Kapitel achtunddreißig
Cathy war auf dem Sofa eingeschlafen. Obwohl sie
sich in einer fremden Stadt befand und eine befremdliche Mission zu
erfüllen hatte, schlief sie friedlich und traumlos.
Versunken sah Eamonn sie an: ihre samtweiche Haut,
ihre langen Wimpern, die im Licht des anbrechenden Morgens deutlich
zu sehen waren, und ihre Brüste, die aus dem geöffneten
Morgenmantel drängten. Er spürte seine zunehmende Erregung. Nie
hatte er eine Frau mehr begehrt, nie hatte er mit solchem Verlangen
auf eine Frau geschaut.
Die Arme hatte sie über dem Kopf verschränkt; sie
lag da wie ein Kind, so wie sie als kleines Mädchen neben ihm im
Bett geschlafen hatte, mit seinen kalten Füßen an ihrem
Rücken.
Bei dem Gedanken musste er schmunzeln.
Er wusste, dass er nicht einfach so hätte
hereinkommen dürfen, auch wenn es sein Apartment war. Sie besaß ein
Anrecht auf ihre Privatsphäre und darauf, ungestört zu bleiben und
sich in der Wohnung wie zu Hause zu fühlen. Aber er hatte sich
trotzdem hineingeschlichen, um sie in Ruhe zu betrachten.
Begierig verschlang er ihren Körper mit seinen
Blicken. Unter dem dünnen Stoff ihres Negligés konnte er ihr
üppiges blondes Schamhaar erkennen.
Er legte die Hand über die Lippen. Ihm war zum
Heulen zumute, zum Heulen darüber, dass sie beide ihr Leben so
vergeudet hatten.
»Genieß es, Eamonn, so nahe wirst du mir nie wieder
kommen.«
Ihre rauchige Stimme schreckte ihn auf. Cathy sah
ihn an und lächelte zögernd. Dann setzte sie sich auf und zog ihren
Morgenmantel zurecht. Als sie ihre Brüste bedeckte, spürte Eamonn
eine tiefe Traurigkeit. Cathy war für ihn der Inbegriff von
Sicherheit und Liebe. Seit ihrer gemeinsamen Kindheit war sie es,
und das gehörte untrennbar zu der Anziehungskraft, die sie auf ihn
hatte.
Er setzte sich zu ihr und sagte stockend: »Ich
wollte dich nur ansehen. Dich so ansehen, wie ich es getan habe,
als wir noch Kinder waren.«
Am liebsten hätte sie ihn an sich gezogen.
Stattdessen seufzte sie leise.
»Wir sind aber keine Kinder mehr. Wir sind
erwachsen und haben beide unser Leben vertan. Gut, ich habe meinen
Club - er ist inzwischen einer der besten in London, das La Cage
von Soho. Und ich habe Kitty. Ohne sie wüsste ich nicht, was ich
all die Jahre hätte machen sollen.«
Sie verstummte, hing ganz den Gedanken an ihre
Tochter nach. Eamonn betrachtete ihr Profil. Sie kam ihm noch immer
vor wie das kleine Mädchen von damals. Sie war der einzige Mensch,
den er je uneingeschränkt geliebt hatte.
»Ich liebe dich, Cathy. Ich habe dich immer
geliebt, und ich werde dich immer lieben.«
Unwirsch wandte sie sich ihm zu. »Das ist nicht
fair, Eamonn, und das weißt du.« In ihren Augen schimmerten
unvergossene Tränen. Und jetzt wurde ihm klar, dass auch sie ihn
immer noch liebte.
Er zog sie an sich, presste seinen Mund auf ihre
Lippen und öffnete sie mit seiner drängenden Zunge. Er schmeckte
nach Zigaretten und Grappa und roch nach seinem Rasierwasser.
Sie spürte seine Berührung brennend heiß durch den
Stoff ihres Morgenmantels, spürte, wie die Hitze sich über ihren
ganzen Körper ausbreitete, in ihre Brüste fuhr und zwischen ihre
Beine.
Sie riss ihm die Kleidung vom Körper, zerrte an
seinem Hemd, bis die Knöpfe flogen, und zog ihn über sich, stieß
ihn zwischen ihre Beine und ließ ihn kosten und küssen. Sie wölbte
ihm den Oberkörper entgegen, damit er ihre Brüste packen konnte,
als er in sie eindrang. Als sie spürte, dass ihr Orgasmus nahte,
drückte sie sein Gesicht an ihren Körper. Noch nie zuvor hatte sie
so empfunden, und niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen
Mann mehr begehrt. Gemeinsam erreichten sie einen nie gekannten
Höhepunkt.
