46
Panik drohte Rydstrom zu überwältigen, als er nun Sabines Namen brüllte und durchs ganze Haus stürmte.
Lanthe rannte hinter ihm her und schrie: »Du hast meine Schwester verloren!«
Vor Erleichterung atmete er tief aus, als er Nïx oben im Gang fand, die Sabine im Arm hielt. Die Walküre sah ihn blinzelnd an. »Was denn? Darf eine Zauberin denn nicht kurz ihre Mascara überprüfen?«
Er wollte Sabine der Walküre unsanft entreißen, aber Nïx sagte nur: »Immer mit der Ruhe, Dämon. Sie hat Schmerzen. Zerquetsch sie nicht.«
Mit einem Nicken nahm er Sabine behutsam in seine Arme.
Sabine starrte zu ihm auf. »Rydstrom, bitte, du darfst nicht …«
Nïx unterbrach sie. »Genug davon. Er will dich nun mal tragen. Du darfst dich glücklich schätzen, Sabine.«
»Oh ihr Götter, Abie!« Lanthe stürzte an ihre Seite.
Sabine streckte matt die Hand nach ihrer Schwester aus, um sie gleich darauf wieder zurückzuziehen – das Gift!
»Lanthe … bleib bei mir … ganz egal, was Omort sagt.«
Lanthe schüttelte den Kopf. »Aber er wird mich wegschicken.«
»Du kannst ziemlich … überzeugend sein.«
Aus irgendeinem Grund wurden Lanthes Augen bei diesen Worten riesengroß. Rydstrom hatte keine Zeit, über ihre Reaktion nachzudenken, weil sich bei Sabine die nächste Schmerzwelle ankündigte. Sie erstarrte in seinen Armen und schloss die Augen.
»Lanthe, wir dürfen keine Zeit vergeuden«, sagte er. Sie hatten stundenlang nach ihr gesucht, bis sie sie endlich fanden, wie sie auf der Suche nach Sabine ziellos durch die Straßen irrte. »Wir machen uns sofort auf den Weg zum Portal.«
An der Eingangstür wartete bereits Cadeon mit Holly, seiner Frau, die Rydstrom bisher nur flüchtig kannte. Es beruhigte ihn, als er sah, dass sie voller Sorge und mit offensichtlicher Liebe in den Augen zu Cadeon aufsah.
Cadeon versuchte, Rydstrom den Weg abzuschneiden. »Soll doch die Schwester der Zauberin sie dorthin bringen. Es gibt keinen Grund für dich, dein Leben aufs Spiel zu setzen.«
»Ich hab dir doch gesagt«, erwiderte Rydstrom, »dass ich mich nicht von Sabine trenne.«
»Meine Leute treffen in ein paar Minuten hier ein. Wir werden dir folgen.«
Rydstrom kam in den Sinn, dass er Cadeon vielleicht nie mehr wiedersehen würde. »Nein. Das ist heute Nacht nicht deine Aufgabe«, sagte er ernst. »Cadeon, du kannst den Kampf in der Zukunft aufnehmen.«
»Das könnte ein Trick sein! Die Zauberin ist in der Lage, uns alles Mögliche sehen zu lassen. Sie stellt dir eine Falle – für Omort. Schon wieder!«
»Sie stirbt! Kannst du denn das Blut nicht riechen?«, sagte Lanthe.
Cadeon ignorierte sie. »Rydstrom, du hast mir die Kombination zum Waffenschrank gegeben. Ich werde heute Nacht das Schwert einsetzen!« Auf Rydstroms unnachgiebigen Blick hin fuhr Cadeon fort: »Dann nimm du es. Verstecke es …«
»Das funktioniert nicht«, sagte Nïx ungeduldig. »Omort wird es wissen, wenn Rydstrom irgendetwas verbirgt.«
Cadeon schüttelte den Kopf. »Es muss doch einen anderen Weg geben.«
»Stell dir vor, du wärst an meiner Stelle«, sagte Rydstrom. »Stell dir vor, das hier wäre Holly, die kurz davorstände, vor Schmerzen zu sterben.«
Cadeons Kiefer mahlten. Mit einem groben Fluch trat er beiseite und schlug frustriert mit der Faust gegen den Türrahmen.
