Kapitel zweiundvierzig
Trevale »Terry« Campbell war sauer. Man hatte ihn soeben angerufen und berichtet, dass ein Beamter der Sitte namens Richard Gates zusammen mit einer kleinen Blondine bei Trevales Mutter zu Hause aufgetaucht war - bei ihr zu Hause, verdammt! - und diese Schlampe tatsächlich Trevales Mutter bedroht hatte. Schon eine Viertelstunde nach dem Anruf wusste er, um wen es sich bei dieser Blondine handelte und dass sie mitmischte, weil dieser dämliche Casper sich umgebracht hatte.
Wie konnten sie es wagen, seine Familie zu belästigen? Wie konnten sie es wagen, seine Mutter aufzusuchen? Und jetzt hatte Gunil, ein kleiner Asiat, den er dafür bezahlte, seine Schwester im Auge zu behalten, ihm berichtet, dass auch Shaquila von diesen Leuten aufgesucht worden war. Dafür würden sie bezahlen, aber zuerst musste er mit seiner Schwester sprechen.
Er stürmte den Weg zur Wohnung seiner Schwester hinauf, und die hatte die Wohnungstür bereits aufgerissen, bevor er angelangt war.
»Terry, Liebling, was ist denn los?« Ihr Begrüßungslächeln wirkte gezwungen.
Er stieß sie in den Flur und schlug die Tür hinter sich zu. »Hattest netten Besuch von der Schmiere? Wie lieb von dir, dass du mir sofort davon erzählt hast, Shaquila. Vielen Dank auch, Mädchen«, zischte er.
Shaquila sah seinem versteinerten Gesicht an, dass Riesenärger bevorstand, und suchte fieberhaft nach einer Ausrede, um ihr Versäumnis zu erklären. »Ich hab ja versucht, dich anzurufen, konnte dich aber nicht erreichen. Ich dachte, du hast dein Telefon abgestellt. Ich wollte es gleich wieder versuchen. Das schwör ich, Terry. Warum sollte ich dich belügen? Was hätte ich davon?«
Sie klang panisch vor Angst, und ein paar Sekunden lang weidete er sich an ihrer Verlegenheit und Furcht, bevor er sich beruhigte. Shaquila würde es niemals wagen, ihn zu hintergehen. Dazu fehlte ihr der Mut.
»Mit meinem Telefon ist alles in Ordnung, Schwesterchen. Alle anderen haben mich erreicht.«
Sie spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Ihr Bruder konnte gemeingefährlich sein, wenn er sich hintergangen fühlte. Er würde ihr Schmerzen zufügen, schreckliche Schmerzen, und sich dann in der Überzeugung sonnen, recht daran getan zu haben, ihr eine Lektion zu erteilen.
»Ich schwör’s beim Leben der Kinder, Terry. Ich würde dich nie enttäuschen. Warum sollte ich mir alles verderben? Und wie sollte ich zurechtkommen ohne dich, Baby?«
Sie spürte, dass er sich langsam beruhigte. Er liebte es, unterwürfig gebeten, bestärkt und umhegt zu werden, alles unter Kontrolle zu haben.
Er sah, dass ihre Hände zitterten, bemerkte das Beben ihrer Stimme und konnte jetzt den Großmütigen spielen. »Schon gut, Shaquila. Ich muss sicher sein, dass du spurst, und das weißt du auch.« Er folgte ihr in die Küche. »Also, was haben die gewollt?«
»Sie haben mich gefragt, ob ich wüsste, wo du bist, und ich hab Nein gesagt. Ich hab sie gefragt, was sie von dir wollen, aber das wollten sie mir nicht sagen. Ich hab mich einfach weiter unwissend gestellt, und irgendwann sind sie gegangen.«
Er stand auf, ging zu ihr und umschlang sie von hinten. Er streichelte ihre Brüste, während er redete. »Das ist mein Mädchen. Ich und du gegen den Rest der Welt, hä? Scheiß auf die alle. Beweisen können sie nichts. Ich sag dir - diese miese Pasquale-Tussi steckt ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen! Aber ich hab schon eine Idee, es ihr auszutreiben. Ich werd dieser weißen Schlampe heimzahlen, dass sie mir an den Kragen will.«
Shaquila drehte sich zu ihm um. »Was hast du vor?« Sie heuchelte gespannte Vorfreude.