Nach Minuten schon war alles vorüber, aber keiner
von beiden hatte Vergleichbares erlebt.
Sie sprachen nicht, denn es gab nichts zu sagen.
Schließlich stand er auf, hob sie wie eine Puppe hoch und trug sie
ins Schlafzimmer. Als sie nebeneinander auf dem Bett lagen, kam es
ihnen vor, als seien sie heimgekehrt. Tommy war vergessen, Deirdra
war vergessen, selbst ihre Kinder waren vergessen, so sehr genügten
sie einander.
Es kam ihnen wie Flitterwochen vor, eine Zeit für
sie beide ganz allein. Doch sie wussten, dass sie diese Tage
genießen mussten, solange sie dauerten. Sie waren zusammen, sie
gehörten wieder zusammen, und keiner von beiden wollte über die
Gegenwart hinaus denken.
Harvey O’Connor, ein Ire dritter Generation, trug
Mokassins und über seinem Anzug einen weißen Kittel. Um den Hals
hing ihm ein Stethoskop, und in der Brusttasche steckten diverse
medizinische Utensilien.
Er betrachtete sich im Spiegel des Waschraums und
zwinkerte sich anerkennend zu. Er sah unauffällig genug aus, um in
jeder Menschenmenge unterzutauchen. Als er den Waschraum verließ,
lächelte er zwei jungen Krankenschwestern zu, die nur beiläufig
reagierten.
In der Tasche seines weißen Kittels hatte er eine
bereits vorbereitete Spritze, und als er Tommys Zimmer betrat,
lächelte er
selbstsicher. Tommy stand noch immer unter Schock, starrte nur vor
sich hin. Sein Frühstück stand unangetastet neben ihm.
Harvey zog die Spritze aus der Tasche. Sie enthielt
eine Mischung aus Insulin und Cyanid. Niemanden kümmerte weiter,
was er zu tun im Begriff war; der Totenschein war bereits vor
Stunden ausgestellt worden. Es ging nur noch darum, die notwendigen
Schritte zu vollziehen. Mit anderen Worten: die Spritze zu
verabreichen und das Krankenhaus mit möglichst wenig Aufsehen zu
verlassen.
Juanita, eine mexikanische Krankenschwester
mittleren Alters, würde den Toten entdecken und die richtigen Leute
alarmieren. Als Harvey die Nadel in Tommys Arm stieß, fiel ihm auf,
wie kräftig und muskulös der Mann war, und er seufzte mitleidig. Es
war eine Schande, aber es musste getan werden.
Diese Aktion brachte ihm zwanzig Riesen ein, und
anders als sonst hatte er diesmal den Auftrag, mit bestimmten
Leuten darüber zu sprechen.
Es sollte bekannt werden, dass ein Mord begangen
worden war.
Trotz heftiger Gegenwehr gelang es Harvey, die
Giftspritze im Arm seines Opfers zu versenken. Mit Genugtuung
beobachtete er, dass sich Tommys Augen verschleierten und sein
Leben schnell erlosch.
Der Mörder legte den Toten in Schlafhaltung aufs
Bett, drückte ihm die Augen zu und zog ihm die Decke bis hinauf an
den Hals.
Während er auf Juanita wartete, vertilgte er Tommys
Frühstück und trank einen Schluck Krankenhauskaffee. Beides
schmeckte scheußlich. Als die Frau pünktlich um Viertel nach neun
kam, überließ er ihr das Feld und machte sich davon. Er hatte
seinen Job bestens erledigt und durfte einen respektablen
Stundenlohn einstreichen. Bis aufs Frühstück war nichts zu
beanstanden.
Der Anruf erreichte Eamonn und Cathy um 10.35 Uhr,
als sie gerade aus der Dusche kamen. Eamonn nahm das Gespräch an
und setzte anschließend die gebührende Leichenbittermiene auf, als
er Cathy die Nachricht überbrachte.
»Tommy hatte heute Morgen einen Herzinfarkt. Man
konnte absolut nichts mehr tun. Schuld waren sein Drogenmissbrauch
und seine Lebensweise.«
Wie betäubt hörte sie ihm zu. Während sie sich
geliebt hatten, war ihr Ehemann, war der arme Tommy
gestorben.
