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»Und, wie läuft’s so mit Mike Rowe?«, sagte eine Frauenstimme.

Nach und nach erlangte Sabine das Bewusstsein wieder. Sie stellte fest, dass sie sich zwischen zwei Schmerzwellen befand, in jener grauenvollen Pause zwischen der Erinnerung an die erlittenen Qualen und der Erwartung der nächsten.

»Mike Rowe? Über wen redest du denn da, Holly?«, erwiderte eine andere Frauenstimme.

Ist das Nïx, die da spricht? Tatsächlich. Aber was macht sie in meinem Traum? Oder bin ich wach?

»Der Schauspieler«, sagte Holly überdeutlich. »Aus Dirty Jobs – Arbeit, die keiner machen will. Der, der die einstweilige Verfügung gegen dich erwirkt hat?«

Schweigen.

»Ach der! Also, Mikey und ich haben uns wieder getrennt, nachdem ich ihn endlich dazu gebracht hatte, es mit mir zu treiben.«

»In der einen Woche, die ich dich nicht gesehen habe?«

»Ja. Gestern Abend, wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Nïx. »Er war ziemlich geschickt für einen Menschen, sehr verführerisch. Aber dann musste ich die Telefonnummer vergessen, die er mir aufgedrängt hatte.«

»Und wieso?«, fragte Holly.

»Mir war wieder eingefallen, was für eine Herzensbrecherin ich bin.«

Sabine blinzelte, da sie alles nur ganz verschwommen sehen konnte, und erblickte Nïx in der Sitzecke des Schlafzimmers. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie zu lesen, was auf dem T-Shirt der Walküre stand. Sie las: BORN TO BLOSSOM, BLOOM TO PERISH – G.S.

Die andere Frau, diese Holly, trug eine Brille und wirkte irgendwie spröde. Sie schien gerade Kleidungsstücke zusammenzulegen.

»Außerdem«, sagte Nïx, »musste ich mit Mikey Schluss machen, weil ich nämlich die Stadt verlasse.«

»Was meinst du damit, du verlässt die Stadt?«, fragte Holly, die währenddessen immer wieder dasselbe Handtuch faltete und gleich noch einmal faltete. »Ich kenne mich in dieser Welt immer noch nicht aus, und du haust ab – schon wieder?«

»Cadeon kann dir alles zeigen.«

»Wohin musst du denn gehen? Was ist so wichtig, dass du mich einfach im Stich lässt?«

»Tantchen Nïxie nimmt sich Urlaub. Ich fliege nach Budapest, um so eine Bande unsterblicher Krieger zu erforschen«, erklärte sie. »Sie nennen sich die Herrscher der Unterwelt. Wenn dir das nicht gleich Lust auf mehr macht …« Sie stieß ein Knurren aus und fuhr mit ihren Klauen durch die Luft. »Jedenfalls sollen sie unheimlich heiß sein.«

»Und mit erforschen meinst du eigentlich ins Bett zerren

Nïx schnaubte verächtlich. »Also wirklich, Holly, wie soll man einen Mann denn sonst erforschen?«

Holly wollte etwas darauf erwidern, aber Nïx schnitt ihr einfach das Wort ab. »Nur so unter uns: Wenn sie mit dem, was der Nïxinator zu bieten hat, richtig umgehen, werde ich vielleicht nie wieder zurückkommen …« Ihr leerer Blick wanderte zum Bett hinüber und ihre Augen weiteten sich. »Sie ist wach.«

Nïx spazierte gemächlich zum Bett, Holly im Schlepptau. »Erinnerst du dich noch an mich? Nïx die Allwissende? Und das ist meine Nichte, Holly.« Nïx zeigte auf die hübsche Blondine, die ihr zaghaft zuwinkte. »Sie ist Cadeons Frau.«

Nïx hielt ihr ein Glas Wasser an die Lippen, aber Sabine wandte sich ab, um keuchend ein paar Worte hervorzustoßen. »Wo ist … Rydstrom?«

»Den haben wir endlich mal von dir losgeeist. Wir sind heute Abend deine Babysitter. Rydstrom, Cadeon und eine Milliarde Dämonen sind unterwegs auf der Suche nach deiner Schwester, damit sie ihnen ihr Portal öffnet.« Sie begann unvermittelt zu lachen. »Tut mir leid, die Lage ist ja eigentlich nicht zum Lachen, aber der Ausdruck ›deine Schwester öffnet ihnen ihr Portal‹ klingt wirklich etwas anzüglich.«

Holly verdrehte die Augen.

»Er bringt Lanthe hierher«, fuhr Nïx schließlich fort. »Und dann hat er vor, dich zu Omort zu bringen und ihn um das Gegengift anzubetteln.«

Sabines Herz hätte beinahe ausgesetzt, diesmal allerdings aufgrund zu starker Emotionen. »Das kann er doch nicht tun!«

»Er hat beschlossen, sich für dich zu opfern«, sagte Nïx.

»Diesmal wird Omort ihn umbringen … er wird seine Gedanken lesen … jede seiner Listen entdecken …«

»Es wird keine geben«, sagte Nïx ruhig. »Rydstrom weiß, dass das eine Einbahnstraße ist, Zauberin.«

Sabine schüttelte heftig den Kopf. »Das kannst du … nicht zulassen!«

»Versuch du mal, einen mehr als zwei Meter großen Dämon aufzuhalten, der hoffnungslos verliebt ist.«

»Nïx«, murmelte Holly. »Sabine braucht neue Bettwäsche. Die alte ist schmutzig von dem ganzen Blut … all das Blut …«

Sie schlug sich die Hand vor den Mund, und ihr Gesicht wurde noch blasser als vorher.

