Prolog

Gray Waters Irrenanstalt, London

Herbst 1872

»Einer Sache kannst du dir sicher sein: Wann auch immer du einen Hexenmeister zwischen die Schenkel nimmst, läufst du Gefahr, deine Fähigkeiten zu verlieren«, belehrte Sabine ihre Schwester, während sie die Gesichter der eingesperrten Wahnsinnigen musterte. »Das ist nun einmal eine Tatsache.«

»Früher einmal vielleicht«, sagte Lanthe und ließ den bewusstlosen Wachmann fallen, den sie an seinem Gürtel hinter sich hergezogen hatte. »Bei dem hier wird es jedenfalls vollkommen anders sein.« Geschäftig fesselte sie dem Mann die Hände auf den Rücken – sie hätte ihm auch die Arme brechen können, was zum selben Ergebnis geführt hätte, ohne jedoch ein Seil zu vergeuden. »Du hast sie immer noch nicht entdeckt?«

Sie – die Zauberin, die sie aus diesem Ort befreien wollten, falls sie zustimmte, ihre Macht im Austausch gegen ihre Freiheit an Lanthe zu übertragen.

Sabine schlich über den düsteren Korridor. »Ich kann es einfach nicht sagen, wenn sie so aufeinanderhocken.« Sie riss eine Zellentür aus den Angeln und warf sie zur Seite, ihre Absätze klackten über den Boden, als sie den Käfig betrat. Aus der Nähe konnte sie deutlich erkennen, dass alle Insassen überaus … sterblich aussahen. Sie wichen ängstlich vor ihr zurück, wie nicht anders zu erwarten war. Sabine wusste, welch exotischen Anblick sie mit ihrer Kleidung und der Gesichtsbemalung bot.

Ihre Augen waren mit einem breiten schwarzen Streifen umrandet, der sich von der Seite ihrer Nase bis hin zu ihren Schläfen zog. Es wirkte, als trüge sie eine Maske.

Ihre Kleidungsstücke bestanden aus Lederstreifen und Metallketten statt aus Stoff und Faden. Sie trug ein metallenes Bustier, Netzhandschuhe bedeckten ihre Arme und endeten in schmiedeeisernen Krallen an ihren Fingerspitzen. Inmitten der zügellosen Strähnen ihres Haars steckte ein kunstvoller Kopfschmuck – die typische Gewandung der Sorceri-Frauen. Genau genommen galt man als underdressed, wenn das Outfit nicht mehr wog als seine Trägerin.

Als Sabine aus der nächsten Zelle trat, war Lanthe endlich mit den Knoten fertig. »Und, Glück gehabt?«

Sabine riss eine weitere Käfigtür aus den Angeln, starrte in die bleichen Gesichter und schüttelte den Kopf.

»Bleibt mir noch die Zeit, um die kleineren Zellen im Keller zu überprüfen?«, fragte Lanthe.

»Solange wir in zwanzig Minuten wieder am Portal sind, sollte das eigentlich kein Problem sein.« Ihr Portal, das sie nach Hause – nach Rothkalina – zurückbringen würde, lag etwa zehn Minuten entfernt, irgendwo in den nasskalten Straßen Londons.

Lanthe pustete sich eine pechschwarze Strähne aus der Stirn. »Pass du auf die Wache auf und sorg dafür, dass die freigelassenen Insassen in diesem Gewölbe sich ruhig verhalten.«

Sabines Blick wanderte zu dem bewusstlosen Mann, der auf dem dreckigen Boden lag, und sie verzog verächtlich die Lippen. Sie konnte die Gedanken der Menschen lesen, selbst wenn sie ohnmächtig waren, und der Inhalt seines Kopfes gab sogar Sabine zu denken.

»Von mir aus. Aber beeil dich«, sagte Sabine. »Sonst locken wir noch unsere Feinde an.«

Aus purer Gewohnheit schweiften Lanthes blaue Augen nach oben. »Sie könnten jede Sekunde hier sein.« Sie eilte zurück zur Treppe.

Ihr Leben folgte mittlerweile einem monotonen Kreislauf: Sie stahl eine neue Fähigkeit und floh vor ihren Feinden, dann wurde ihr die Fähigkeit von irgendeinem Süßholz raspelnden Sorceri-Mann geklaut, und sie musste eine neue Fähigkeit stehlen … Sabine ließ dieses sich ewig wiederholende Spiel zu.