Eamonn erriet ihre Gedanken und sagte besänftigend:
»Cathy, wir konnten es nicht wissen …«
Sie schüttelte den Kopf, aber ihre Bestürzung war
nicht zu übersehen. Er trat zu ihr und zog sie in die Arme. Sie
wollte sich befreien, aber er hielt sie noch fester
umschlungen.
»Tu es nicht, Cathy, mach dir keine Vorwürfe und
gräm dich auch nicht. Du konntest nicht ahnen, was geschehen würde,
niemand konnte das.«
Sie verstand die Logik seiner Aussage, weigerte
sich jedoch, sie zu akzeptieren. Sie gestattete ihm trotzdem die
Umarmung. Plötzlich war ihr kalt, unendlich kalt.
Eamonn war klar, dass er sie ins Krankenhaus fahren
musste, damit sie ihren toten Ehemann identifizierte. Er zog sich
an und schlüpfte gerade in seine Schuhe, als er den Türsummer
hörte. Im Flur standen plötzlich seine Frau und seine beiden
jüngsten Kinder vor ihm.
Cathy erblasste.
»Guten Morgen«, sagte Deirdra aufgekratzt und
streckte Cathy die Hand entgegen. »Ich glaube, wir kennen uns noch
nicht?«
Cathy starrte Norah an, als sei sie ein Geist.
Eamonn führte seine Frau und seine Kinder ins Wohnzimmer und sagte:
»Darf ich vorstellen - Tommy Pasquales Ehefrau Cathy. Cathy, das
ist meine Frau Deirdra.«
Seine Frau stand einfach da, würdevoll und boshaft
zugleich.
»Tommy ist heute Morgen gestorben«, informierte er
sie. »Ich wollte gerade mit Cathy ins Krankenhaus fahren, um die
Formalitäten zu erledigen.«
»Gütiger Gott, das tut mir ja so leid.«
Cathy betrachtete die beiden Eheleute, die
anscheinend mit der Zeit zu Kontrahenten geworden waren. Das war
also Eamonns Frau, das war die Frau, die sie so viele Jahre lang
beneidet hatte, diese pummelige, unglückliche Person mit dem
wunderschönen Haar und der Kleidung, die ihr nicht stand. Sie sah
nochmal fasziniert das kleine Mädchen an und sagte leise: »Ich
werde mich dann auf den Weg machen. Vielen Dank für deine Hilfe.
Ich komme jetzt gut allein zurecht. Ich weiß, dass Tommy es zu
schätzen gewusst hätte, was du für mich getan hast. Er hat immer
große Stücke auf dich gehalten.«
Deirdra war starr vor Entsetzen. Diese Frau hatte
gerade ihren Ehemann verloren, und sie war hier aufgetaucht wie ein
Racheengel.
»Ich bitte Sie, mein Mann wird Sie fahren und Ihnen
bei allem behilflich sein«, sagte sie eilfertig. »Ich bin Tommy oft
in meinem Haus begegnet. Er war ein guter Mann und hat immer wieder
von Ihnen und Ihrer Tochter gesprochen.«
In ihrer Unwissenheit hatte Deirdra genau den
wunden Punkt getroffen. Cathy zitterte am ganzen Körper. Sie sank
aufs Sofa, weil ihre Knie nachgaben, und ließ den Tränen freien
Lauf.
Einfühlsam legte Norah die Hand auf Cathys Arm.
»Mami, soll ich der Dame ein Glas Wasser holen?«
Paul, der erst sieben war, reagierte verschüchtert
und fing zu weinen an. Eamonn nahm ihn auf den Arm, um ihn zu
trösten. Dann strafte er seine Frau mit durchbohrenden Blicken. In
Sekundenbruchteilen vermittelte er ihr uneingeschränkte Verachtung.
Nicht einmal Deirdras Trauer und Mitgefühl milderten seine Gefühle.
Er wollte diese Frau verletzen, wollte sie büßen lassen für ihr
ungebetenes Auftauchen.
Fünf Minuten später waren sie und die Kinder
gegangen.
Eamonn schenkte Cathy einen Cognac ein und nötigte sie zum
Trinken.