»Kümmere dich nicht darum. Mach mir Tee, und dann gönnen wir uns ein halbes Stündchen Spaß. Was meinst du?«
Shaquila erschrak, zwang sich jedoch zu einem erwartungsvollen Lächeln. »Klar doch, Terry, wenn du die Zeit hast.«
Er sah ihr in die schwarzen Augen und erwiderte mit belegter Stimme: »Für dich habe ich immer Zeit, Darling.«
 
Cathy und Richard brauchten nicht lange, um in Little Dunmow das Landhaus zu finden, in dem sich Peter bei seiner Schwester versteckt hielt. Der junge Mann war nicht gerade erfreut, sie zu sehen, fügte sich aber ins Unvermeidliche und führte seine Besucher in einen gepflegten Wintergarten. Dort wartete er, bis sie sich gesetzt hatten, bevor er in Tränen ausbrach.
»Mir tut es leid, dass ich Probleme gemacht habe, aber ich hatte doch solche Angst. Dieser Campbell hat mich bedroht! Ich wusste nicht, was ich machen sollte, und als Casper sich umgebracht hat, hab ich völlig die Fassung verloren. Ich wollte nichts mehr mit alldem zu tun haben, verstehen Sie?«
Cathy nickte verständnisvoll. »Das glaube ich ja, Peter, aber wir müssen erfahren, was Casper getrieben hat - womit er gehandelt hat. Solange wir das nicht wissen, können wir nichts tun, um die Sache zu klären. Ich nehme an, das weißt du auch.«
Er nickte und wischte sich die Tränen ab.
Richard, dem langsam der Geduldsfaden riss, warf ihm einen bösen Blick zu. »Also, was lief da ab, Junge?«, blaffte er ihn an. »Spann uns nicht auf die Folter.«
Von dem Moment an war Peters Redefluss kaum mehr zu bändigen. »Campbell kam mit diesen Sodomiemagazinen an. Sie wissen schon, aus Thailand - Frauen mit Pferden und Eseln, das Zeug. Die waren sehr gefragt, und er lieferte eine ganze Menge davon. Sechzig zu vierzig hat er sich den Gewinn mit Casper geteilt. Na ja, ich hab jedenfalls Casper gleich gesagt, er soll damit vorsichtig sein. Ich mein, wir wissen doch alle, dass Sie nicht dumm sind, Mrs. Pasquale, oder? Obendrein waren Sie doch so gut zu mir. Ich hab das immer wieder zu Casper gesagt, aber der meinte nur, ich soll meine Nase nicht in seine Geschäfte stecken, sondern schön den Mund halten … Na ja, als Nächstes bekamen wir Videos, mit Kindern und so … Nur dass Casper sagte, es wären nicht wirklich Kinder, sondern nur ältere Jungs und Mädchen, die sich verkleidet hatten, damit sie jünger aussahen. Abgekauft hab ich ihm das nie! Ich hab mir ein paar von den Videos angesehen, als er weg war, und ich kann Ihnen nur sagen, es waren wirklich noch Kinder.«
»Und wo sind diese Videos? Wir haben in den Läden alles auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden.«
»Die hat Casper am Abend vor seinem Selbstmord alle vernichtet. Terry Campbell saß ihm doch im Nacken …«
Richard verdrehte die Augen und schnauzte: »Und weswegen tat er das, du kleine Schwuchtel? Du quatschst und quatschst, aber erzählst uns gar nichts.«
Sekundenlang schloss Peter die tränenfeuchten Augen, bevor er fortfuhr. »Wegen der Filme natürlich. Casper hat heimlich Kopien gemacht und die verkauft. Besonders wütend war Campbell, weil er sie an Michaelas Lover verkauft hat.«
»Und wer ist das?«, fragte Cahty verblüfft.