Denn sie war es, die Lanthes angeborene Fähigkeit zerstört hatte.

Als ihre Schwester fort war, murmelte Sabine: »Auf die Wache aufpassen … von mir aus …«

Sie hob den Mann an Kragen und Gürtel hoch und warf ihn vor die Ausgangstüren. Angesichts dieses Gewaltakts gerieten einige der Insassen ganz außer sich, sie heulten auf und rissen sich an den Haaren. Diejenigen, die den Weg nach draußen anvisiert hatten, krabbelten eilig zurück.

Dafür sorgen, dass sich die Menschen ruhig verhalten, ist ja so leicht.

Sie schlenderte zu dem Wachmann hinüber, trat auf seinen Rücken und breitete die Arme aus. »Kommt her und sammelt euch um mich, ihr verrückten menschlichen Wesen. Kommt her! Ich, eine Zauberin der schrecklichen und schwarzen Mächte, werde es euch mit einer Geschichte lohnen.« Einige verstummten offensichtlich aus reiner Neugier, andere hingegen vor Entsetzen. »Schweigt still, ihr Sterblichen, und vielleicht zeige ich euch sogar eine Geschichte, wenn ihr schön brav seid.« Das Brüllen und Kreischen, das sie hervorgerufen hatte, verstummte allmählich. »Also, setzt euch, setzt euch alle hin. Ja, setzt euch hier zu mir. Näher. Aber du nicht, du stinkst nach Urin und Haferbrei. Du da – sitz!«

Sobald sie sich alle vor ihr versammelt hatten, hockte Sabine sich auf den Rücken des Wachmanns. Sie blickte in die Runde, und langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, während sie sich vorbereitete. Sie zog ihren Rock hoch und fummelte an ihren Strumpfbändern herum, dann rückte sie ihr unerlässliches Halsband zurecht.

»Also, ihr habt heute Abend die Wahl. Ihr könnt die Geschichte eines mächtigen Dämonenkönigs hören, mit Hörnern und Augen so schwarz wie Obsidian. Er lebte in einem längst vergangenen Zeitalter, so ehrenhaft und aufrecht, dass er seine Krone an eine hinterlistige böse Macht verlor. Oder ihr entscheidet euch für Sabines Geschichte. Sie war ein unschuldiges junges Mädchen, das immer und immer wieder bis in alle Ewigkeit ermordet wurde.« Und das eines Tages die Braut jenes Dämons sein würde …

»D-das Mädchen, bitte«, flüsterte einer der Insassen. Sein Gesicht war hinter dem Vorhang seiner verfilzten Haare nicht zu erkennen.

»Eine ausgezeichnete Wahl, haariger Sterblicher.« Sie begann ihre Erzählung mit dramatischer Stimme. »Unsere Geschichte handelt von der furchtlosen Heldin Sabine, der Königin der Illusionen …«

»Und wo leben diese Illusionen?«, fragte eine junge Frau, die dafür kurz aufhörte, an ihrem eigenen Unterarm zu nagen.

Ausgezeichnet, sie würde ständig unterbrochen werden. »Illusionen sind keine Menschen. Eine ›Königin‹ ist in diesem Fall jemand, der eine bestimmte mystische Fähigkeit besser beherrscht als jeder andere.«

Sabine vermochte Fantasiegebilde hervorzurufen, die von der Wirklichkeit nicht zu unterscheiden waren, und alles zu manipulieren, was man sehen, hören oder sich vorstellen konnte. Sie vermochte in die Gedanken eines Lebewesens einzudringen und ihm Szenen aus seinen kühnsten Träumen – oder schlimmsten Albträumen – einzupflanzen. Darin konnte ihr niemand das Wasser reichen.

»Also, die unglaublich schöne und kluge Sabine hatte soeben ihr zwölftes Lebensjahr vollendet und vergötterte ihre Schwester Melanthe, ein neunjähriges Mädchen, das sich zu einer leichtfertigen jungen Frau entwickeln sollte, die später einmal nur allzu bereitwillig den Rock für so ziemlich jeden Mann heben würde. Sabine hatte die kleine Lanthe von ganzem Herzen geliebt, seit diese zum ersten Mal ihren Namen gerufen und damit ihre Schwester ihrer eigenen Mutter vorgezogen hatte. Die beiden Schwestern waren in die Septe der Sorceri hineingeboren worden, eine dahinschwindende und vergessene Rasse. Kein besonders spannendes Material für eine Geschichte, könnte man meinen. Im Vergleich zu einem Vampir oder sogar einer Walküre.« Sie rümpfte die Nase. »Doch hört mir zu und seht selbst …«

Sie hob die Hand, um eine Illusion zu schaffen, aus sich selbst heraus und aus ihrer Umgebung – aus der Energie der vom Wahnsinn gebeutelten Insassen und der von Blitzen zerrissenen Nacht außerhalb des Irrenhauses.