»Sie ist anders, als ich erwartet hatte.«
»Sie war auch nicht das, was ich erwartet hatte,
aber so ist es nun mal. Wir sind jeder auf seine Weise enttäuscht
worden.«
Cathy nickte traurig. »Tommy hat sich ja bemüht,
aber ich habe ihm nie wirklich eine Chance gegeben. Ich bin
unbarmherzig mit ihm gewesen und war doch eine üble Heuchlerin. Ich
hab ihm das Leben zur Hölle gemacht, weil er sich mit der IRA
einließ. Aber du warst es doch, der den Anstoß dazu gegeben hat -
aber das ist mir inzwischen gleichgültig. Im Moment zumindest. Wie
ich darüber denke, wenn ich wieder in London bin, kann ich nicht
sagen. Ich muss mir leider eingestehen, dass ich ebenso
selbstsüchtig bin wie du.«
»Du bist nicht selbstsüchtig, du hast ihm ein gutes
Leben geschenkt. Er hat immer von dir und deiner Tochter
geschwärmt.«
»Sie ist nicht seine Tochter, Eamonn, sie ist
deine Tochter. Im Herzen habe ich es schon immer gewusst,
aber erst, als ich heute dein kleines Mädchen sah … wie Schwestern
sehen die beiden aus. Sie sind einander unglaublich ähnlich. Auch
Tommy hat es wohl insgeheim gewusst. All die Jahre, und ich bin nie
wieder schwanger geworden. Sie trägt seinen Namen, aber das ist
auch alles.«
»Er war ihr Vater, er hat sie aufgezogen, er hat
sie geliebt.«
Cathy schüttelte den Kopf. »Kitty hat ihn nie
gemocht. Das mag seltsam klingen, aber es stimmt. Mit zunehmendem
Alter vergrößerte sich auch ihre Abneigung. Ihr wird das Herz nicht
brechen, wenn sie von seinem Tod erfährt, und auch ich bin nicht
todtraurig. Ist es nicht schrecklich, so etwas eingestehen zu
müssen? In mancher Hinsicht bin ich sogar erleichtert. Desrae wird
ihn vorbehaltlos betrauern, aber er ist auch der Einzige. Tommys
Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, und sonst hatte er keine
engen Verwandten.«
Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken
nach.
»Ich würde Kitty gern kennenlernen, wirklich«,
sagte Eamonn schließlich.
Mit tränenfeuchten Augen sah ihn Cathy an und
lächelte. »Wenn du in London zu tun hast, komm mich besuchen.
Versprichst du, dass du immer zu mir kommen wirst, Eamonn?« Ihre
Stimme klang furchtbar niedergeschlagen. »Verlass mich jetzt nicht,
bitte, nicht nach alledem.«
Dann fasste sie sich und verkündete: »Ich muss
Vorkehrungen treffen, um ihn nach Hause überführen zu
lassen.«
Eamonn winkte ab. »Am besten begraben wir ihn hier.
Das lässt sich leicht arrangieren.«
Cathy sah den Mann an, den sie mehr liebte als
alles auf der Welt, und allein diese wenigen Worte machten ihr
schlagartig bewusst, dass Tommy Pasquale nicht an einem Herzinfarkt
gestorben war. Dieser Mann hier war verantwortlich für seinen
Tod.
Trotz dieser Erkenntnis konnte sie ihn nicht
hassen, denn weil Tommy nicht mehr lebte, der immer betrunkene und
drogensüchtige Tommy, der in ganz London verschuldete Spieler
Tommy, war sie endlich frei. Wirklich frei. Seit dem Tag ihrer
Hochzeit hatte sie gewusst, dass Tommy sie eher umgebracht hätte,
als sie jemals gehen zu lassen.
Ihr einziger Gedanke war: Wir haben uns alle
drei schuldig gemacht und werden am Ende die Rechnung dafür
begleichen müssen.
Jack Mahoney saß in seinem Büro in Queens. Er
hörte zu, wie Petey und Eamonn sich stritten, und schüttelte
missmutig den Kopf.
»Er musste dran glauben. Igor war schon nervös.
Verdammt, sogar Anthony Baggato hat eine Andeutung gemacht. Tommy
musste verschwinden!« Eamonns Stimme klang unerbittlich.
»Ich mochte Tommy auch, aber er hatte einen verhängnisvollen Fehler
gemacht, und das können wir uns nicht leisten.«
Petey zeigte sich unbeeindruckt. »Du hast das
hinter unserem Rücken veranstaltet, Eamonn. Wir hätten konsultiert
werden müssen.«
»Ihr seid konsultiert worden, verdammte
Scheiße!«
Petey schnauzte seinen Freund an. »Höchstens
informiert, und das hinterher! Ich hab’s von Harve gehört, aber ich
hätte es vor ihm wissen müssen. Ich hätte eingeweiht sein sollen,
aber du hast wieder mal im Alleingang gehandelt, Eamonn.
