16
Rydstrom hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon zwischen Bewusstsein und Ohnmacht hin- und herschwankte. Er öffnete seine Augen einen Spaltbreit. Er lag auf dem Bett in der Zelle? Ein Schmerz, wie er ihn nie zuvor gespürt hatte, brach über ihn herein, aber nur oberhalb des Halses. Darunter spürte er gar nichts.
»Bringt die alte Hexe her!«, befahl Sabine jemandem, den er nicht sehen konnte. »Rasch!«
Etwas später – wie lange es gedauert hatte, konnte er nicht sagen – schlich eine alte Frau in die Zelle, die eine Rolle Bandagen und einen triefnassen Leinensack trug. Sie setzte sich neben ihn aufs Bett, schaufelte eine dicke Paste aus streng riechenden Kräutern aus dem Sack und schmierte sie in seine Wunde. Er spürte nichts.
Während die Alte arbeitete, beobachtete Rydstrom unter halb geschlossenen Lidern, wie Sabine ruhelos auf und ab lief. Sie sollte nicht wissen, dass er wach war.
»Wie lange wird es dauern, bis er wieder gesund ist?«, fragte Sabine.
»Zwei Tage«, erwiderte die alte Frau, »bis du ihm seinen Samen stehlen kannst.«
Die Unverfrorenheit der Alten schien Sabine nicht zu überraschen.
Eine andere Frau kam hereingestürzt. »Die ganze Burg ist aus dem Häuschen! Ich hab gehört, du hast Omort angeschrien.« Sie hatte schwarzes Haar und kaute aufgeregt an den Fingernägeln. Ihre Züge ähnelten denen Sabines. Noch eine Schwester? »Verdammt, Abie, willst du vielleicht wie das Orakel enden?« Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Bett. »Oh, dein Dämon! Kein Wunder, dass du sauer geworden bist.«
Sabine begann erneut auf und ab zu laufen. »Gib uns das Heilmittel, Alte. Ich weiß, dass du das kannst.«
»Ich habe einen heiligen Eid geschworen.« Die Frau begann, die Bandagen abzuwickeln. »Wenn ich ihn breche, wäre das mein Tod, und euch würde ein neuer Trank eingeflößt werden.«
»Was muss geschehen, damit du es mir gibst?«, fragte Sabine mit gesenkter Stimme.
»Einer von denen, die diesen Pakt eingegangen sind, muss den anderen davon entbinden. Oder sterben.«
»Es muss doch einen anderen Weg geben.«
»Du träumst wohl, Zauberin«, murmelte die Frau. »Und Träume gehören in den Schlaf.«
»Ich schmiede Pläne. Und Pläneschmieden ist ein fester Bestandteil jeder meiner wachen Minuten.«
Die beiden starrten einander an. Was ging hier vor sich? Rydstrom blinzelte und für den Bruchteil einer Sekunde erschien ihm die alte Frau wie eine junge, elfenhafte Brünette. Was zum Teufel war das denn? Sabine schien nichts bemerkt zu haben.
Ein erstickter Laut entrang sich seiner Kehle und unterbrach diesen angespannten Moment.
Sabine wirbelte zu ihm herum und näherte sich dem Bett. »Sieh nicht nach unten, Dämon.« Sabine hatte ihm in ihrer rasenden Wut das Leben gerettet. Vorerst. Aber war ihr denn nicht klar, dass Omort wiederkommen würde, ihn immer wieder jagen und ihn angreifen würde, dieser verfluchte Feigling!
Sie las ohne jede Schwierigkeiten seine Gedanken. »Ich werde für deine Sicherheit sorgen. Das wird nicht wieder passieren.« Zärtlich strich sie ihm über die Wange, um gleich darauf mit gerunzelter Stirn auf ihre Hand zu starren. Sie zog sie zurück und blickte sich hastig um, um zu sehen, ob irgendjemand sie dabei beobachtet hatte. »Schlaf jetzt, Dämon.«
Er konnte seine Augen nicht länger offen halten. »Du sollst meine Gedanken nicht lesen«, dachte er, »du sollst …«
»Werde ich nicht«, sagte sie.