Als sie in ihre geöffnete Handfläche blies, wurde eine Szene auf die Mauer neben ihr projiziert. Die Menschen vor ihr schnappten hörbar nach Luft, vereinzelt war leises Wimmern zu hören.

»Das erste Mal starb Sabine an einem Abend wie diesem, in einem heruntergekommenen Gebäude, das unter der Wucht des Donners erbebte. Nur dass es sich nicht um ein rattenverseuchtes Irrenhaus, sondern um eine Abtei handelte, die hoch oben auf einem Berggipfel in den Alpen errichtet worden war. Es herrschte tiefster Winter im Land.«

In der nächsten Szene sah man Sabine und Lanthe in Nachthemden und Umhängen eine düstere Treppe hinuntereilen. Selbst im Laufen zogen sie jedes Mal den Kopf ein, wenn von draußen das Schlagen mächtiger Schwingen ertönte. Lanthe weinte stumm.

»Sabine war von Wut auf sich selbst erfüllt, da sie nicht auf ihren Instinkt gehört und Melanthe von ihren Eltern ferngehalten hatte, und damit von der Gefahr, die diese mit ihrer verbotenen Zauberkunst anzogen. Aber Sabine war davor zurückgeschreckt, weil die beiden Mädchen, auch wenn sie von unsterblichen Eltern abstammten und beide über große Macht verfügten, immer noch Kinder waren. Als solche konnten sie ebenso einfach wie Sterbliche verwundet und getötet werden, ihre Verletzungen wären genauso langwierig. Doch nun blieb Sabine keine andere Wahl, als zu verschwinden. Sie spürte, dass ihre Eltern bereits tot waren, und hegte den Verdacht, dass die Mörder sich irgendwo in der düsteren Abtei aufhielten. Die Vrekener waren gekommen, um sie zu …«

»Was ist ein Vrekener?«

Sabine holte tief Luft und starrte an die Decke. Ich darf das Publikum nicht umbringen, ich darf das Publikum nicht umbringen …

»Das sind uralte geflügelte Rächer. Dämonische Engel«, antwortete sie schließlich. »Ebenfalls eine aussterbende Rasse. Doch solange wir uns in unserer kleinen Ecke der Mythenwelt zurückerinnern können, schlachten sie böse Sorceri ab, wo sie sie nur finden können, und Sabines Familie jagten sie schon ihr ganzes Leben lang. Aus keinem anderen Grund als dem, dass ihre Eltern in der Tat sehr böse waren.«

Mit einer Handbewegung beschwor Sabine die nächste Szene herauf, die zeigte, wie die beiden Mädchen in das Zimmer ihrer Eltern stolperten. Die Blitze, die die gewaltigen Buntglasfenster erleuchteten, warfen ein unheimliches Licht auf die Körper ihrer Eltern, die sich im Schlaf zusammengerollt hatten.

Die kopflosen Körper, soeben enthauptet.

In dem Bild wandte sich Sabine ab und übergab sich. Lanthe brach mit einem erstickten Schrei zusammen.

Eine weitere Illusion zeigte einige Vrekener und wie sie aus den Schatten des Gemachs heraustraten, angeführt von einem der ihren, der eine Sense schwang, die nicht aus Metall, sondern aus schwarzem Feuer geschmiedet war.

Bei jedem Blitz tauchten ihre gewaltigen, gespenstischen Schwingen kurz aus dem Dunkel auf, und zwei parallele Reihen von Hörnern glänzten auf ihren Köpfen. Sie ragten so hoch empor, dass Sabine den Kopf in den Nacken legen musste, um ihnen in die Augen zu sehen, obwohl sie sich auf der anderen Seite des Raumes befand. Alle waren sie riesig, bis auf einen. Er war noch ein Junge, jünger als Sabine sogar. Er ließ die kleine Lanthe nicht einen Moment aus den Augen, die ohnmächtig auf dem Boden lag, zusammengerollt wie ein Kätzchen. Einer der Erwachsenen musste ihn mit Gewalt von ihr fernhalten.

