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Als Rydstrom schlagartig wieder zu sich kam, befreite er sich auf der Stelle von den Felsbrocken, die auf ihn gestürzt waren. Danach kam er schwerfällig auf die Füße; jede einzelne Bewegung wurde von mörderischen Schmerzen begleitet.

Seine Kopfwunde verursachte ihm ein Schwindelgefühl, sodass er ins Taumeln geriet. Trotzdem sog er umgehend die Nachtluft tief ein, auf der Suche nach ihrer Witterung, während er gleichzeitig den Schaden abschätzte, den sein Körper erlitten hatte: zertrennte Muskeln in einem Bein, einige Rippen und das Schlüsselbein waren gebrochen. Ebenso ein Arm. Möglicherweise eine Schädelfraktur …

Er fing einen Hauch ihres Duftes aus Richtung Süden auf. Wie von der Tarantel gestochen, rannte er in diese Richtung los, wobei er sein verletztes Bein nach Möglichkeit schonte und den Schmerz ignorierte. Dies war die wichtigste Verfolgungsjagd seines Lebens. Meile für Meile arbeitete Rydstrom sich näher an sie heran.

Er wusste nicht, ob Omort die Teegloths ausgesandt hatte, um sie zurückzuholen, oder ob sie ihnen freiwillig folgen würde. Aber so wie sie seinen Namen geschrien hatte, als er gestürzt war …

Schließlich entdeckte er die blau-goldenen Quasten immer an den Stellen, wo die Teegloths Wasser überquert hatten oder durch ein Flussbett gelaufen waren.

Als Rydstrom klar wurde, dass sie von ihm gefunden werden wollte, hatte sich seine Aufregung rasch in Furcht verwandelt. Wenn diese Kreaturen nicht ausgesandt worden waren, um sich mit ihrer Gefangennahme eine Belohnung zu verdienen, dann würden sie nicht eine Sekunde zögern, mit ihr zu machen, was sie wollten.

Die Teegloths bewegten sich mit ihr auf eine Bergkette zu, vermutlich waren die Minenschächte darin ihr Ziel. Ihr Lebensraum.

Er wischte sich Blut und Schweiß aus den Augen und schaffte es irgendwie, sogar noch schneller zu laufen. Mit schierer Willenskraft zwang er seine Muskeln zu gehorchen, und bald erreichte er den Eingang zu den Minen. Ohne zu zögern, stürzte er sich in die Dunkelheit und stieg hinab in das Herz des Berges.

Plötzlich hallte ihr Schrei durch die Finsternis. Sein Herz drohte auszusetzen, während er schon in die Richtung rannte, aus der er ihn gehört hatte …

Mit einem wütenden Schrei rammte Sabine dem Teegloth ihren Kopf ins Gesicht. Er schlug sie so fest, dass sie mit tränenden Augen und nach Luft ringend auf die Seite rollte.

In dem Moment sah sie Rydstrom, der soeben aus den Schatten heraustrat. Er hatte überlebt!

Während er sich immer näher heranschlich, richteten sich seine Hörner auf, und die Aggression ließ seine Muskeln vor ihren Augen anwachsen. Am Rand des Feuerscheins angekommen, brachte er lautlos sein Schwert wieder an sich.

Als der Anführer sie mit seinen dreckigen Pfoten wieder auf den Rücken wälzte, zischte sie ihm zu: »Du wirst jetzt nur eine Frage stellen, Teegloth, und deinen Kopf verloren haben, noch bevor du eine Antwort erhältst.«

»Was redest?«, brüllte er.

Sie lächelte nur, als Rydstrom sein Schwert schwang.

»Du hast dir die Frau des falschen Dämons ausgesucht«, versicherte sie dem abgetrennten Kopf, während sie sich schleunigst von dem Leichnam entfernte.

Die anderen heulten vor Wut laut auf, als sie den Tod ihres Anführers bemerkten. Rydstrom stellte sich zwischen Sabine und die wütende Meute. »Bleib zurück!«

Als sie ihn mit wirbelnden Hämmern angriffen, setzte er sich mit Schwert und Klauen gegen sie zur Wehr. Einer von ihnen versuchte, sich von hinten an ihn heranzuschleichen, aber er warf den Kopf zurück und vergiftete ihn mit seinen Hörnern.

Er steckte Hiebe ein, die ganze Bäume gefällt hätten, doch er fiel nicht. Selbst mit seinen Verletzungen war er immer noch zu stark für sie. Sie beobachtete bewundernd, wie der unbarmherzige Dämon kämpfte, vom Schein des Feuers erleuchtet, umgeben von den Schatten der Mine.

Mein Mann. Ihr Götter, er war unglaublich. Er kämpft für mich. Niemand außer Lanthe hatte jemals für Sabine gekämpft, niemals, ganz gleich, wie sehr sie es nötig gehabt hätte …

Einer der Teegloths rammte Rydstroms mächtigen Körper gegen einen der Stützpfeiler. Der ganze Schacht schien zu erbeben. Mit ihren gefesselten Händen gelang es ihr nicht, schnell genug aufzustehen. Als der gewaltige Balken zersplitterte, schrie sie Rydstroms Namen.