»Gib mir dein Wort!«
»Du hast es.« Dann murmelte sie: »Schlaf jetzt, Dämon. Und träume. Träume von dem, was du am dringendsten brauchst.«
Seine Lider schlossen sich. Und er träumte.
Von einem Stuhl neben dem Feuer aus blickte Rydstrom auf seine Frau in ihrem Bett. Das flackernde Licht erleuchtete ihr Gesicht, während sie friedlich schlummerte. Ihr geliebter Sohn schlief in einem Gitterbettchen in ihrem Schlafgemach. Draußen tobte ein Sturm über dem Meer und peitschte gegen die Burg; drinnen war es warm. Rydstrom wachte über die beiden, beschützte sie.
Nichts hatte sich je so gut angefühlt.
Der Kleine klang hungrig, und so ging Rydstrom an sein Bett, nahm ihn zärtlich auf den Arm und brachte ihn seiner Mutter, damit die ihn an die Brust legen konnte. Noch halb im Schlaf, nahm Sabine ihr Baby liebevoll entgegen und murmelte Rydstroms Namen.
Meine Familie …
Blitzartig öffneten sich seine Augen. Das ist es, was ich am dringendsten brauche. Und sie ist der Schlüssel zu allem …
Sofort überfiel ihn wieder der Schmerz. Mit jedem Atemzug schossen höllische Qualen durch seinen ganzen Körper. Mein Rückgrat ist geheilt. Wie lange er wohl bewusstlos gewesen war …?
In diesem Augenblick betrat Sabine die Zelle. Sie hatte ein anderes metallenes Oberteil an als zuvor, und ihre Augen waren dunkelblau geschminkt. Wie viel Zeit war vergangen?
»Ich kann nicht lange bleiben, ich wollte nur kurz sehen, wie es meinem ungeheuer dämlichen Dämon geht.«
Er merkte gleich, dass sie gereizt war. Die liebevolle, weiche Sabine von vorher war verschwunden.
»Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte er mit Mühe. Er lag im Bett, war aber nur mit einer Fußfessel angekettet; die Arme hatte er frei – nicht dass er schon in der Lage wäre, sie zu heben.
»Einen Tag. Dein Körper heilt sehr schnell. Dein Rückgrat und dein Hals haben sich bereits regeneriert, so wie auch deine ramponierten Lungen, wenn du schon wieder sprechen kannst.«
Als er auf den Verband sah, der um seinen ganzen Oberkörper gewickelt war, sagte sie: »Deine Haut hat sich noch nicht über der Wunde geschlossen, aber das wird sie bald. Du hast Glück, dass es dich nicht schlimmer erwischt hat. Warum in Gottes Namen musstest du Omort derart herausfordern?«
»Weil es sich gut angefühlt hat … es endlich zu tun.«
»Wenn ich nicht gewesen wäre, wärst du jetzt tot.«
Sabines Macht und Gerissenheit waren unbeschreiblich gewesen. In gewisser Weise war sie genauso mächtig wie Omort. Mächtiger sogar, denn der Hexenmeister begehrte sie.
Aber erwiderte sie seine Gefühle? Hatten sie miteinander geschlafen? In ihren Reihen hatten sich schon weitaus widerwärtigere Dinge abgespielt. Vielleicht war das der Grund, wieso sie sich mit ihm verbündet hatte.
Oder lag es daran, dass sie ihn ebenfalls nicht töten konnte? Wenn Omort nicht unsterblich wäre, könnte Sabine ihn dann besiegen? Möglicherweise schmiedete sie gerade in diesem Augenblick einen ihrer finsteren Pläne, um genau das zu erreichen. Was würde sie tun, wenn Rydstrom sie überzeugen könnte, dass das Schwert funktionierte? Würde sie handeln?
Die Königin auf dem Schachbrett, die auf den richtigen Moment wartet, um zuzuschlagen.
Rydstrom konnte ihn ihr verschaffen. Was hatte er schon zu verlieren?