Jetzt wurde Sabine klar, in welcher Lage sie und Lanthe sich befanden. Diese Gruppe von Vrekenern hatte ihnen nicht nur nachgestellt, um sie zu bestrafen.

»Der Anführer versuchte Sabine zu überreden, sie ohne Gegenwehr zu begleiten«, berichtete sie ihrem Publikum. »Er behauptete, er werde die Schwestern auf den Pfad des Guten bringen. Aber Sabine wusste, was die Vrekener Sorceri-Mädchen antaten, und das war ein Schicksal, das weit schlimmer als der Tod war. Also bekämpfte sie sie.«

Sabine zeigte die letzte Illusion, die die Geschichte zu einem Ende brachte …

Sie bebte am ganzen Körper, als sie langsam ein machtvolles Netz aus Illusionen um ihre Feinde spann. Sie ließ die Vrekener-Soldaten glauben, dass sie in einer Höhle gefangen säßen, tief unter der Erde, aus der es kein Entkommen gab – dies war ihre größte Furcht.

Sie streckte ihre Handflächen dem Anführer entgegen, eine Geste der Unterwerfung, und richtete sie auf seinen Geist. Sobald sie die Verbindung aufgenommen hatte, zerrte sie gierig seine Albträume heraus, konfrontierte ihn sogleich damit und zwang ihn auf diese Weise, noch einmal zu durchleben, was ihn am meisten verletzte.

Diese Szenen ließen ihn auf die Knie sinken. Als er dann seine Sense fallen ließ, um sich die Augen zu reiben, schnappte sie sich seine Waffe. Sabine zögerte nicht, sie einzusetzen.

Heißes Blut spritzte ihr ins Gesicht, als sein Kopf vor ihren Füßen zu Boden fiel. Sobald sie sich mit dem Ärmel ihres Umhangs über die Augen gewischt hatte, erkannte sie, dass ihre Illusionen verblassten und die Vrekener wieder in der Lage waren zu erkennen, wo sie sich tatsächlich befanden. Lanthe war erwacht und schrie, Sabine solle sich in Acht nehmen.

Und dann … hielt die Zeit an.

Jedenfalls schien es so. Der Lärm wurde leiser, und die Bewegungen aller im Raum Anwesenden verlangsamten sich. Alle starrten auf Sabine, auf das Blut, das aus ihrer Halsschlagader spritzte, als sie zusammenbrach. Einer dieser Männer hatte ihr von hinten die Kehle durchgeschnitten, und die ganze Welt färbte sich rot.

»Abie?«, kreischte Lanthe. Sie rannte auf ihre Schwester zu und fiel neben ihr auf die Knie. »Nein, nein, nein, Abie, stirb nicht, stirb nicht, stirb nicht!«

Die Luft um sie herum wurde heiß, und alles verschwamm.

Während Sabine ihre Macht über die Illusionen hatte, besaß Lanthe von Geburt an eine Zauberkraft, die Überzeugungskunst genannt wurde. Sie konnte jedem Lebewesen befehlen zu tun, was auch immer sie wollte, allerdings nutzte sie ihre Gabe nur sehr selten, da ihre Befehle nur allzu oft in einer Tragödie endeten.

Doch als diese Männer sie nun einkreisten, begannen Lanthes Augen zu funkeln, sie glitzerten wie Metall. Ohne jede Gnade setzte sie ihre grauenhafte Macht gegen ihre Feinde ein, die zu benutzen sie immer gefürchtet hatte. »Bewegt euch nicht … Erstecht euch selbst … Kämpft gegeneinander, bis alle tot sind

Der Raum war mit Magie erfüllt, und die Abtei begann um sie herum zu ächzen. Eines der Buntglasfenster zersprang. Lanthe befahl dem Jungen hindurchzuspringen – und auf dem Weg nach unten seine Schwingen nicht zu benutzen. Er gehorchte, die Augen vor Bestürzung dem Wahnsinn nah, als das dicke Glas ihm die Haut aufschlitzte. Es war kein Laut von ihm zu hören, als er in die Tiefe stürzte.

Als alle tot waren, kniete sich Lanthe erneut neben Abie.