Scheiße!«
»Ich hab ihn ausgeschaltet, weil wir allesamt schon
bald tot gewesen wären, wenn wir ihn und seine Eskapaden noch
länger geduldet hätten. Kapiert ihr denn nicht, was hier abläuft?
Igor ist kein Trottel. Er arbeitet mit den Armeniern zusammen und
den Russen und so manchen mehr. Ich kann es mir nicht leisten, dass
er unruhig wird.«
Jack ergriff das Wort. »Und wer macht jetzt den
Kurier? Wer bringt den Stoff rüber nach England?«
Eamonn zuckte die Achseln. »Ich selbst. Diesmal
bringe ich ihn rüber und arrangiere von dort aus was Neues.«
Petey machte ein angewidertes Gesicht. »Ich
schätze, da drüben wirst du wohl eher Tommys trauernder Witwe das
Händchen halten, hä? Dieser dreckigen Hure! Du bumst sie doch
schon, seit sie hier ist, oder etwa nicht? Denkst du, ich weiß
nichts davon? Deswegen wolltest du ihn wohl aus dem Weg schaffen.
Mit unseren Geschäften hatte es nichts zu tun, sondern ums Ficken
ging es und um nichts anderes!«
Eamonns Faust traf Peteys Kinn, bevor er noch ganz
ausgesprochen hatte. Petey flog rückwärts über den Schreibtisch und
krachte zu Boden. Jack eilte zu seinem besinnungslosen Bruder. »Die
Wahrheit schmerzt immer, Eamonn«, sagte er bekümmert. »Vergiss das
für die Zukunft nicht. Du bist nicht in der Mafia, aber bei uns ist
der ein toter Mann, der die Frau eines Toten anrührt.«
Eamonn lachte nur, geringschätzig und boshaft.
»Nun, wir sind nicht die verdammte Mafia, und Petey ist kein
verdammter Lucky Luciano! Wenn er aufwacht, richte ihm aus, er soll
es sich
das nächste Mal gut überlegen, ob er nochmal so mit mir redet. Tut
er’s nämlich nochmal, mach ich ihn alle.«
Erst draußen in seinem geparkten Wagen legte sich
Eamonns Wut. Petey hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, und eben
das ärgerte ihn. Tommy hatte gewusst, dass er sich als einer der
Hauptakteure in einem transatlantischen Netzwerk keine Blöße geben
durfte. Für das, was sie taten, würden sie hinter Gitter wandern,
bis sie alt und grau waren.
Tommy hatte sehr wohl gewusst, was auf dem Spiel
stand. Aber er war anscheinend lebensmüde gewesen, denn niemand bei
klarem Verstand legte sich mit den Iren an oder den amerikanischen
Iren, ganz abgesehen von den Armeniern oder den Russen. Es war
lachhaft, dass gerade Petey, der Ziegel von einem Kirchendach
gestohlen und am nächsten Tag in derselben Kirche gebeichtet hätte,
ihm vorhalten wollte, dass seine Beziehung zu Cathy Pasquale
unmoralisch sei. Nicht einmal Jack, mit dessen Tochter er
verheiratet war, hatte das getan. Aber Jack kannte auch die
Schwächen seiner Tochter.
Eamonn dachte zurück an Caroline, die Tochter eines
Mafia-Dons, die er in einem Augenblick rasenden Zorns gnadenlos
totgeschlagen hatte.
Frauen waren sein Ruin.
Irgendwie weckte er in ihnen das Schlimmste, so wie
sie in ihm das Schlimmste weckten.
Nur Cathy nicht. Cathy ganz und gar nicht. Sie war
verlässlich, ein Grundpfeiler seines Lebens.