»Wieder diese Morgenübelkeit?«, fragte Nïx. Als Holly aus dem Zimmer flitzte, rief sie ihr hinterher: »Bei den Göttern, Holly, das ist auch eine Möglichkeit, Sabine die Schau zu stehlen!«

»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte sie an Sabine gewandt. »Schrei, wenn du irgendwas brauchst.« Als Nïx an der Tür war, hörte Sabine sie noch murmeln: »Ihnen ihr Portal öffnen. Super Spruch für ein T-Shirt.«

Sabine blieb bebend und fassungslos zurück. Rydstrom hatte vor, alles für sie zu opfern.

Ihr kam eine Idee, ein Plan. Könnte es funktionieren? Ihr blieb nur wenig Zeit, ehe die nächste Welle über ihr zusammenschlug. Hatte sie überhaupt die Kraft? Sie würde die Kraft irgendwoher nehmen müssen, denn wenn er auszog, um sie zu retten, würde sie ihn beschützen – oder ihm zumindest die Mittel geben, sich selbst zu schützen.

Also biss sie die Zähne zusammen, wälzte sich vom Bett herunter und brach auf dem flauschigen Teppich davor zusammen. Sie konnte Holly im Gästebadezimmer würgen hören, und Nïx ließ das Wasser für sie laufen. Sabine hatte nicht die Kraft, sich mithilfe einer Illusion zu verbergen, aber solange sie sie hören konnte, war alles in Ordnung.

Sie kroch auf dem Bauch aus dem Zimmer, wobei sie manchmal die Fingernägel in den Teppichboden grub, um sich vorwärtszuziehen. Als sie endlich den Flur erreichte, kam er ihr endlos vor, die Entfernung zum Arbeitszimmer schien unüberwindbar.

So schwach … Aber sie kämpfte sich weiter, überwand den Schmerz. Immer einen Ellbogen vor den anderen. Ihre Beine schleiften nutzlos hinter ihr her.

Höre, was Walküren machen. Kriechen, kriechen. Nur ihre Liebe zu dem Dämon ließ sie weitermachen.

Sie spuckte Blut, erstickte ein Husten und kroch ein paar Zentimeter weiter. Nur noch ein, zwei Meter bis zur Tür des Arbeitszimmers … dann war sie endlich drinnen. Sie hatte es bis zum Waffenlager geschafft! Unter Aufbietung all ihrer Kräfte hob sie den Kopf und sah zu dem Kombinationsschloss hinauf, das sie erreichen musste. Von ihrer Lage am Boden aus wirkte es so unerreichbar wie der Mond.

Rydstrom wird sterben, wenn du das nicht tust!

Dieser Gedanke spornte sie so sehr an, dass sie sich auf ihre zitternden Knie hocharbeitete. Dann begann sie etwas wackelig, sich aufzurichten. Ich muss es erreichen. Sie drohte wieder zusammenzubrechen. Kann es nicht … ich kann es nicht tun.

Ein Schatten zeichnete sich hinter ihr ab. Sabine wandte den Kopf und verfluchte das Schicksal, als sie Nïx hinter sich stehen sah.

»Brauchst du irgendetwas, Zauberin? Hmm?« Über die eine Schulter hatte sie ein paar Decken gelegt, und sie fummelte an etwas in ihrer Tasche herum. Eine Waffe? »Vielleicht eine Vicodin?«

Sabine wäre am liebsten auf der Stelle in Tränen ausgebrochen. »Was … willst du?« Sie war ihrem Ziel so nahe gewesen.

Gerade als Sabine hörte, dass sich die Haustür öffnete, sagte Nïx: »Rydstrom ist wieder da, zusammen mit deiner Schwester.«

Er war schon zurück? »Nïx, ich … ich brauche …«

»Und gleich wird er entdecken, dass du nicht im Bett bist …«

»Sabine!« Rydstroms Stimme ließ die Wände der Villa erzittern.

Sabines Herz stand erneut kurz vor dem Stillstand. Sie brach benommen auf dem Boden zusammen.

»Willst du das Schwert, Zauberin? Ist das nicht der Grund, aus dem du hergekommen bist?«

Sabine konnte nicht sprechen, nur schwach nicken statt einer Antwort.

Nïx zog eine riesige Spritze aus der Tasche und hielt sie hoch. Während Sabine sie erstaunt anstarrte, sah Nïx die Spritze an, als ob sie gar nicht begreifen könnte, woher sie gekommen sein könnte.

Die Walküre kratzte sich mit der freien Hand am Kopf. »Ah!« Sie lächelte, als Erkenntnis ihr Gesicht aufleuchten ließ. »Ich wusste doch, dass ich heute Abend hergekommen bin, um eines von zwei Dingen zu tun: dir das hier ins Herz jagen oder Wii spielen. Und ich hab meine Wii vergessen!« Sie zuckte mit den Achseln.

Im nächsten Augenblick drang die Nadel auf direktem Weg bis in Sabines Herz.

Mit panischem Blick holte Sabine verzweifelt Luft und packte die Spritze, die aus ihrer Brust ragte. Gleichzeitig starrte sie fassungslos auf Nïx, die sich am Schloss der Waffensammlung zu schaffen machte.

»Das Adrenalin wird dich für ein paar Minuten bei Bewusstsein halten, aber nicht sehr viel länger.«

Und gerade als Sabine spürte, wie neue Energie durch ihre Adern strömte, schloss Nïx den Schrank auf und stieß beim Anblick des Schwerts einen leisen Pfiff aus.