Sabine verschränkte die Arme über ihrem metallenen Oberteil. »Ich nehme an, du verspürst keinerlei Bedürfnis, mir dafür zu danken, dass ich dir das Leben gerettet habe. Du bist ein verflucht unfreundlicher Dämon und überdies noch ungeheuer dämlich.«
Er war sich nie zuvor so sicher gewesen, dass sein Tod unmittelbar bevorstand, und sie hatte dies verhindert. Aber …
»Ich habe es doch nur dir und deinen ganzen Tricksereien zu verdanken, dass ich überhaupt hier bin!« Seine Wunde begann von Neuem teuflisch zu schmerzen.
»Du hast es mir zu verdanken, dass Omort dich die ganzen Jahre lang verschont hat. Hast du dich denn nie gefragt, warum er nie versucht hat, dich ermorden zu lassen?«
Das hatte sich Rydstrom durchaus gefragt, vor allem seit er sich in New Orleans niedergelassen hatte und mehrere Monate lang an demselben Ort geblieben war. Ihm gefiel sein Haus dort. Es reichte aus, bis er sein Königreich zurückgewinnen würde. Bis er Tornin zurückerobern würde – und von allem Bösen befreien würde. Er schloss kurz die Augen, als ihm wieder einfiel, was er gestern Nacht gesehen hatte.
»Schläfst du mit Omort?«
»Ich schlafe nicht mit ihm. Ich schlafe mit niemandem. Ich habe nämlich vor, einen Erben zu gebären, und da möchte ich keinerlei Zweifel an seiner Vaterschaft aufkommen lassen.«
Sie hatte nicht gesagt, dass sie nicht irgendwann einmal mit Omort geschlafen hatte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es nicht so war. Oder vielleicht weigerte er sich auch einfach, es zu glauben. Weil sie dann niemals ihren Platz in seiner Zukunft einnehmen würde.
»Warum hast du gegen Hettiah gekämpft?«, fragte er. Es fiel ihm immer leichter, zu sprechen.
»Sie hat mich angegriffen. Sie sucht schon seit Jahrhunderten nach einem Weg, sich an mir zu rächen.«
»Warum?«
»Vermutlich, weil ich einmal vor dem ganzen Hof einen Kranz aus ihren Eingeweiden geflochten habe. Ich hab ihr ein paarmal die Organe rausgerissen, und möglicherweise bewahre ich diese seitdem in Gläsern auf meinem Nachttisch auf.«
»Das … das ist nicht dein Ernst.« Und der Vampir wagt es zu behaupten, ich bringe sie um?
»Oh doch. Mir fehlen noch ihr Blinddarm und die Milz.« Sie stand auf und ging zum Tisch, auf dem ein Teller mit etwas zu essen stand. »Da wir gerade schon davon sprechen – hast du Hunger?«
Er warf einen gereizten Blick auf den Teller voller Obst und Gemüse. Nicht das kleinste Stückchen Fleisch war darauf zu finden.
»Also, Zauberin, wie soll ich denn deiner Meinung nach gesund werden … wenn du mir Kaninchenfutter vorsetzt?«
Die ganze letzte Woche lang hatte Sabine ihm schon Fleisch und Dämonenbräu – ein starkes, fermentiertes Getränk – vorenthalten. Die Sorceri tranken widerlich süße Weine und Brandys und nannten Dämonenbräu ein primitives Gebräu. Aber er vertrug ihre zuckrigen Kreationen nicht.
»Immer wieder vergesse ich, dass mein kleiner Schatz ein Fleischfresser ist.« Sie stellte den Teller wieder hin. »Hier, ich werde es dir wenigstens ein bisschen gemütlicher machen.« Mit einer Geste ihrer Hand ließ sie die Zelle wie sein altes Zimmer hier auf der Burg erscheinen.
Doch diesmal fügte sie einen Sturm hinzu, der draußen tobte. Wie konnte sie davon wissen? »Du hast meine Gedanken gelesen, stimmt’s?«
»Das hab ich«, sagte sie in zerstreutem Tonfall, obgleich ihre Miene Interesse verriet.