»Lebe, Abie! Werde gesund!« Bei den Göttern, Lanthe drängte sie, versuchte, es ihr zu befehlen. Aber es war zu spät. Sabines Herz schlug nicht mehr. Ihre toten Augen starrten ins Leere.

»Verlass mich nicht!«, schrie Lanthe. Sie drängte ihre Schwester stärker, immer stärker … Die Möbel begannen zu zittern, das Bett ihrer Eltern wurde durchgeschüttelt … alles verschob sich … mit einem dumpfen Knall fiel ein Kopf zu Boden. Dann ein zweiter.

Die Macht war unvorstellbar groß. Und irgendwie spürte Sabine, wie sich ihr Körper regenerierte. Sie blinzelte. Als sie die Augen öffnete, war sie am Leben und stärker als je zuvor.

»Sie flohen von diesem Ort, liefen in die Welt hinaus und blickten niemals zurück«, erzählte sie ihrem gebannten Publikum. »Alles, was Sabine von dieser Nacht zurückbehielt, war die Narbe an ihrem Hals, eine Geschichte zum Erzählen und die Blutrache eines Vrekener-Jungen, dem es irgendwie gelungen war, seinen Sturz zu überleben …«

Tief in Gedanken verloren, bemerkte Sabine kaum, dass der Wächter inzwischen erwacht war und sich unter ihrem Stiefel wand. Sie bückte sich und brach ihm das Genick, bevor ihre Geschichte sie so mitnahm, dass sie vergaß, dies zu erledigen.

Eine der Frauen klatschte entzückt in die Hände. Eine andere flüsterte: »Möge Gott Sie segnen und es Ihnen vergelten, Miss

Sabine könnte an diesem Abend durchaus eine Erfüllungsgehilfin des Schicksals sein, ihr Handeln weder gut noch böse, nur eine Laune des Schicksals, das beides sein konnte.

Schließlich war es denkbar, dass die nächste Wache sie weitaus schlechter behandeln würde.

»Was ist denn beim zweiten Mal als sie gestorben ist, passiert?«, fragte eine dreiste Frau, deren Kopf kahl rasiert war.

»Sie kämpfte, um Melanthe und sich selbst vor einer weiteren Vrekener-Attacke zu schützen. Sie nahmen Sabine gefangen, flogen mit ihr weit in den Himmel hinauf und ließen sie aufs Kopfsteinpflaster der Straße fallen. Doch wieder war ihre Schwester da, um ihren zerschlagenen Körper zu heilen, sie dem Tod ein weiteres Mal aus den Armen zu reißen.«

Sabine konnte sich immer noch an das Geräusch erinnern, mit dem ihr Kopf zerbarst, als wäre es erst gestern geschehen. Das war verdammt knapp gewesen …

»Beim dritten Mal jagten sie sie in einen reißenden Fluss. Das arme Mädchen konnte nicht schwimmen und ertrank …«

»Dann nimm sie dir doch, du Miststück!« Die kreischende Stimme einer Frau im Geschoss unter ihnen unterbrach den Fluss der Erzählung noch einmal.

Ah, die Königin der Schweigenden Zungen gab nach und ließ sich auf Lanthes Vorschlag ein.

Sabines Haut prickelte, als die Luft um sie herum vor Energie zu knistern begann. Die dort unten eingesperrte Zauberin gab in diesem Augenblick ihre Radixmacht auf. Ab sofort war Lanthe in der Lage, innerhalb gewisser Grenzen mit jedem telepathisch in Kontakt zu treten, den sie auf diese Weise ansprach.

»Nein, sorgt euch nicht«, sagte Sabine zu den verängstigten Menschen. »Habt ihr schon mal einen dieser Groschenromane gelesen? Einen von der Sorte, in denen ein Banküberfall vorkommt? Das ist alles, was meine Komplizin jetzt gerade macht. Abgesehen davon, dass sie etwas stiehlt, das genauso viel wert ist wie« – sie sprach mit dramatischer Stimme weiter – »eure Seele

Eine der Frauen begann zu weinen, als sie das hörte. Es erinnerte Sabine daran, warum unter ihren Haustieren so selten Menschen waren.

