«
Sie schüttelte den Kopf, aber ihre Bestürzung war nicht zu übersehen. Er trat zu ihr und zog sie in die Arme. Sie wollte sich befreien, aber er hielt sie noch fester umschlungen.
»Tu es nicht, Cathy, mach dir keine Vorwürfe und gräm dich auch nicht. Du konntest nicht ahnen, was geschehen würde, niemand konnte das.«
Sie verstand die Logik seiner Aussage, weigerte sich jedoch, sie zu akzeptieren. Sie gestattete ihm trotzdem die Umarmung. Plötzlich war ihr kalt, unendlich kalt.
Eamonn war klar, dass er sie ins Krankenhaus fahren musste, damit sie ihren toten Ehemann identifizierte. Er zog sich an und schlüpfte gerade in seine Schuhe, als er den Türsummer hörte. Im Flur standen plötzlich seine Frau und seine beiden jüngsten Kinder vor ihm.
Cathy erblasste.
»Guten Morgen«, sagte Deirdra aufgekratzt und streckte Cathy die Hand entgegen. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht?«
Cathy starrte Norah an, als sei sie ein Geist. Eamonn führte seine Frau und seine Kinder ins Wohnzimmer und sagte: »Darf ich vorstellen - Tommy Pasquales Ehefrau Cathy. Cathy, das ist meine Frau Deirdra.«
Seine Frau stand einfach da, würdevoll und boshaft zugleich.
»Tommy ist heute Morgen gestorben«, informierte er sie. »Ich wollte gerade mit Cathy ins Krankenhaus fahren, um die Formalitäten zu erledigen.«
»Gütiger Gott, das tut mir ja so leid.«
Cathy betrachtete die beiden Eheleute, die anscheinend mit der Zeit zu Kontrahenten geworden waren. Das war also Eamonns Frau, das war die Frau, die sie so viele Jahre lang beneidet hatte, diese pummelige, unglückliche Person mit dem wunderschönen Haar und der Kleidung, die ihr nicht stand. Sie sah nochmal fasziniert das kleine Mädchen an und sagte leise: »Ich werde mich dann auf den Weg machen. Vielen Dank für deine Hilfe. Ich komme jetzt gut allein zurecht. Ich weiß, dass Tommy es zu schätzen gewusst hätte, was du für mich getan hast. Er hat immer große Stücke auf dich gehalten.«
Deirdra war starr vor Entsetzen. Diese Frau hatte gerade ihren Ehemann verloren, und sie war hier aufgetaucht wie ein Racheengel.
»Ich bitte Sie, mein Mann wird Sie fahren und Ihnen bei allem behilflich sein«, sagte sie eilfertig. »Ich bin Tommy oft in meinem Haus begegnet. Er war ein guter Mann und hat immer wieder von Ihnen und Ihrer Tochter gesprochen.«
In ihrer Unwissenheit hatte Deirdra genau den wunden Punkt getroffen. Cathy zitterte am ganzen Körper. Sie sank aufs Sofa, weil ihre Knie nachgaben, und ließ den Tränen freien Lauf.
Einfühlsam legte Norah die Hand auf Cathys Arm. »Mami, soll ich der Dame ein Glas Wasser holen?«
Paul, der erst sieben war, reagierte verschüchtert und fing zu weinen an. Eamonn nahm ihn auf den Arm, um ihn zu trösten. Dann strafte er seine Frau mit durchbohrenden Blicken. In Sekundenbruchteilen vermittelte er ihr uneingeschränkte Verachtung. Nicht einmal Deirdras Trauer und Mitgefühl milderten seine Gefühle. Er wollte diese Frau verletzen, wollte sie büßen lassen für ihr ungebetenes Auftauchen.
Fünf Minuten später waren sie und die Kinder gegangen. Eamonn schenkte Cathy einen Cognac ein und nötigte sie zum Trinken.