Er vermutete, dass sie ihre Miene hinter einer Illusion verbarg. In Zukunft würde er nicht mehr auf ihr Gesicht achten, sondern ihre Hände beobachten, die Anspannung ihrer schlanken Schultern.
»Brichst du deine Versprechen öfter?«
»Häufig.« Sie nickte. »Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich es immer tue.«
Die Tatsache, dass sie das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, gebrochen hatte, war schon schlimm genug. Ihr Mangel an Scham machte es noch um einiges schlimmer.
»Macht es dir denn gar nichts aus, als Lügnerin bekannt zu sein?«
»Ist doch nicht meine Schuld, dass die Wahrheit und ich uns fremd sind – wir sind einander nie ordnungsgemäß vorgestellt worden.«
»Und was hast du so erfahren, als du in meinen Kopf eingebrochen bist?«
Sie wirkte angespannt, schien auf irgendetwas draußen zu lauschen. Wieder war es so, dass sie eigentlich nicht besorgt wirkte, und trotzdem lief sie nervös auf und ab.
»Früher haben dich die Unwetter, die über dem Meer tobten, immer in den Schlaf gelullt, und dir fehlt dein Zimmer im Turm. Du hast ein angespanntes Verhältnis zu deinem Bruder, was dich außerordentlich beunruhigt. Du nimmst es ihm übel, dass er für den Verlust deines Königreichs verantwortlich war.«
Alle nahmen an, dass er seinem Bruder Cadeon die Schuld dafür gab, dass er sein Königreich verloren hatte. Das tat er zum Teil auch – sollte er darüber vielleicht erfreut sein? Aber Cadeon war auch ein Lügner und Betrüger, und er zog in den Krieg, um daraus Profit zu schlagen. Sein Leben hatte keinerlei Bedeutung.
Und deines schon …?
»Du hast zwei Schwestern«, fuhr sie fort. »Mia und Zoë, mit denen du kaum Kontakt hast. Sie führen ihr eigenes Leben und du fragst dich, ob du sie vielleicht mehr in deine Suche hättest einbinden sollen. Du schämst dich, weil du feststellen musstest, dass du auf einen deiner Freunde eifersüchtig bist, der endlich seine Gefährtin gefunden hat. Ein Lykae. Ich glaube, er heißt Bowen MacRieve?«
Rydstrom sah ihr in die Augen, auch wenn es ihm unangenehm war, was sie alles gesehen hatte. Denn er war eifersüchtig, und das hielt er für eine Schwäche. Ein guter Mann würde sich für seinen Freund freuen. Aber Rydstrom war einer der Ältesten in der Mythenwelt und im Lauf der langen Jahre seines Lebens schienen alle seine Kameraden nacheinander ihre Frauen gefunden zu haben. Sie alle hatten etwas erfahren, von dem er nur träumen konnte … etwas so Grundlegendes, dass sie angefangen hatten, ihn deswegen zu bemitleiden.
Seine Miene war stoisch, aber sie konnte sehen, dass ihre Entdeckungen ihn verunsicherten.
»Sonst noch was, Zauberin?«
»Jede Menge.« Der Dämon war ein einsamer Mann. Er hatte Freunde, war aber viel zu sehr von seiner Mission besessen, um ihre Freundschaft zu genießen. Er hielt nicht allzu viel von seinem verrufenen Bruder, und er missbilligte dessen Söldnertrupp und verbrachte darum so wenig Zeit wie möglich mit ihnen.
Sabine hatte ihn keiner Geliebten gestohlen.
»Vor allem«, sagte sie, »habe ich gesehen, dass du … einsam bist.«
Seine Einsamkeit hatte etwas in ihr berührt, was Sabine verwirrte und zu ihrem allgemeinen Zustand der Beunruhigung beitrug. Letzte Nacht, als sie sich einen Moment lang den Schmerz vorgestellt hatte, den Rydstrom fühlen müsste, wenn ihm die Arme abgehackt würden, war sie dermaßen abgelenkt gewesen, dass sie Hettiah nicht einmal gehört hatte, als diese näher gekommen war und sie angegriffen hatte. Gefühle machten einen dumm, verletzlich.