Peter sah Richard an. »Edward Durrant. Mickey ist schon seit Jahren immer wieder mal mit ihm zusammen.«
Cathy bemerkte Richards Reaktion. »Würde einer von euch beiden mich bitte aufklären, wovon hier die Rede ist?«
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Eddie Durrant ist ein Pseudonym - so nennt sich der Halbbruder von diesem Dreckskerl Trevale, und zwar deswegen, weil er nicht mit dem Namen Campbell in Verbindung gebracht werden will. Die beiden hassen einander. Eddie ist auch ein schlimmer Finger, aber ich habe noch nie gehört, dass er in so abartige Sachen verwickelt ist.«
Peter schüttelte den Kopf. »Ist er auch nicht. Er wollte nur was gegen Terry in die Hand kriegen. Jetzt droht er ihm, und es wird großen Ärger geben. Michaela steckt dahinter. Wenn er sich da rausgehalten hätte, wär das alles gar nicht passiert. Als Terry erfahren hat, dass Casper mit Eddie gedealt hat, wollte er Casper umbringen. Eddie hatte vor, Terry wegen der Filme zu erpressen. Er hat nämlich Beziehungen zu ein paar Leuten im Innenministerium, wie Sie wahrscheinlich wissen, Mr. Gates. Auf diese Weise wollte er es seinem Bruder heimzahlen, verstehen Sie? Es ist eine persönliche Sache, ein Familienzwist, und das ist besonders schlimm, wenn Sie mich fragen.«
»Eddie Durrant«, sagte Richard erstaunt. »Ich dachte, der wär noch immer in Südamerika.«
»Das war er, aber er ist zurückgekommen, wegen einer ganz großen Sache«, sagte der junge Mann wichtigtuerisch. »Fragen Sie mich nicht, worum es genau geht. Das weiß ich nicht und würde es bestimmt nicht ausplaudern, wenn ich es wüsste. Ich weiß nur, dass er Terry an den Kragen will und jetzt eine Möglichkeit sieht. Eddies Mutter ist vor kurzem in East London gestorben, und deswegen ist er am Boden zerstört. Casper hat mir erzählt, auf der Schleife von Terrys Kranz stand ›Eine weg, einer übrig‹. Als Casper klarwurde, mit wem er es zu tun hatte, vernichtete er die ganze Ware und brachte sich um.«
»Konnte er tatsächlich nicht wissen, dass er an Eddie lieferte? Ich meine, Casper müsste doch die Verbindung zwischen ihm und Terry gekannt haben«, unterstellte Richard.
Peter nickte. »Ja, aber es lief alles über Michaela ab, verstehen Sie? Das hat er mir jedenfalls gesagt. Er wusste nichts von der Verbindung zwischen Michaela und Eddie. Kaum jemand weiß davon. Eddie ist bisexuell, und Michaela ist eine echte Transsexuelle, keine reine Drag Queen. Er ist für alles zu haben und hat für Terry in ein paar ganz besonders perversen Filmen mitgespielt.«
Cathy schnaubte verächtlich. »Wie ist denn Casper überhaupt in diese Szene geraten?«
»Er hatte Spielschulden. Glücksspiel war sein einziges echtes Laster. Er wandte sich an einen Geldverleiher, an Dizzy McAlpine, den Rasta von Tulse Hill. Der wiederum steckt es Terry, wenn sich jemand eine so große Summe leiht, und Terry schießt den Löwenanteil vor, wenn ihm diese Person irgendwie nützlich sein kann. Er lässt sie den Kredit abarbeiten, und genauso war es auch mit Casper und den Filmen. Aber als Casper merkte, wie viel Geld sie damit machten, wurde er zu gierig. Als Michaela den Vorschlag machte, Kopien zu ziehen und auf dem europäischen Markt zu verkaufen, war er Feuer und Flamme. Er hat tatsächlich angenommen, dass Terry davon nichts mitkriegt. Der dumme alte Esel!« Peter heulte wieder los.
»Wo ist denn dieser Eddie jetzt?«, drängte Richard.
»Weiß ich nicht. Ich hatte ja nie was mit ihm zu tun. Wenn jemand es weiß, dann höchstens Michaela. Mit ihr müssen Sie reden.«
»Keine Angst, Peter«, beruhigte Cathy den völlig aufgelösten jungen Mann. »Wir klären das alles, und dann kannst du auch wieder zur Arbeit in den Laden kommen. Ich finde, du solltest dich auch bei Brian melden, denn der macht sich Sorgen um dich.«
Peter lächelte wehmütig. »Ich hab Sehnsucht nach ihm, aber ich warte erstmal ab, wie es weitergeht. Ich möchte weder mit Terry noch mit Eddie etwas zu tun haben. Die sind gefährlich. Die ganze Familie ist irre.«
Richard lachte dröhnend. »Das kannst du laut sagen! Die Mutter hat kaum mehr ‘ne Tasse im Schrank, und die Schwester ist voll gestört.«
Auf dem Rückweg nach London besprachen Cathy und Richard die seltsame Wendung der Ereignisse.