Auf dem Weg zur Einfahrt sah Rydstrom noch einmal über die Schulter hinweg zurück. »Du wirst ein toller König sein.«
Cadeon blickte ihn mit feuchten Augen an. »Ich will kein verdammter König sein! Und ich will meinen Bruder nicht verlieren, gerade wenn … wenn du mich nicht mehr hasst.«
»Ich habe dich nie gehasst.« Rydstrom hielt kurz inne. »Ich liebe dich, Bruder. Und ich bin stolz auf den Mann, der aus dir geworden ist.«
Mit Sabine in den Armen und Lanthe im Schlepptau, trat Rydstrom durch das glatte Portal hindurch direkt in den Thronsaal von Tornin. Augenblicklich entdeckte er Omort auf seinem Thron.
»Was soll das, Melanthe?«, fuhr der Hexenmeister sie an.
Der Saal war fast leer und noch widerwärtiger als zuvor. Überall lagen Berge von Leichen, Fliegen summten durch den Gestank. An den Wänden standen die lebenden Toten, die Wiedergänger, aufgereiht.
Rydstrom zwang sich, das alles zu ignorieren. Für ihn war nur eines wichtig. Ohne zu zögern, schritt er auf das Podium zu. Sabine wand sich in seinen Armen, die Finger vor Schmerzen verkrampft.
Doch Omort hielt ihn mit einer kleinen Handbewegung auf, ließ ihn dort erstarren, wo er gerade stand. »Der Dämon kommt zu mir?« Omort lächelte. In seinen Augen spiegelte sich der Wahnsinn. Dann wandte er sich an Lanthe: »Verschwinde! Sofort!«
»Sieh sie dir nur an, Bruder!«, schluchzte Lanthe. »Sie stirbt. Du kannst sie doch nicht sterben lassen! Bitte!«
»Ihr Herz ist bereits zweimal stehen geblieben«, sagte Rydstrom. »In wenigen Minuten wird es zu spät …«
Omort beugte sich auf seinem Thron nach vorn. »Öffne deinen Geist für mich, Dämon. Sofort!«
Rydstrom leistete dem Befehl Folge. Der Hexenmeister sollte die Wahrheit sehen: Sein einziger Wunsch war es, Sabine in Sicherheit zu wissen. »Man hat mir gesagt, du verfügest über ein Gegengift, das sie heilen wird. Das ist alles, was ich begehre.«
»Du hast wahrhaftig keinen Plan? Es gibt keinen Trick. Du willst einfach nur, dass es deinem kleinen Frauchen gut geht. Weil du sie liebst?« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich hätte dir keine größere Strafe auferlegen können, denn sie zu lieben, hat mir nichts als Kummer gebracht.«
»Wenn du sie liebst, dann hilf ihr …«
»Warte … Da ist noch etwas anderes in deinen Gedanken. Sabine, öffne die Augen.« Nach einem kurzen Moment schlug sie blinzelnd die Augen auf. »Du bist von jemandem betrogen worden, der einen Schwur geleistet hat, niemals einen Verrat zu begehen. Der Dämon hat dich hintergangen. Ihr seid nicht vermählt. Er hat gelogen, was das Gelübde angeht. Statt zu schwören, dich zu beschützen, schwor er, dir wehzutun.«
Sabine blickte zu Rydstrom hinauf. In ihren Augen sammelten sich blutige Tränen.
»Wenn ich mir dein Gesicht ansehe, Schwester, denke ich, er hat sein Wort gehalten.«
Rydstrom leugnete es nicht.
Oh ihr Götter, nein! Sie wollte seine Frau sein … Und sie war es nicht? Er hatte gelogen?
Nein, konzentrier dich, Sabine!
Darum würde sie sich später kümmern. In diesem Augenblick drohte sie, das Opfer einer Verschwörung zu werden, und es kündigte sich bereits die nächste Schmerzwelle an. Wenn die Wirkung der Spritze nachließ, würde sie nicht mehr sehr viel länger durchhalten können.