Darüber hinaus hatte sie beschämt, was Rydstrom bei Hofe gesehen hatte. Niemals würde sie die angewiderte Miene auf seinem Gesicht vergessen, als er betrachtet hatte, was einst ihm gehörte. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass er glaubte, sie wäre wie diese Kreaturen, nur weil sie hier lebte.
Nur weil ich nicht zurückschrecke, heißt das noch lange nicht, dass ich blind bin.
»Du hattest kein Recht, in meinen Kopf einzudringen!« Er wand sich auf dem Bett, offensichtlich vor Schmerzen. »Und dann hast du mir einen Traum eingeflößt, von …«
»Traum von was, Rydstrom?« Den hatte sie wohl verpasst. »Ich sagte, du sollest von dem träumen, das du am nötigsten brauchst. Ich meinte deine Heilung. Hat dein Verstand dir etwas anderes eingegeben?«
Seine Miene wurde verschlossen. »Das geht dich nichts an.«
Sie verfolgte das Thema nicht weiter. Vorläufig.
»Außerdem habe ich gesehen, dass du mich auf deine Seite hinüberziehen möchtest. Das wäre wirklich ein gelungener Schachzug. Eins hast du dabei allerdings nicht bedacht: Ich werde mich wohl kaum gegen den mächtigsten Hexer stellen, der je gelebt hat.«
»Ich habe deine Macht gesehen. Du bist stärker als er.«
»Hör auf, an meine Eitelkeit zu appellieren, Dämon.« Sie musterte ihre Fingernägel. »Das wird dich nicht weiterbringen.«
»Verbünde dich mit mir, und du erhältst in unserer Armee Asyl.«
»Asyl? Wo denn? In deiner Burg? Oh, hab ich ganz vergessen, du hast ja gar keine. Bei Omort bin ich zumindest vor deinesgleichen in Sicherheit.«
»Werde zu meinesgleichen und niemand wird dir je wieder wehtun.«
Sie setzte sich ans Fußende des Bettes. »Das ist der Unterschied zwischen mir und dir. Ich versuche nicht, dich zu bekehren. Mag ich es, dass du niemals lügst und Dinge wie Tapferkeit über alles andere stellst? Natürlich nicht. Aber ich versuche nicht, dir diese Eigenschaften auszutreiben. Warum versucht deinesgleichen immerzu, meinesgleichen zu ändern?« Das war es, was sie an ihnen am meisten hasste – nicht ihre seltsamen, ungewöhnlichen Überzeugungen an sich, sondern dass sie sie allen anderen aufzwingen wollten.
»Weil wir das glücklichere Leben führen. Wir schätzen Loyalität, Treue, Ehre …«
»Alle drei überbewertet. Die einzige Chance, um eine dieser Tugenden zu zeigen, liegt darin, sich selbst Wünsche zu versagen.«
»Und was ist dann mit deiner Loyalität gegenüber Omort? Bist du schon einmal versucht gewesen, dich mit seinen Feinden zusammenzutun?«
»Niemals«, log sie. Sie war ständig versucht, ihn zu hintergehen. Momentan umso mehr, da er unter dem Druck der aufständischen Rebellen, der Vampire, die vor den Burgmauern darauf warteten, bei Sonnenuntergang losschlagen zu können, und dem Spott einer dummen Walküre zusammenzubrechen drohte.
Die Vorstellung von Sabine mit einem Dämon …
Doch in Wahrheit hätte Sabine treu zu Omort stehen können. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Er war ihr so galant erschienen, als er Lanthe und sie vor einem Angriff unwissender Menschen gerettet hatte. Als er sie dann auf eine Ebene gebracht hatte, auf der weder Menschen noch Vrekener lebten, hatten sich die Schwestern endlich sicher gefühlt, geschützt auf Tornin. Bis Omort das erste Mal seine Hand auf Sabines Schenkel gelegt hatte.