»Wenn es nur um einen Familienzwist geht, brauchen wir uns weiter keine Gedanken zu machen, seit Casper nicht mehr da ist«, sagte Cathy.
Richard nickte. »Ich muss nach den Hintergründen suchen, aber was dich betrifft, ist wohl alles klar. Wenn Casper die Ware vernichtet hat, bist du aus dem Schneider.«
 
Desrae wartete in Cathys Wohnung, als sie eintrafen. Sein Make-up wer verschmiert, sein Gesicht angstverzerrt. Kaum waren sie zur Tür hereingekommen, fing er unkontrolliert zu schluchzen an.
Er warf sich in Cathys Arme und jammerte: »Er war hier! Dieser Terry Campbell … er war hier. Sie haben Kitty aus der Schule abgeholt, Cathy! Sie haben sie mitgenommen!«
Cathy und Richard sahen, dass er ein blaues Auge hatte und Quetschungen um seine Wangenknochen.
»Ganz ruhig, Frau«, befahl Richard. »Sag mir, was geschehen ist.«
Cathy geriet in Panik. »Was soll das heißen, sie haben Kitty abgeholt? Wie soll ihnen das gelungen sein, um Gottes willen?«
»Eine Frau hat sie offenbar von der Schule abgeholt. Ich hab angerufen wie jeden Mittwoch, und man sagte mir, Kitty sei nicht da. Dann hab ich die Rektorin verlangt, und die sagte, eine Frau ist aufgetaucht und hat gesagt, du bist krank und Kitty würde zu Hause gebraucht. Kitty kannte die Frau, und daher dachten sie, alles wär okay. Kitty wollte so schnell wie möglich zu dir.«
Cathy sank stöhnend auf die Couch.
»Dann tauchte er bei mir auf«, fuhr Desrae fort. »Hat mich geschlagen und angeschrien, dass niemand es wagen soll, in sein Haus zu kommen, dass niemand es wagen soll, seine Familie zu belästigen. Und dass du dafür bezahlen wirst. Ich wusste zuerst gar nicht, was für einen Scheiß er quatscht, denn ich dachte, es ginge um Casper. Und dann hat er mir aufgetragen, dir zu sagen, dass er deine Tochter hat und du sie nie wiedersehen würdest, es sei denn, du zahlst seinen Preis. Das waren seine Worte. Es sei denn, du zahlst seinen Preis.«
»Du meinst, er verlangt Lösegeld?«, fragte Cathy mit zitternder Stimme.
Richard schüttelte den Kopf. »Nein, Kleines, es bedeutet, er wird ihr eine Lektion erteilen, und dann bekommst du sie zurück. Er will kein Geld, sondern sein Gesicht wahren. Respekt. Er will dir ebenfalls eine Lektion erteilen.«
Cathy starrte ihn entgeistert an. Dann ging ihr langsam auf, was seine Worte bedeuteten, und sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht verzog sich zu einer aschfahlen und hasserfüllten Grimasse, und sie schrie: »Er soll ja mein Baby nicht anfassen! Ich bringe ihn um, wenn er mein Baby auch nur berührt …«
Dann verlor sie die Beherrschung.
Die beiden anderen versuchten, sie gegen ihren verzweifelten Widerstand auf der Couch festzuhalten, denn sie wollte aus der Wohnung rennen und auf eigene Faust nach ihrem Kind suchen.
Kitty bedeutete ihr alles. Der einzige Lichtblick ihres Lebens war die Liebe zu ihrer Tochter. Sie war immer stolz darauf gewesen, wie gut sie sie erzogen und behütet hatte. Ins Internat hatte sie sie gegeben, damit ihr nichts passierte. Und jetzt war jemand gekommen und hatte sie kaltblütig entführen lassen. Dieser Mann war ein perverser Psychopath. Ein Mann, der seiner eigenen Schwester gegen ihren Willen zwei Kinder gemacht hatte. Der mit seinem Namen in ganz London Angst und Schrecken verbreitete, weil er völlig unberechenbar war, amoralisch und gemeingefährlich.
Dieser Mann hatte Cathys Kind in seiner Gewalt, ihre über alles geliebte Tochter.
Alles verschwamm in rotem Nebel, und irgendwann hörte sie einen gellenden Klageschrei. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ihr bewusst wurde, dass sie es war, die schrie.
Die Aufsteigerin
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