34

»Ihr könnt sie retten?«, fragte die verzweifelte Frau.

Auf Sabines feierliches Nicken hin löste sie ihr endlich die Handfesseln und band ihre Fußknöchel los.

Mit einem gemeinen Grinsen massierte sich Sabine die Handgelenke. Idiotin! Auf der Stelle streifte sie die lächerliche Bluse ab, ließ aber das Korsett an und benutzte ihre Macht, um es wie eine metallene Brustplatte aussehen zu lassen. Weiterhin imaginierte sie einen kühnen Kopfschmuck und ein Halsband, legte das Bild über ihre Erscheinung und nutzte zum Abschluss Illusionen, um sich ihr Gesicht anzumalen und die Haare zu flechten.

»Sabine, Ihr müsst Euch beeilen!«

»Muss ich?« Sie stolzierte zu der Frau hinüber. »Wage es ja nicht, mich jemals wieder bei meinem Vornamen zu nennen! Ich bin Rydstroms Königin! Eure Königin! Wir sind vermählt, ob er es nun zugeben möchte oder nicht.« Sie kehrte dem Tumult den Rücken zu. »Viel Glück noch«, warf sie über die Schulter hinweg zurück.

Die Dämonin eilte hinter ihr her, Tränen in den Augen. »A-aber Ihr sagtet …«

»Sieh mal, ist es denn wirklich an mir, das Leben von Leuten zu retten, die dumm genug waren, in einen Canyon zu rennen und sich von einem Drachen in die Enge treiben zu lassen? Ja, ich bin egoistisch, aber wer bin ich denn, dass ich mich in die natürliche Selektion einmische?« Das war doch nicht ihr Kampf …

»Ai-bee!«, erklang ein dünnes Stimmchen in der Ferne.

Sabine erstarrte. Puck befand sich unter den Dämonen, die in der Falle saßen. Der kleine Rabauke, der nicht einmal genug Verstand besaß, um sich nicht als Drachenfutter anzubieten, hatte gerade ihren Namen gerufen. Das bedeutete, dass ihr genau zwei Optionen blieben: Selbstverachtung, wenn sie ihren Hals riskierte, um ihn zu retten, oder ein miserabler Tag, wenn der Knirps starb. Sie stieß laut die Luft aus. Vielleicht sogar noch Schlimmeres als ein miserabler Tag.

Sie drehte sich wieder um. »Ich kann nicht glauben, dass ich das tue«, murmelte sie vor sich hin.

Die Frau presste beide Hände auf ihre Brust. »Oh, vielen Dank!«

Statt einer Antwort stürzte sich Sabine nur auf sie und fletschte die Zähne. »Auf gar keinen Fall tue ich das, damit du mir dankst!« Dann eilte sie weiter. So blöde … so verdammt blöde.

Sicher, Sabine besaß die Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen.

Aber was, wenn dieses Riesenmistvieh nicht plaudern wollte?

»Ich … erinnere mich nicht«, gestand Rydstrom Durinda. Auch jetzt nicht. Es war genauso, wie Sabine vermutet hatte, und er hatte es vehement geleugnet. Was bedeutete, dass er sie unabsichtlich belogen hatte.

»Nun, das ist überaus unangenehm.« Durinda starrte stur geradeaus. »Es ist ja auch schon einige Jahrhunderte her, und ich weiß, dass es … viele gab.«

Hatte die Dämonin versucht, eine Affäre wiederaufleben zu lassen? Er hatte angenommen, dass sie ihm aus purer Freundlichkeit helfen wollte, sich einzuleben. Er hatte gedacht, es hätte ihr gefallen, mit ihm in Erinnerungen zu schwelgen.

»Es ist in der Tat schon lange her.«

Sie setzten den Ritt in peinlichem Schweigen fort, aber als sie die Anhöhe über dem Lager erreichten, bot sich ihnen eine unglaubliche Szene.

In vollem Sorceri-Ornat und vor sich hingrummelnd rannte Sabine durch die Menge – wobei sie ohne jede Rücksicht jeden, der sie behinderte, aus dem Weg schubste –, und zwar direkt auf eine Art Drachen zu. Das Ungeheuer machte Anstalten, eine Gruppe von Dämonen anzugreifen, die es in die Enge getrieben hatte – unter ihnen war auch Puck.

Rydstrom zog auf der Stelle sein Schwert, gab dem Pferd die Sporen und galoppierte den Hügel hinab auf sie zu. Auf keinen Fall konnte er sie rechtzeitig erreichen.

Als Sabine dem Untier nahe genug war, brüllte sie laut, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Rydstrom blieb fast das Herz stehen, als es sich in einer einzigen geschmeidigen Bewegung zu ihr umdrehte – pure Muskelkraft und knackende Schuppen.

»Nein!«, schrie er. »Weg da!«

Das Untier zischte und züngelte mit seiner gespaltenen Zunge. Doch sie stand mit erhobenem Kinn und durchgedrückten Schultern vor ihm und hob die Handflächen. Hitze ließ die Luft über ihren Händen wabern. Als es mit seinen Klauen nach ihr schlug, sprang sie darüber hinweg und duckte sich gleich darauf unter seinem Schwanz hindurch, der über sie hinwegfegte. »He! Das war knapp! Hör sofort damit auf!«

Das Ungeheuer hielt inne und schien sie wütend anzustarren.