»Wer hat sie das nächste Mal getötet?«, fragte die dreiste Menschenfrau. »Vrekener?«

»Nein. Es waren andere Sorceri, die es auf ihre gottgleiche Macht abgesehen hatten. Sie haben sie vergiftet.« Wie sehr die Sorceri doch ihre Gifte verehren, dachte sie bitter. Dann verzog sie die Stirn angesichts ihrer Erinnerungen. »Dieses wiederholte Sterben hat dem Geist des jungen Mädchens übel mitgespielt. Wie eine Pfeilspitze, die im Feuer geschmiedet wird, wurde sie durch den ständigen Druck und die Schläge zu einer scharfen und tödlichen Waffe. Zudem entwickelte sie eine Gier auf das Leben wie noch niemand vor ihr. Wenn sie spürte, dass es in Gefahr war, wurde sie von blindwütiger Raserei erfasst, dem Verlangen, unerbittlich um sich zu schlagen.«

Als einige ihrer Zuhörer die Augen aufrissen, wurde Sabine bewusst, dass sich der Raum mit dichtem Nebel gefüllt zu haben schien, während sie in ihren Gedanken versunken war. Es kam häufiger vor, dass sie Illusionen hervorrief, die ihre Gedanken und Gefühle widerspiegelten, sogar wenn sie träumte.

Während sie sich beeilte, den Nebel verschwinden zu lassen, sagte ein anderer Patient: »Gute Frau, w-was ist denn nach der Vergiftung passiert?«

»Die Schwestern wünschten sich nur, zu überleben, in Ruhe gelassen zu werden und mithilfe von ein klein wenig Zauberei ein Vermögen in Gold anzuhäufen. War das etwa zu viel verlangt?« Sie warf ihnen einen »Also, ehrlich!«-Blick zu.

»Aber die Vrekener waren unerbittlich und verfolgten die Spur, die die Zauberei der Mädchen hinterließ. Besonders der Junge. Da er zu der Zeit, als er zu dem Sprung aus dem Fenster gezwungen worden war, noch nicht den Zustand der Unsterblichkeit erreicht hatte, regenerierte sich sein Körper nicht. Aufgrund seiner Verletzungen war er für alle Zeit gebrochen und vernarbt.«

Sie hatten inzwischen erfahren, dass sein Name Thronos war und dass er der Sohn des Vrekeners war, dem Sabine vor all diesen Jahren den Kopf abgeschlagen hatte.

»Da sie es nicht länger wagten, Zauberei zu verwenden, standen die Mädchen bald vor dem Hungertod. Sabine war jetzt sechzehn und alt genug, um das zu tun, was jedes Mädchen in ihrer Situation nun tun würde.«

Die dreiste Menschenfrau verschränkte die Arme über der Brust und sagte wissend: »Prostitution.«

»Falsch. Kommerzieller Fischfang.«

»Tatsächlich?«

»Natürlich nicht!«, sagte Sabine. »Wahrsagerei. Was ihr prompt die Todesstrafe wegen Hexerei einbrachte.« Sie betastete die weiße Strähne in ihrem roten Haar, die sie vor anderen durch eine Illusion verbarg. »Hexen wurden durchaus nicht immer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das ist ein Irrtum. Nein, manchmal hatte ein Dorf schon zu viele verbrannt, und darum töteten sie sie heimlich, indem sie gleich mehrere gemeinsam bei lebendigem Leib begruben.« Ihre Stimme wurde weich. »Könnt ihr euch vorstellen, wie es für das Mädchen gewesen sein muss, Erde einzuatmen? Zu fühlen, wie die Erde sich in ihren Lungen ausbreitete?«

Sie blickte auf ihre stummen Zuhörer. Alle Augen waren weit aufgerissen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

»Die Menschen hauchten rasch ihr Leben aus, doch nicht Sabine«, fuhr sie fort. »Das Mädchen widerstand dem Ruf des Todes, solange es konnte, aber es fühlte, wie es langsam sein Leben aushauchte. Doch dann hörte sie eine eindringliche Stimme von oben, die ihr befahl, zu leben und sich aus dem Grab zu erheben. Und Sabine gehorchte, ohne nachzudenken. Sie grub sich durch die toten Körper der anderen, reckte die Arme blindlings nach oben und bemühte sich verzweifelt, der Oberfläche Zentimeter um Zentimeter näher zu kommen.«

Da erklang hinter ihnen Lanthes Stimme. »Schließlich schoss Sabines Hand aus dem schlammigen Grund, bleich und zur Faust geballt. Endlich konnte Melanthe ihre Schwester finden. Während sie Sabine aus ihrem Grab zog, schlug um sie herum ein Blitz nach dem anderen ein, und Hagel prasselte auf sie herab, als ob die Erde wütend wäre, ihre Beute zu verlieren. Seit jener schicksalhaften Nacht schert sich Sabine um gar nichts mehr.«

Sabine seufzte. »Es stimmt nicht, dass sie sich für gar nichts interessiert. Sie interessiert sich wirklich sehr für nichts.«

Lanthe warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, ihre Augen schimmerten immer noch metallisch blau von der jüngsten Infusion der Macht.