»Sie ist anders, als ich erwartet hatte.«
»Sie war auch nicht das, was ich erwartet hatte, aber so ist es nun mal. Wir sind jeder auf seine Weise enttäuscht worden.«
Cathy nickte traurig. »Tommy hat sich ja bemüht, aber ich habe ihm nie wirklich eine Chance gegeben. Ich bin unbarmherzig mit ihm gewesen und war doch eine üble Heuchlerin. Ich hab ihm das Leben zur Hölle gemacht, weil er sich mit der IRA einließ. Aber du warst es doch, der den Anstoß dazu gegeben hat - aber das ist mir inzwischen gleichgültig. Im Moment zumindest. Wie ich darüber denke, wenn ich wieder in London bin, kann ich nicht sagen. Ich muss mir leider eingestehen, dass ich ebenso selbstsüchtig bin wie du.«
»Du bist nicht selbstsüchtig, du hast ihm ein gutes Leben geschenkt. Er hat immer von dir und deiner Tochter geschwärmt.«
»Sie ist nicht seine Tochter, Eamonn, sie ist deine Tochter. Im Herzen habe ich es schon immer gewusst, aber erst, als ich heute dein kleines Mädchen sah … wie Schwestern sehen die beiden aus. Sie sind einander unglaublich ähnlich. Auch Tommy hat es wohl insgeheim gewusst. All die Jahre, und ich bin nie wieder schwanger geworden. Sie trägt seinen Namen, aber das ist auch alles.«
»Er war ihr Vater, er hat sie aufgezogen, er hat sie geliebt.«
Cathy schüttelte den Kopf. »Kitty hat ihn nie gemocht. Das mag seltsam klingen, aber es stimmt. Mit zunehmendem Alter vergrößerte sich auch ihre Abneigung. Ihr wird das Herz nicht brechen, wenn sie von seinem Tod erfährt, und auch ich bin nicht todtraurig. Ist es nicht schrecklich, so etwas eingestehen zu müssen? In mancher Hinsicht bin ich sogar erleichtert. Desrae wird ihn vorbehaltlos betrauern, aber er ist auch der Einzige. Tommys Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, und sonst hatte er keine engen Verwandten.«
Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.
»Ich würde Kitty gern kennenlernen, wirklich«, sagte Eamonn schließlich.
Mit tränenfeuchten Augen sah ihn Cathy an und lächelte. »Wenn du in London zu tun hast, komm mich besuchen. Versprichst du, dass du immer zu mir kommen wirst, Eamonn?« Ihre Stimme klang furchtbar niedergeschlagen. »Verlass mich jetzt nicht, bitte, nicht nach alledem.«
Dann fasste sie sich und verkündete: »Ich muss Vorkehrungen treffen, um ihn nach Hause überführen zu lassen.«
Eamonn winkte ab. »Am besten begraben wir ihn hier. Das lässt sich leicht arrangieren.«
Cathy sah den Mann an, den sie mehr liebte als alles auf der Welt, und allein diese wenigen Worte machten ihr schlagartig bewusst, dass Tommy Pasquale nicht an einem Herzinfarkt gestorben war. Dieser Mann hier war verantwortlich für seinen Tod.
Trotz dieser Erkenntnis konnte sie ihn nicht hassen, denn weil Tommy nicht mehr lebte, der immer betrunkene und drogensüchtige Tommy, der in ganz London verschuldete Spieler Tommy, war sie endlich frei. Wirklich frei. Seit dem Tag ihrer Hochzeit hatte sie gewusst, dass Tommy sie eher umgebracht hätte, als sie jemals gehen zu lassen.
Ihr einziger Gedanke war: Wir haben uns alle drei schuldig gemacht und werden am Ende die Rechnung dafür begleichen müssen.
 
Jack Mahoney saß in seinem Büro in Queens. Er hörte zu, wie Petey und Eamonn sich stritten, und schüttelte missmutig den Kopf.