Er sah Petey zu seinem Wagen schwanken, stieg aus
und ging zu ihm hinüber. Dem Mann, der ihm wie ein Bruder ans Herz
gewachsen war, sagte er mit fester Stimme: »Es tut mir leid,
Petey.«
»Du hast dich verändert, Eamonn«, erwiderte der
angeschlagene Mann resigniert. »Ich hätte niemals gedacht, dass du
die Hand gegen mich erheben könntest - gegen mich! Jeden
anderen würde ich in Stücke reißen.«
Eamonn holte tief Luft. »Seltsame Zeiten,
hm?«
Petey nickte. »Sehr seltsam. Wir töten willkürlich
links und rechts, was macht es da aus, wenn wir uns jetzt sogar
untereinander umbringen?« Er zuckte die Achseln. »Vor Jahren wollte
ich nicht mehr vom Leben als das hier. Ich dachte, ich brauche Geld
und Prestige. Jetzt beneide ich jeden ganz normalen Familienvater,
auch wenn er sich noch so sehr abplacken muss, denn im Gegensatz zu
mir kann er ruhig schlafen. Er braucht nicht zu entscheiden, wer
leben oder sterben soll. Er muss nicht mit anhören, wie ständig
über Tod und Zerstörung gesprochen wird. Er muss nicht unablässig
fürchten, dass jemand auf der Lauer liegt, um ihn abzuknallen.
Plötzlich sehe ich mich so, wie andere mich sehen würden, wenn sie
über mein Leben Bescheid wüssten … Ich steige aus, Eamonn, es geht
nicht anders!«, sagte er mit Nachdruck. »Ich werde den Iren sagen,
dass sie tun können, was sie wollen, ich jedenfalls gehe in den
Ruhestand und konzentriere mich auf meine Clubs und Investitionen.
Und ich könnte mir vorstellen, dass sie von dir erwarten,
mich aus dem Verkehr zu ziehen. Mich würde echt
interessieren, ob du das fertigbringst. Du weißt ja, wo ich bin -
ich werde mich nicht verkriechen und auch nicht abhauen. Ich
überlass es ganz deinem Gewissen.«
Mit diesen Worten stieg er in seinen Wagen und fuhr
davon.
Eamonn ging zu seinem Wagen, stieg ebenfalls ein
und setzte sich hinters Steuer. Aber er fuhr nicht los, denn er
wusste nicht, wohin er fahren wollte. Die Ungeheuerlichkeit dessen,
was Petey gesagt hatte, ließ selbst Cathy keinen Raum in seinen
Gedanken.
Er sah das, was um ihn vor sich ging, mit anderen
Augen, hörte den Lärm der Industrieanlagen, aber auch die einsame
Stimme eines Mannes, der ein Lied sang.
Das Leben ging weiter.
Was auch immer dir persönlich zustößt, für alle
anderen geht das Leben weiter.
Zwei Tage später wurde Tommy eingeäschert. Bei der
Trauerfeier waren nur Cathy, Eamonn, Petey und Jack anwesend.
Niemand ergriff das Wort, und die kurze Würdigung des Priesters war
nichtssagend. Man merkte, dass er den Verstorbenen nicht gekannt
hatte.
Als der Sarg mit ihrem Mann hinter einem schwarzen
Vorhang verschwand, um dem Feuer übergeben zu werden, ergriff
Eamonn Cathys Hand, und sie spürte einen Anflug von Mitleid mit dem
Toten. Hätte sie ihm nur ein klein wenig von sich selbst gegeben,
wäre er glücklich gewesen.
Doch die Eröffnung am Tag ihrer Hochzeit hatte jede
Möglichkeit dazu ausgeschlossen.
Dem Mann neben sich jedoch, dem Urheber all ihrer
Probleme, hatte sie vergeben. Oder hatte ihn doch zumindest so
akzeptiert, wie er war. Warum war es ihr nur so schwergefallen,
dasselbe auch für den armen alten Tommy zu tun?
Sie kannte die Antwort auf diese Frage: Es lag
daran, dass sie nichts gegen ihre Liebe zu Eamonn Docherty
ausrichten konnte. Insgeheim wusste sie genau, dass er es nicht
wert war. Aber das hinderte sie nicht daran, den Mann, der neben
ihr stand, so zu begehren, dass es schon einer Besessenheit
gleichkam. Er war ständig in ihren Gedanken, und sie sehnte sich
jede Sekunde danach, von ihm berührt zu werden. Eamonn war einmal
wieder ihr Ein und Alles, wie er es letztlich ihr ganzes Leben lang
gewesen war. Nur hatte sie es sich früher nicht eingestanden.
Sie nahm seine Hand, als sie gingen. Das
Vogelgezwitscher und die grüne Parkanlage bedrückten sie plötzlich.
Cathy sehnte sich nach dem Lärm und dem Verkehr in Soho, nach
Desrae und nach Kitty. Und wenn sie Eamonn ein Wochenende im Monat
haben konnte, wie er versprochen hatte, dann wäre ihr Leben
vollkommen.
Mehr brauchte sie nicht.