Natürlich hatten sie nicht einfach nur deshalb geglaubt, dass er ihr Halbbruder war, weil er es ihnen gesagt hatte. Aber sie wussten, dass ihre Mutter, Elisabet, irgendeine Sünde begangen hatte, die ihre edle Familie vom Clan der Deie-Sorceri veranlasst hatte, sie zu enterben. Irgendeine Verfehlung, die ihr das Gefühl gegeben hatte, so wertlos zu sein, dass Sabines und Lanthes nichtsnutziger Vater ihr wie eine gute Partie erschienen war.
Von Omort hatten sie dann erfahren, dass Elisabet das Gefäß ihrer Epoche gewesen war. Und dass sie ein absolut böses Wesen geboren hatte – ihn …
Rydstrom unterbrach ihren Gedankengang. »Omort kann die Allianz, die die Walküre Nïx gerade zusammenstellt, nicht schlagen. Nicht allein.«
»Ach ja, euer Vertas. So hat Nïx es genannt.«
»Du hast mit ihr gesprochen?«
»Sagen wir eher korrespondiert. Sie ist übrigens vollkommen geisteskrank. Und du traust einer Wahnsinnigen zu, eure Armee anzuführen?«
»In ihrem Wahnsinn liegt Methode«, erwiderte er trocken, aber sie vernahm den respektvollen Unterton in seiner Stimme.
Glücklicherweise war es ja nicht sein Respekt, den Sabine wollte, darum war sie auf die Walküre auch nicht eifersüchtig. Sie konnte sich seinen Respekt jederzeit verdienen, wenn sie wollte. Falls sie es wollte.
»Außerdem wird Omort nicht allein sein, Dämon. Du hast doch die Mitglieder seiner Armee gesehen.« Mitglieder, die sie verlieren würden, wenn Omort sich nicht schnellstens wieder in die Gewalt bekam. »Diese Akzession sollte gut ablaufen.«
»Und es stört dich gar nicht, dass wir auf entgegengesetzten Seiten kämpfen werden?«
»Du tust ja gerade so, als wäre das nicht schon immer so gewesen.«
»Vielleicht war es so, aber es wird nicht länger so bleiben.«
»Dann wirst du dich wohl dem Pravus anschließen müssen, denn ich habe vor, auf der Seite der Sieger zu stehen.«
Doch zum allerersten Mal kamen ihr Zweifel. Omort erwies sich mehr und mehr als nutzlos gegen die Bedrohungen, die auf allen Seiten lauerten. Ohne ihn an der Spitze war die Armee lediglich eine brodelnde Gerüchteküche und ein Hort der Instabilität. Bereits jetzt zerbrachen immer wieder Tafeln an der Ostwand, wenn kleinere Faktionen den Pravus verließen.
Heute Abend würden Sabine und Lanthe bei Einsetzen der Dunkelheit ihr Leben im Kampf riskieren müssen, weil er der Herausforderung nicht gewachsen war.
»Du musst eines begreifen, Dämon: Omort kann wahrhaftig nicht getötet werden. Es gibt einfach keinen Weg, ihn zu besiegen.«
»Und was, wenn es ihn doch gäbe?«
»Du glaubst also immer noch an Groots Schwert.« Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Das ist nur ein Märchen, Rydstrom. Selbst wenn es funktionieren würde und selbst wenn du frei wärst, würdest du niemals dicht genug an Omort herankommen, um es einzusetzen.«
»Es wird funktionieren. Nïx hat einen Eid darauf abgelegt, dass es funktioniert. Und sie irrt sich nie.«
»Diesmal schon …« Sabine verstummte, als von draußen ein Schrei an ihr Ohr drang. Bald folgte der Lärm aufgezäumter Pferde und marschierender Soldaten.
Sonnenuntergang. Der Angriff der Vampire hatte begonnen. »Ich muss jetzt gehen. Ich werde ein Weilchen nicht herkommen können.«
»Wieso? Wohin gehst du?«
Ich ziehe aus, um die Risse in der Zurechnungsfähigkeit meines Bruders zu kitten. Und wenn ich keinen Erfolg habe … »In die Schlacht.«