»Er musste dran glauben. Igor war schon nervös. Verdammt, sogar Anthony Baggato hat eine Andeutung gemacht. Tommy musste verschwinden!« Eamonns Stimme klang unerbittlich. »Ich mochte Tommy auch, aber er hatte einen verhängnisvollen Fehler gemacht, und das können wir uns nicht leisten.«
Petey zeigte sich unbeeindruckt. »Du hast das hinter unserem Rücken veranstaltet, Eamonn. Wir hätten konsultiert werden müssen.«
»Ihr seid konsultiert worden, verdammte Scheiße!«
Petey schnauzte seinen Freund an. »Höchstens informiert, und das hinterher! Ich hab’s von Harve gehört, aber ich hätte es vor ihm wissen müssen. Ich hätte eingeweiht sein sollen, aber du hast wieder mal im Alleingang gehandelt, Eamonn. Scheiße!«
»Ich hab ihn ausgeschaltet, weil wir allesamt schon bald tot gewesen wären, wenn wir ihn und seine Eskapaden noch länger geduldet hätten. Kapiert ihr denn nicht, was hier abläuft? Igor ist kein Trottel. Er arbeitet mit den Armeniern zusammen und den Russen und so manchen mehr. Ich kann es mir nicht leisten, dass er unruhig wird.«
Jack ergriff das Wort. »Und wer macht jetzt den Kurier? Wer bringt den Stoff rüber nach England?«
Eamonn zuckte die Achseln. »Ich selbst. Diesmal bringe ich ihn rüber und arrangiere von dort aus was Neues.«
Petey machte ein angewidertes Gesicht. »Ich schätze, da drüben wirst du wohl eher Tommys trauernder Witwe das Händchen halten, hä? Dieser dreckigen Hure! Du bumst sie doch schon, seit sie hier ist, oder etwa nicht? Denkst du, ich weiß nichts davon? Deswegen wolltest du ihn wohl aus dem Weg schaffen. Mit unseren Geschäften hatte es nichts zu tun, sondern ums Ficken ging es und um nichts anderes!«
Eamonns Faust traf Peteys Kinn, bevor er noch ganz ausgesprochen hatte. Petey flog rückwärts über den Schreibtisch und krachte zu Boden. Jack eilte zu seinem besinnungslosen Bruder. »Die Wahrheit schmerzt immer, Eamonn«, sagte er bekümmert. »Vergiss das für die Zukunft nicht. Du bist nicht in der Mafia, aber bei uns ist der ein toter Mann, der die Frau eines Toten anrührt.«
Eamonn lachte nur, geringschätzig und boshaft. »Nun, wir sind nicht die verdammte Mafia, und Petey ist kein verdammter Lucky Luciano! Wenn er aufwacht, richte ihm aus, er soll es sich das nächste Mal gut überlegen, ob er nochmal so mit mir redet. Tut er’s nämlich nochmal, mach ich ihn alle.«
Erst draußen in seinem geparkten Wagen legte sich Eamonns Wut. Petey hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, und eben das ärgerte ihn. Tommy hatte gewusst, dass er sich als einer der Hauptakteure in einem transatlantischen Netzwerk keine Blöße geben durfte. Für das, was sie taten, würden sie hinter Gitter wandern, bis sie alt und grau waren.
Tommy hatte sehr wohl gewusst, was auf dem Spiel stand. Aber er war anscheinend lebensmüde gewesen, denn niemand bei klarem Verstand legte sich mit den Iren an oder den amerikanischen Iren, ganz abgesehen von den Armeniern oder den Russen. Es war lachhaft, dass gerade Petey, der Ziegel von einem Kirchendach gestohlen und am nächsten Tag in derselben Kirche gebeichtet hätte, ihm vorhalten wollte, dass seine Beziehung zu Cathy Pasquale unmoralisch sei. Nicht einmal Jack, mit dessen Tochter er verheiratet war, hatte das getan. Aber Jack kannte auch die Schwächen seiner Tochter.
Eamonn dachte zurück an Caroline, die Tochter eines Mafia-Dons, die er in einem Augenblick rasenden Zorns gnadenlos totgeschlagen hatte.
Frauen waren sein Ruin.
Irgendwie weckte er in ihnen das Schlimmste, so wie sie in ihm das Schlimmste weckten.
Nur Cathy nicht. Cathy ganz und gar nicht. Sie war verlässlich, ein Grundpfeiler seines Lebens.
