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»Abie?«

Vor Erleichterung wurde Sabine einen Moment ganz flau. »Lanthe, wo bist du?« Sie hatte die Stimme ihrer Schwester zuvor schon einmal vernommen, als sie um Hilfe gerufen hatte, doch dann war sie wieder verstummt.

»Ich versuche, ein paar echt riesigen Vögeln aus dem Weg zu gehen«, hörte Sabine schwach. »Was ist mit dir passiert?«

»Der Dämon hat mich eingeholt und an sein Bett gekettet.«

»Was hat er getan? Sobald ich diese Arschlöcher los bin, knöpf ich mir den Dämon vor.«

»Was willst du denn machen? Ihn zu Tode portalen?«, fragte Sabine. »Kannst du den Vrekenern noch ein Weilchen aus dem Weg gehen? Warte mal, ich hör ihn kommen … Bleib, wo du bist!«

In diesem Augenblick kehrte Rydstrom zu ihr zurück. Er sah sie an, und in seinem Blick lagen Schmerz und Verwirrung. Er streckte die Hand aus, aber anstatt ihren Körper zu berühren, begann er ihre Fesseln zu lösen.

Sie hielt den Atem an. Wollte er sie gehen lassen?

»Weißt du, was ich sah, als du mir sagtest, ich solle von dem träumen, das ich am dringendsten brauche?«, fragte er mit heiserer Stimme, während er die Ketten um ihre Fußknöchel löste. »Ich habe von dir und unserem Sohn geträumt. Wir waren glücklich, Sabine. Ich konnte dich glücklich machen – und beschützen. Dieses Gefühl war unbeschreiblich.«

»Lanthe, er macht mich los. Halt noch ein bisschen durch!«

»Aber ich weiß jetzt, dass das nie geschehen wird«, fuhr Rydstrom fort.

Sobald sie frei war, sprang sie auf die Füße und wich einige Schritte vor ihm zurück, doch er ließ sich nur aufs Bett sinken. Sein Gesicht wirkte erschöpft, auf seiner Wange waren noch die Spuren ihrer Fingernägel zu sehen.

»Lanthe, bist du noch da?« Sabine nahm sich nur kurz die Zeit, um das Unterhemd, das er ihr hingelegt hatte, über den Kopf zu ziehen. Dann machte sie sich auf den Weg.

An der Türschwelle blieb sie noch einmal kurz stehen. »Sieh mal, Rydstrom, in sechs Tagen werde ich wieder da sein. Das verspreche ich dir«, sagte sie.

»Nein, wirst du nicht. Ich bin am Ende, Sabine.«

Sie wirbelte herum. »Was? Rydstrom!«

»Ich bin nicht so. Du rufst das Schlechteste in mir hervor.« Er hatte den Kopf in die Hände gelegt, so wie jemand, der trauert oder dem gerade klar geworden war, dass etwas, das er sich gewünscht hatte, niemals in Erfüllung gehen würde.

Er hatte sie aufgegeben. Sie würde ihn am liebsten bitten, das nicht zu tun, und könnte ihm sogar Gründe nennen, wieso er es nicht tun sollte. Aber irgendwo da draußen war Lanthe, allein, schutzlos.

»Wir tun uns immer wieder gegenseitig weh. Ich will nicht, dass du zurückkommst«, sagte er mit ruhiger, doch zugleich stählerner Stimme.

»Warte, Dämon …«

Er sah ihr in die Augen. »Komm nicht hierher zurück.«

Als sie spürte, dass ihre Unterlippe zu zittern begann, machte sie sich unsichtbar. Mit einem letzten Blick auf ihn rannte sie aus dem Raum.

»Abie, bist du da? Was ist los?«

»E-er hat gerade mit mir Schluss gemacht.«

»Was? Na, du brauchst ihn sowieso nicht!«

»Bei den Göttern, Lanthe, ich glaube, das tue ich sehr wohl.«

Lanthe rannte völlig außer Atem durch die Gegend und verirrte sich nur immer mehr. Sabine und sie besaßen keinerlei Orientierungssinn. War sie an den Tennisschuhen, die dort über der Stromleitung baumelten, nicht gerade erst vorbeigekommen? Zudem verdrehte sie die ganze Zeit über den Kopf, um Himmel und Bäume nach den Vrekenern abzusuchen. Aber sie ging davon aus, dass sie sie abgeschüttelt hatte.