»Wie amüsant, Sabine«, sagte sie, wobei sie ihre Worte direkt an Sabines Verstand richtete.

Sabine zuckte zusammen. »Telepathie. Wahnsinn. Versuch, sie diesmal zu behalten.«

Bei den Göttern – sie war erleichtert, dass Lanthe eine weitere Kraft erlangt hatte. Die Überredungskünste ihrer Schwester schienen nahezu erschöpft zu sein nach all ihren Bemühungen, Sabine am Leben zu erhalten. Es hatte den Anschein, als ob all diese Tode Sabine noch mächtiger gemacht hatten, während sie Lanthe geschwächt hatten, sowohl was ihre Fähigkeit als auch ihre Widerstandskraft anging.

»Diese Zauberin besaß außerdem noch die Gabe, mit Tieren reden zu können«, fuhr Lanthe fort. »Rate mal, was du zum Geburtstag bekommst!«

»Na toll.« Diese Fähigkeit gehörte zu denen, die die Sorceri am wenigsten begehrten. Das Problem bei der Kommunikation mit Tieren lag darin, dass nur selten genug welche von ihnen in Hörweite waren, um sich als nützlich zu erweisen. »Dann kann ich nur hoffen, dass gerade eine Heuschreckenplage die Nachbarschaft heimsucht, wenn ich mal eine brauche.« An ihr Publikum gewandt, sagte Sabine: »Wir sind hier fertig.«

Der langhaarige Mann fragte: »Wartet, was ist denn nach der Beerdigung passiert?«

»Alles wurde noch viel, viel schlimmer«, sagte Sabine wegwerfend.

Die weinende Frau heulte noch lauter. »W-wie konnte es denn noch viel schlimmer werden als all diese Tode?«

»Sie trafen Omort den Unsterblichen«, erwiderte Sabine trocken. »Er war ein Hexenmeister, der niemals den Kuss des Todes verspüren würde. Aus diesem Grund war er auf der Stelle von dem Mädchen bezaubert, das sich so gut mit dem Sterben auskannte.«

Lanthe sah ihr in die Augen. »Er wird sich fragen, wo wir bleiben.«

»Aber er weiß, dass wir immer wiederkommen.« Omort hatte die Schwestern unter Kontrolle. Sabine stieß ein bitteres Lachen aus. Hatten sie tatsächlich einmal geglaubt, sie wären bei ihm sicher?

In diesem Augenblick hörte Sabine von draußen das Schlagen von Schwingen.

»Sie sind da.« Lanthes Blick huschte zu dem riesigen Fenster des Raums. »Lass uns zu den Tunneln unter der Stadt laufen, und dann versuchen wir, unser Portal zu finden.«

»Ich bin nicht in der Stimmung zu laufen.« Das ganze Gebäude begann angesichts von Sabines Zorn zu beben, oder zumindest schien es so.

»Wann bist du das schon? Aber wir müssen.«

Auch wenn Sabine und Lanthe über feengleiche Schnelligkeit verfügten und für ihre schmutzige Kampftaktik berühmt-berüchtigt waren, waren die Vrekener schon aufgrund ihrer Anzahl unaufhaltbar. Außerdem besaßen die Schwestern keinerlei Kampfmagie.

Lanthes Blick glitt durch den Saal, auf der Suche nach einem Fluchtweg. »Sie werden uns kriegen, selbst wenn du uns unsichtbar machst.«

Mit einer einzigen Handbewegung schuf Sabine eine Illusion. Auf einmal sahen Lanthe und Sabine wie Patienten aus. »Wir sorgen für eine Massenpanik unter den Menschen und laufen mit ihnen zusammen in die Nacht hinaus.«

Lanthe schüttelte den Kopf. »Die Vrekener werden uns wittern.«

Sabine blinzelte ihr zu. »Lanthe, hast du etwa noch nicht an meinen Menschen gerochen?«