Er sah Petey zu seinem Wagen schwanken, stieg aus und ging zu ihm hinüber. Dem Mann, der ihm wie ein Bruder ans Herz gewachsen war, sagte er mit fester Stimme: »Es tut mir leid, Petey.«
»Du hast dich verändert, Eamonn«, erwiderte der angeschlagene Mann resigniert. »Ich hätte niemals gedacht, dass du die Hand gegen mich erheben könntest - gegen mich! Jeden anderen würde ich in Stücke reißen.«
Eamonn holte tief Luft. »Seltsame Zeiten, hm?«
Petey nickte. »Sehr seltsam. Wir töten willkürlich links und rechts, was macht es da aus, wenn wir uns jetzt sogar untereinander umbringen?« Er zuckte die Achseln. »Vor Jahren wollte ich nicht mehr vom Leben als das hier. Ich dachte, ich brauche Geld und Prestige. Jetzt beneide ich jeden ganz normalen Familienvater, auch wenn er sich noch so sehr abplacken muss, denn im Gegensatz zu mir kann er ruhig schlafen. Er braucht nicht zu entscheiden, wer leben oder sterben soll. Er muss nicht mit anhören, wie ständig über Tod und Zerstörung gesprochen wird. Er muss nicht unablässig fürchten, dass jemand auf der Lauer liegt, um ihn abzuknallen. Plötzlich sehe ich mich so, wie andere mich sehen würden, wenn sie über mein Leben Bescheid wüssten … Ich steige aus, Eamonn, es geht nicht anders!«, sagte er mit Nachdruck. »Ich werde den Iren sagen, dass sie tun können, was sie wollen, ich jedenfalls gehe in den Ruhestand und konzentriere mich auf meine Clubs und Investitionen. Und ich könnte mir vorstellen, dass sie von dir erwarten, mich aus dem Verkehr zu ziehen. Mich würde echt interessieren, ob du das fertigbringst. Du weißt ja, wo ich bin - ich werde mich nicht verkriechen und auch nicht abhauen. Ich überlass es ganz deinem Gewissen.«
Mit diesen Worten stieg er in seinen Wagen und fuhr davon.
 
Eamonn ging zu seinem Wagen, stieg ebenfalls ein und setzte sich hinters Steuer. Aber er fuhr nicht los, denn er wusste nicht, wohin er fahren wollte. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was Petey gesagt hatte, ließ selbst Cathy keinen Raum in seinen Gedanken.
Er sah das, was um ihn vor sich ging, mit anderen Augen, hörte den Lärm der Industrieanlagen, aber auch die einsame Stimme eines Mannes, der ein Lied sang.
Das Leben ging weiter.
Was auch immer dir persönlich zustößt, für alle anderen geht das Leben weiter.
Zwei Tage später wurde Tommy eingeäschert. Bei der Trauerfeier waren nur Cathy, Eamonn, Petey und Jack anwesend. Niemand ergriff das Wort, und die kurze Würdigung des Priesters war nichtssagend. Man merkte, dass er den Verstorbenen nicht gekannt hatte.
Als der Sarg mit ihrem Mann hinter einem schwarzen Vorhang verschwand, um dem Feuer übergeben zu werden, ergriff Eamonn Cathys Hand, und sie spürte einen Anflug von Mitleid mit dem Toten. Hätte sie ihm nur ein klein wenig von sich selbst gegeben, wäre er glücklich gewesen.
Doch die Eröffnung am Tag ihrer Hochzeit hatte jede Möglichkeit dazu ausgeschlossen.
Dem Mann neben sich jedoch, dem Urheber all ihrer Probleme, hatte sie vergeben. Oder hatte ihn doch zumindest so akzeptiert, wie er war. Warum war es ihr nur so schwergefallen, dasselbe auch für den armen alten Tommy zu tun?
Sie kannte die Antwort auf diese Frage: Es lag daran, dass sie nichts gegen ihre Liebe zu Eamonn Docherty ausrichten konnte. Insgeheim wusste sie genau, dass er es nicht wert war. Aber das hinderte sie nicht daran, den Mann, der neben ihr stand, so zu begehren, dass es schon einer Besessenheit gleichkam. Er war ständig in ihren Gedanken, und sie sehnte sich jede Sekunde danach, von ihm berührt zu werden. Eamonn war einmal wieder ihr Ein und Alles, wie er es letztlich ihr ganzes Leben lang gewesen war. Nur hatte sie es sich früher nicht eingestanden.
Sie nahm seine Hand, als sie gingen. Das Vogelgezwitscher und die grüne Parkanlage bedrückten sie plötzlich. Cathy sehnte sich nach dem Lärm und dem Verkehr in Soho, nach Desrae und nach Kitty. Und wenn sie Eamonn ein Wochenende im Monat haben konnte, wie er versprochen hatte, dann wäre ihr Leben vollkommen.
Mehr brauchte sie nicht.
Die Aufsteigerin
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