Mit lautem Gebrüll umfasste er ihre Taille und schleuderte sie weg, gerade als die Decke des Schachts einstürzte und Felsbrocken ihn und die übrigen Teegloths unter sich begruben.

Nichts als Staub. Wieder war sie vollkommen hilflos. Sie hustete. Sie konnte nur warten. Würde er es schaffen?

Warten … Ein Herzschlag … ein weiterer Herzschlag. Verdammt noch mal, du dämlicher Dämon, wage es ja nicht zu sterben! Du darfst nicht …

Torkelnd löste sich Rydstrom aus der Staubwolke. Er blutete aus Dutzenden Verletzungen. Sein Atem ging stoßweise. Mit zusammengezogenen Brauen brach er vor ihr in die Knie – nach wie vor in voller Dämonengestalt – und blickte ihr in die Augen.

Erleichterung darüber, dass er lebte, und Dankbarkeit dafür, dass er sie gerettet hatte, überwältigten sie. Dann erst fiel ihr ein, dass sie eine der mächtigsten Sorceri-Zauberinnen war, die je gelebt hatten. Diese Jungfer in Nöten hätte die ganze Meute innerhalb von Sekunden überwältigen können. Nur dass ihr Ehemann sie gefesselt und damit wehrlos gemacht hatte.

Er schloss sie so fest in die Arme, dass sie fast aufgeschrien hätte. Sie fühlte es, als ein Laut sich seiner Brust entrang – halb Knurren, halb Stöhnen.

Warm … sicher … fuchsteufelswild?

Vergebens leistete sie ihm Widerstand, verfluchte ihn. Er sagte kein Wort, hielt sie einfach nur fest und drückte ihren Kopf mit seiner großen Hand an seine Brust.

Sie war vor Wut außer sich, dass so etwas überhaupt hatte geschehen können, wenn sie es doch mit Leichtigkeit hätte vermeiden können. Indem er sie gefesselt hatte, hatte er ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Aber war sie wütender darüber, dass ihr Leben in Gefahr gewesen war – oder dass seines auf dem Spiel gestanden hatte?

Endlich zog er sich zurück. Sein Blick musterte sie prüfend, nahm ihre Verletzungen in Augenschein. Bei jedem Bluterguss verdunkelten sich seine Augen noch mehr. Als er ihr den Rock vorsichtig hochschob, bewegte sich sein Adamsapfel, als ob er fürchtete, was er finden könnte.

»Sie haben mich nicht vergewaltigt – was ich wohl kaum dir verdanke.«

Er holte tief Luft, im Bemühen um Selbstbeherrschung, und seine Dämonenfratze wandelte sich zurück. Als er ihr Blut von den Lippen wischte, zuckte sie vor seiner Hand zurück.

»Sabine, ich bin hier …«

»Und ich wär fast im Arsch gewesen. Verschnürt wie ein Geschenk für diese kleinen Ungeheuer.«

Er nahm ein Stück des zerfetzten Umhangs und bedeckte damit ihre Brüste. Dann suchte er das Lager nach ihren Besitztümern ab. Er verließ sie nur, um ihre Stiefel zu holen. »Wenn sie vorgehabt hätten, dich als Sklavin zu verkaufen, hätten sie dich nicht ins Gesicht geschlagen, es sei denn, sie wären wütend gewesen.«

»Ja, ich hab sie herausgefordert, und deshalb haben sie mich vollkommen zu Recht verprügelt. Stimmt’s?«

Er kehrte mit ihren Stiefeln zurück und zog sie ihr an. »Wieso hast du das getan?«

»Weil es sich gut angefühlt hat«, murmelte sie, ohne ihn anzusehen, und wiederholte damit seine eigene Antwort auf die Frage, wieso er Omort gereizt habe.

»Es könnten noch mehr von ihnen kommen.« Rydstrom half ihr auf die Beine. »Wir müssen diesen Ort verlassen.«

»Du wirst mich nicht freilassen?« In ihrer Stimme lag ein hysterischer Unterton.

»Du bist wütend, weil du hilflos warst. Ich hätte wachsamer sein sollen.«

»Verdammt sollst du sein, Rydstrom! Willst du nicht einmal jetzt meine Fesseln lösen? Ich war völlig wehrlos! Sicher, du hast mich gerettet, aber du hast mich auch überhaupt erst in diese Lage gebracht. Genau wie damals, als ich dich vor Omort retten musste, nachdem ich dich nach Tornin gebracht hatte. Bist du jetzt glücklich, Dämon? Dass du das Gleichgewicht wiederhergestellt hast?«

»Glücklich?«, brauste er auf. »Wenn dir irgendetwas zugestoßen wäre … Verdammt, ich werde besser aufpassen. Ich werde nicht mehr schlafen.«

»Die Teegloths sind nicht die einzige Bedrohung hier draußen«, sagte sie. »Es gibt legendäre Ungeheuer. Und wie du weißt, könnte ich auch ertrinken.«

»Ich weiß aber auch, dass du bei der ersten sich bietenden Gelegenheit weglaufen wirst.« Sie schüttelte den Kopf. »Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel. Jedes Wort darüber, dass du bei mir bleiben möchtest, war gelogen. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich werde mich von meinem Entschluss nicht abbringen lassen und außerdem müssen wir zusehen, dass wir diese Minen verlassen, ehe noch mehr von denen kommen.«

Sein Ton duldete keinerlei Widerspruch, und als er ihren Arm packte, um sie eiligst von diesem Ort wegzuführen, ließ sie es zu.