Es waren wenigstens zwei Dutzend gewesen. Und als sie zunächst eine Gruppe von ihnen auf den Ästen einer alten Eiche entdeckt hatte, glaubte sie unter ihnen das vernarbte Gesicht von Thronos zu sehen …

»Ich bin jetzt aus dem Haus.«

Lanthe war so erleichtert, dass sie beinahe gestrauchelt wäre. »Dann lass uns verdammt noch mal endlich abhauen. Die Vrekener bin ich losgeworden, also müssen wir nur noch den Weg zurück zum Portal finden. Weißt du noch, wo der Park war?«

»Machst du Witze?«

»Sollte man meinen, was?« Sie lief an einer Allee nach der anderen vorbei, sie waren wie Türen, unter denen sie eine wählen musste. Hals über Kopf folgte sie schließlich einer über den feuchten, dampfenden Asphalt, um gleich darauf willkürlich in eine andere abzubiegen.

»Warte mal! Ich glaube, ich sehe ihn.« Lanthe rannte auf eine Lichtung vor ihr zu – das musste der Park sein. »Ich bin da!« Sie konnte das Portal schon sehen, keine fünfzig Meter vor ihr. »Folge meiner …« Sie verstummte, als sich ihre Nackenhaare abrupt aufrichteten.

Voller Furcht blickte Lanthe nach oben.

Überall Vrekener. Sie hockten auf den Bäumen und umzingelten sie auf dem Boden. Sie hatten sie in die Falle gelockt, mit dem Portal als Köder. »Bei den Göttern, es ist eine Falle! Sie haben auf uns gewartet und mich gejagt, damit ich dich aus deinem Versteck locke.«

Wenn der Dämon Sabine vorhin nicht abgefangen hätte, hätten sie sie geschnappt. »Abie, komm nicht her. Hier wimmelt es nur so vor ihnen!«

»Ich bin unterwegs!«

Wieder konnte Lanthe Thronos erkennen. Wie er da in seinem schwarzen Trenchcoat auf einem Ast hockte, sah er wie Gevatter Tod persönlich aus. Er grinste, wobei sich die leicht erhabenen Narben in seinem Gesicht spannten. Dann glitt er mühelos zu Boden.

Das Arschloch dachte, er hätte sie.

Ein gefährliches Erlebnis sollte doch ihre Überredungskünste wiederaufleben lassen. Viel gefährlicher als das hier konnte es kaum noch werden. Einen Versuch war es wert.

Auf sein Signal hin griffen sie alle zusammen blitzartig an. Sie holte hastig Luft und rannte auf das Portal zu.

Einige von ihnen flogen über sie hinweg. Rasch kauerte sie sich hin, um gleich darauf weiterzulaufen und ein paar anderen auszuweichen, die sie zu Fuß jagten.

»Lasst mich in Ruhe!«, rief sie. Hatte sie da eben einen Anflug von Macht gespürt?

Ohne langsamer zu werden, warf sie einen Blick über die Schulter zurück. Die Vrekener, die sie zu Fuß verfolgten, waren stehen geblieben. Die in der Luft hatten mitten im Flug innegehalten. Alle, bis auf Thronos, der mit den Zähnen zu knirschen schien und sich alle Mühe gab, ihrem Befehl zu widerstehen.

Er kam weiter auf sie zugehumpelt, Niedertracht spiegelte sich in seiner Miene, und seine Schwingen entfalteten sich voller Feindseligkeit. Immer näher …

Sollte Lanthe versuchen, Sabine zu finden? Oder die Feinde noch einmal fortzulocken, damit ihre Schwester das Portal durchqueren konnte …

Ein Vrekener nach dem anderen schüttelte ihren Befehl wieder ab. Sie griffen erneut an. In ihrer Panik rannte sie einfach weiter und stürzte sich mit dem Kopf voran in das Portal, sodass sie mit dem Oberkörper in ihrem Zimmer auf Tornin landete.

Thronos war dicht hinter ihr und erwischte ihren Fuß an der Schwelle. Sie trat nach ihm aus und traf ihn im Gesicht.

»Zurück mit dir!«, befahl sie.

Ihm war der innere Widerstreit anzusehen, als er versuchte, Widerstand zu leisten, doch er trat einen Schritt zurück.

»Wo bist du?«, fragte Sabine.