Rydstrom sprang in vollem Galopp von seinem Pferd ab. Als er den beiden Kontrahenten näher kam, hörte er sie zu dem Untier reden. Sie hatte gesagt, dass sie mit Tieren sprechen könne. Ob sie es aufhalten konnte?

»Schon besser so. Du willst mich doch gar nicht fressen«, murmelte sie. »Denn wenn ich auch am zartesten bin, so bin ich zugleich auch giftig.« Sie kicherte, als ob sie einen Witz gemacht hätte. »Und jetzt sei ganz lieb zu uns, mein Großer.« Vorsichtig streckte sie die Hand aus und streichelte über seine schimmernden Schuppen. Es zuckte zurück, ließ dann aber zu, dass sie es noch einmal streichelte. »Wir wussten nicht, dass das hier dein Zuhause ist.« Das Untier schnaubte laut.

Sabine sah zu Rydstrom hinüber, und ihre Augen leuchteten hell in der Maske aus schwarzem Kajal. »Meinst du, es könnte mich in einem Happen verschlingen?«

»Komm weg von ihm!«

»Damit du diesen außergewöhnlichen Burschen erschlagen kannst?«

»Um dich zu beschützen, ja!« Rydstrom hasste die Vorstellung, so ein Tier zu töten, doch er würde es tun.

»Ich hab es unter Kontrolle. Zum Glück hatte wenigstens eine Person hier so viel Verstand, mich zu befreien – gegen deine Befehle!«

Hatte sie es wirklich unter Kontrolle? Er würde keinesfalls zulassen, dass sie sich in Gefahr begab, aber sie sah aus, als ob sie … sich amüsierte. Er gab den in die Enge Getriebenen ein Zeichen, dass sie sich entfernen sollten.

Das Ungeheuer erstarrte.

»Red weiter«, murmelte Rydstrom, während er Puck und einem weiteren Dämonenjungen half. Inzwischen waren fast alle der Falle entkommen.

Sabine fuhr fort. »Zeit zur Beichte, Drache. Im letzten Sommer, als meine Schwester Lanthe und ich eines Abends schreckliche Langeweile hatten, hätten wir um ein Haar alle Geschöpfe des Reichs der Finsternis durch ein Portal zu einem Ort geschickt, der Times Square heißt. Inzwischen haben wir eingesehen, dass das wohl nur für uns beide zum Totlachen gewesen wäre.«

Langsam senkten sich die Lider des Tiers über seine Augen, als ob es hypnotisiert würde. Als alle Leute sich in sicherer Entfernung befanden, ließ Rydstrom sein Schwert sinken.

Statt zu fliehen, als man sie befreit hatte, hatte sich Sabine aus freien Stücken einem Ungeheuer in den Weg gestellt, um andere zu retten. Sie hatte ihm einmal gesagt, sie würde unter keinen Umständen jemand anderem helfen, wenn dabei nicht etwas für sie herausspringen würde. Doch jetzt hatte sie genau das getan …

»Cwena«, murmelte er. Vor lauter Stolz schnürte es ihm fast die Kehle zu. Kleine Königin.

Die Art und Weise, wie sie mit der Bestie umging, war das Erstaunlichste, was er je gesehen hatte. Sie schien unfähig zu sein, sich gegen ihren Zauber zu wehren.

Das haben wir jedenfalls gemeinsam, Drache.

»Würdest du uns erlauben, noch ein oder zwei Nächte hierzubleiben?«, fragte sie den Drachen.

Seine Antwort bestand darin, ihr noch einmal seinen heißen Atem ins Gesicht zu pusten. Dann wandte er seinen riesigen Körper ab und stampfte in die Nacht hinaus.

Die Leute jubelten. Puck stürzte sogleich kopfüber auf Sabine zu, so wie Kinder es immer tun.

Sie allerdings kniete sich nicht hin und breitete die Arme aus, um den Jungen darin aufzufangen. Stattdessen packte sie ihn am Gürtel, trug ihn mit sich, als ob er eine Handtasche wäre, und schimpfte ihn aus, weil er so dumm gewesen war, vor einem Vieh, dessen Fänge größer waren als er selbst, nicht auf der Stelle davonzulaufen. Und das Kind sah aus, als ob es gar nicht glücklicher sein könnte.

Von allen Seiten stürzten die Leute auf sie zu, um ihre Dankbarkeit auszudrücken.

Sie winkte ihnen nur gleichgültig mit einer Hand zu und murmelte: »Ja, ja. Das könnt ihr mir mit Gold sagen.«

Sogar Durinda dankte ihr, als sie Puck holte.

Als Sabine endlich bei Rydstrom ankam, fehlten ihm die Worte.

»Wenn du meinst, du könntest mir die Arme wieder fesseln«, begann sie, »dann ruf ich meinen großen Freund wieder her, und er wird seinen Speiseplan noch einmal überdenken.« Damit setzte sie ihren Weg fort, ohne ihn weiter zu beachten.

»Einsamer Dämon«, hatte Sabine zu ihm gesagt. »Du brauchst mich so sehr.«

Er fürchtete, dass sie recht hatte.