Weiter und weiter humpelten sie durch den düsteren Tunnel, der sich Meile um Meile dahinzog, bis sie endlich die Erdoberfläche erreichten. Dort wurden sie von einer völlig neuen Landschaft begrüßt. Hohe Felswände ragten über grünen, mit Bäumen übersäten Hügeln auf. Über allem brannte die späte Nachmittagssonne und ein böiger Wind wehte. Noch mehr Land, das durchquert werden musste; noch mehr Humpelei, noch mehr Qualen.

Genug. Sie riss sich von ihm los. Sabine – schon unter den besten Umständen nicht gerade geduldig – hatte die Nase voll. Sie blieb einfach stehen.

»Komm schon, nicht aufgeben. Sie sind noch ganz nahe, das spüre ich.«

»Es reicht, Dämon.«

»Was?«

Sie setzte sich hin und zog die Knie an die Brust. »Ich habe Sonnenbrand, bin von Kopf bis Fuß voller blauer Flecken, und ich habe Hunger. Ich wurde zwei Tage lang sexuell gefoltert. Ich war in einer einstürzenden Mine gefangen, ohne dass Metall mein Haar, meinen Hals oder meine Brust geschützt hätte. Du hast meine Zöpfe gelöst, sodass mir meine staubigen Haare ständig in die Augen wehen – und ich kann nichts dagegen tun! Doch der Höhepunkt des Ganzen: Ich wurde von Ungeheuern entführt, die mich in die Sklaverei verkaufen wollten!«

Und ich habe um das Leben des Dämons gefürchtet, manchmal mehr als um mein eigenes. Was passierte bloß mit ihr?

»Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe du mir nicht die Fesseln abnimmst.«

»Das schlag dir gleich wieder aus dem Kopf, Sabine. Ich werde dich auf gar keinen Fall gehen lassen. Wenn schon aus keinem anderen Grund, dann weil du vielleicht mein Kind in dir trägst!« Hatten sich seine Schultern gerade gestrafft? Vor lauter Stolz?

»Das ist unmöglich.«

»Ja, wir waren nur ein einziges Mal zusammen, aber es ist möglich.«

»Es gibt kein Kind. Ich bin nicht schwanger!«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich wusste es schon ein paar Tage danach«, sagte sie. »Die alte Hexe kann so etwas sehr rasch feststellen.«

»Und du hast mich in dem Glauben gelassen, du könntest schwanger sein? Eine weitere Lüge!«

»Warum sollte ich dich nicht in dem Glauben lassen? Ich hatte doch keine Ahnung, was du alles mit mir vorhattest!«

»Du lehrst mich jeden Tag aufs Neue, dir nicht zu vertrauen.«

»Weißt du was? Du solltest mich wirklich lieber gefesselt lassen, denn sobald ich frei bin, bring ich dich um! Mehr hab ich dazu nicht zu sagen. Du wirst mich schon tragen müssen, denn ich bewege mich nicht vom Fleck.«

»Meinst du vielleicht, das tu ich nicht?« Er zerrte sie auf die Füße.

»Ich hab dich so satt!«, schrie sie ihm mitten ins Gesicht. »Ich hab’s satt, so behandelt zu werden! Wenn ich nur daran denke, dass ich mir Sorgen gemacht …« Sie biss sich auf die Zunge.

»Sorgen gemacht worum? Hey, Zauberin, hast du dir vielleicht Sorgen um mich gemacht?«, fragte er spöttisch. Doch dann musterte er ihr Gesicht mit zusammengekniffenen Augen. »Das hast du wirklich.«

»Ha! Ich hab mir ausschließlich um meine eigene Haut Sorgen gemacht«, sagte sie, doch es gelang ihr nicht, seinem Blick standzuhalten. Verdammt soll er sein, er weiß, dass ich lüge. Also versetzte sie ihm einen Tritt. »Und jetzt lass mich los!«

Er griff in ihre Haare und packte ihren Hinterkopf. Beide waren sie immer noch außer Atem. Sie starrte auf seinen Mund und leckte sich über ihre Lippen. Als sie schließlich ihren Blick losriss, stellte sie fest, dass seine Augen wie gebannt auf ihren eigenen Mund starrten.

Sie standen kurz davor, wieder mit dieser wilden Küsserei anzufangen, und sie wusste nicht, ob sie stark genug war, dem zu widerstehen …

»Hallo!«, erklang eine Stimme in einiger Entfernung. »Ist da jemand?«

Die Flüchtlinge hatten sie gefunden.