»Ich bin am Portal.«

»Dann schließe es!«

»Was ist mit dir?«

»Ich werde es die nächsten sechs Tage hier schon aushalten«, rief Sabine. »Aber wenn sie dich jetzt schnappen, habe ich keine Chance.«

»Aber …«

»Du musst es tun!«

»Ich komme wieder und hole dich!« Lanthe knirschte vor lauter Anstrengung mit den Zähnen, als sie begann, das Portal zu versiegeln, den Riss zu schließen, den sie geschaffen hatte. Die Ränder der Schwelle waren wie die Ränder einer Wunde, die behutsam geschlossen und genäht wurden, um zu heilen. »Abie, halte durch, bis ich wiederkomme!«

Kurz bevor sie die Seiten versiegelte, schob Thronos seinen Stiefel hindurch. Er blickte mit silbrig schimmernden Augen auf sie hinab, die Flügel ausgebreitet.

Lanthe lächelte ihn böse an. Die Wunde des Portals heilte – jetzt konnte nichts mehr die Ränder offen halten. Sie hörte das Echo seines Schreis, als ihm der Fuß abgetrennt wurde. Dann fiel sie mitten in ihrem Zimmer zu Boden und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich muss einen Vampir finden, irgendwen, der mich zurück zu Sabine translozieren kann. Aber die waren alle abgehauen …

Es dauerte eine Weile, bis sie sich langsam wieder aufgerichtet hatte. Sie stützte sich mit den Händen auf den Knien ab, während sie nach Luft rang. Wütend starrte sie Thronos’ Fuß an, der immer noch im Stiefel steckte. Nur seinetwegen saß Sabine jetzt auf der anderen Ebene fest.

»Ich habe es so satt, dass ihr Arschlöcher uns immer wieder verfolgt!«, schrie sie den Fuß an. »Fünfhundert Jahre dauert diese Scheiße nun schon an!« Sie beförderte ihn mit einem Fußtritt quer durch das Zimmer.

Er segelte an Omort vorbei, der in der Tür stand. »Und du wagst es, ohne sie zurückzukehren.«

Sabine spürte die Stille und die Abwesenheit ihrer Schwester, was hieß, dass sie diese Ebene verlassen hatte. Durch das Portal. Vermutlich war sie in Sicherheit.

Aber ich bin jetzt geliefert. Ganze sechs Tage lagen noch vor ihr, ehe sie auf Rettung hoffen durfte. Konnte sie so lange durchhalten? Dieser verfluchte Omort und seine Lügen!

Sie hatte keine Ahnung, wo sie vielleicht einen Vampir anheuern könnte, der sie zurücktranslozieren würde. Sie wusste nicht, wo sie bleiben sollte. Natürlich konnte sie die Illusion von Geld erschaffen und sich ein Hotelzimmer nehmen, aber die Vrekener würden auf der Stelle auf sie aufmerksam werden, wenn sie Magie anwandte.

Warum bin ich nur so mutlos? Ich hab doch schon weitaus Schlimmeres erlebt.

Vielleicht lag es daran, dass sie bald sterben würde.

Nein! Sie weigerte sich, das zu glauben. Es hieß, das Morsus greife in Wellen an. Den ersten schmerzhaften Anfällen könnte sie widerstehen. Zur Hölle damit, vielleicht würde sie am Ende einfach auf Entzug gehen und Omort sagen, er solle sich zum Teufel scheren.

Ihre Augen wurden groß. Na klar, ich werde dieses Zeug besiegen! All die Opfer, die an den Schmerzen gestorben waren, hatten sicher niemals solche Todesqualen ausgestanden, wie Sabine sie erlebt hatte. Ich bin schon Dutzende Male gestorben. Das ist doch ein alter Hut für mich.

Sie fühlte sich gleich viel besser und sah der Herausforderung fast schon mit Freude entgegen.

Und warum bin ich dann immer noch bedrückt?

Ich vermisse den Dämon. Sie hatte etwas Gutes gefunden und es nicht schnell genug gemerkt. Und es bestand wohl kaum eine Chance, je noch einmal einen Mann wie ihn zu finden: einen hinreißenden König, der ihren Nacken küsste, der sich stets rücksichtsvoll und fair verhielt – außer wenn er seine Dämonenausraster bekam, weil sie ihm davonlief – und der auch noch ihr Mann war.

Sie wollte den Dämon. Aber er will mich nicht mehr. Und das ist nur meine Schuld.

Das tut weh. Sabine fühlte schon wieder, dass ihre Unterlippe zitterte. Nicht schon wieder! Heulen war nur etwas für schwache Frauen – für solche, die die Hände rangen, für die Hoffnungslosen.

Und doch strömten ihr die Tränen übers Gesicht, und das ungewohnte Gefühl versetzte ihr einen ziemlichen Schock.