Sabine wusste, dass diese Welle die letzte sein würde …
»Dein Verrat ist wirklich passend, Dämon«, fuhr Omort fort. »Denn Sabine hatte vor, euer Kind zu ermorden. Ihr eigen Fleisch und Blut. Nicht wahr, Sabine? Sie und ich planten, es dem Brunnen zu opfern, um dessen Kräfte freizusetzen. Aus diesem Grund hat sie so unermüdlich daran gearbeitet, dich zu verführen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Rydstrom. »Und du wirst mich niemals davon überzeugen können.«
»Omort, das können wir alles später regeln«, rief Lanthe. »Aber jetzt braucht sie erst einmal das Morsus!«
»Und das werde ich ihr auch geben, sobald der Dämon tot ist und du fort bist! Jetzt geh, bevor ich deinem Leben ein Ende setze.«
Lanthes Tränen versiegten. Ihre Augen wirkten kalt. »Nein.«
»Was hast du zu mir gesagt?« Seine Worte trieften vor Boshaftigkeit.
»Ich sagte … Verwende – keine – Zauberei!«
Als sie Lanthes Befehl hörte, flehte Sabine innerlich: Bitte, bitte, ihr Götter, lasst dies den rechten Zeitpunkt sein. Davon hängt alles ab …
Sabines Erstaunen entsprach Omorts, denn als er die Hände hob, um Lanthe zu bestrafen, blieben seine Handflächen kalt.
Sie fühlte, wie Rydstrom erstarrte.
»Was hat das zu bedeuten?«, brüllte Omort. Die Ader auf seiner Stirn begann zu pulsieren. Seine Augen verdunkelten sich zu einem metallischen Gelb, als er auf sie zuschritt. »Ich werde dich brennen lassen, Melanthe!«
»Komm nicht näher.«
Omort blieb abrupt stehen und starrte Lanthe fassungslos an.
»Wachen!«, rief er die hirnlosen Wiedergänger herbei. Sie verließen ihren Standort wie ein einziger Mann und umzingelten sie mit erhobenen Schwertern.
Lanthe wandte sich ihnen zu und befahl mit durchdringender Stimme: »Bekämpft euch ausschließlich gegenseitig.«
Als sie daraufhin begannen einander anzugreifen und rings um sie herum Schwerter klirrend aufeinanderprallten, rannte Lanthe zu den großen Doppeltüren des Thronsaals und verbarrikadierte sie mit dem schweren Querbalken, um ihnen so ein wenig mehr Zeit zu verschaffen.
Das ist meine Schwester, dachte Sabine.
»Nein!«, schrie Omort. »Dämonen!«
»Rufe sie nicht!«, zischte Lanthe und Omort verstummte.
Doch Sabine spürte, dass Lanthes Kräfte mit diesem Befehl wieder einmal erschöpft waren.
Rydstrom war fassungslos – noch mehr, als Sabine ihm jetzt zuflüsterte: »Ich hab etwas für dich, Dämon.« Mit zittrigen Händen hob sie eine Ecke der Decke, in die Nïx sie gehüllt hatte, sodass das Schwert zum Vorschein kam, das sie an ihren Körper gepresst hatte.
Sie hatte die Walküre gefragt: »Warum tust du das? Für deine Armee? Oder für Rydstrom?«
Nïx hatte geantwortet: »Vielleicht tu ich es für dich.«
»Sabine, ich … bist du wirklich krank?«
»Das bin ich, aber Nïx hat mir eine Spritze gegeben, damit ich die Kraft habe, dir dies zu geben. Doch die Wirkung beginnt nachzulassen. Du musst es benutzen, um Omort zu töten.«
»Aber wer wird dir dann das Gegengift geben?«
»Die alte Hexe im Keller wird helfen … aber erst wenn Omort tot ist. Es bleibt … nicht mehr viel Zeit, Rydstrom. Lanthes Kräfte sind schwach … Hettiah könnte kommen und ihre Befehle auslöschen.«
»Wenn ich gegen Omort kämpfe, riskiere ich dein Leben. Es bleibt nicht genug Zeit …«
»Du kannst es schaffen. Du musst. Vernichte ihn für immer. Das ist deine Pflicht …«