SAAT
Es war ein Wintermorgen, kalt und klar, und Monzas Atem blies weiße Wölkchen in die Luft.
Sie stand draußen vor dem Saal, in dem man ihren Bruder getötet hatte. Auf jenem Balkon, von dem man sie damals geworfen hatte. Ihre Hände ruhten auf dem Geländer, über das man sie gerollt hatte. Über dem Berghang, auf dem sie beinahe zu Tode gestürzt war. Sie fühlte immer noch die nagenden Schmerzen in den Knochen ihrer Beine, auf dem Rücken ihrer behandschuhten Hand, seitlich an ihrem Kopf. Sie fühlte die brennende Gier nach der Spreupfeife. Es war alles andere als behaglich, von hier oben in den Abgrund hinunterzustarren, auf die winzigen Bäume, die ihren Fall damals gebremst hatten. Deswegen kam sie jeden Morgen hierher.
Ein guter Anführer sollte sich nie behaglich fühlen, hieß es bei Stolicus.
Die Sonne stieg langsam am Himmel empor, und die leuchtende Welt war voller Farben. Das Blut war vom Himmel gesickert und hatte ein strahlendes Blau zurückgelassen, weiße Wolken krochen hoch oben dahin. Im Osten verlor sich der Wald in einem Flickenteppich von Feldern – Flächen aus fahlem Grün, fetter schwarzer Erde, goldenem Korn. Wenn man den Blick noch weiter in die Ferne richtete, dann mündete dort der Fluss im grauen Meer, verzweigte sich in einem breiten Delta voller versprengter Inseln. Monza konnte winzige Türme dort erahnen, Gebäude, Brücken, Mauern. Das große Talins, nicht größer als ihr Daumennagel. Ihre Stadt.
Die Vorstellung kam ihr noch immer vor wie das Gefasel eines Verrückten.
»Euer Exzellenz.« Monzas Kämmerer lauerte in einem der hohen Eingänge und verbeugte sich so tief, dass er beinahe den Stein hätte lecken können. Fünfzehn Jahre lang hatte er Orso gedient, um dann, nach der Erstürmung von Fontezarmo, die er unbeschadet überstanden hatte, mit bewundernswerter Geschmeidigkeit von einem Dienstherrn zu einer Dienstherrin zu wechseln. Monza hatte schließlich Orsos Stadt gestohlen, seinen Palast, sogar einige seiner Kleider, die sie allerdings ein wenig hatte ändern lassen. Wieso also nicht auch seine Bediensteten? Wer verstand sich denn besser auf ihre Arbeit?
»Was ist?«
»Ihre Minister sind hier. Lord Rubine, Kanzler Grulo, Kanzlerin Scavier, Oberst Volfier und … Frau Vitari.« Er räusperte sich und wirkte leicht betreten. »Darf ich fragen, ob Frau Vitari bereits einen besonderen Titel erhalten hat?«
»Sie kümmert sich um jene Dinge, die niemand, der einen besonderen Titel trägt, erledigen kann.«
»Natürlich, Euer Exzellenz.«
»Führen Sie sie herein.«
Die schweren Türflügel schwangen auf. In die gehämmerten Kupferplatten, die das Holz bedeckten, hatte man gewundene Schlangen eingraviert. Nicht so kunstvoll, wie Orsos Löwenköpfe aus Furnier gewesen waren, dafür aber wesentlich widerstandsfähiger. Dafür hatte Monza gesorgt. Ihre fünf Besucher stolzierten, schritten, wuselten und schlurften über die Schwelle, und ihre Schritte hallten über den kühlen Marmor von Orsos privatem Audienzsaal. Es war schon zwei Monate her, und sie hatte immer noch nicht verinnerlicht, dass das alles nun ihr gehörte.
Vitari kam als Erste, und sie trug ungefähr dieselbe dunkle Kleidung und dasselbe süffisante Grinsen wie damals, als Monza ihr in Sipani das erste Mal begegnet war. Dann erschien Volfier, steif aufgerichtet in seiner tressenbesetzten Uniform. Scavier und Grulo drängten sich gegenseitig in dem Versuch beiseite, als Nächster zu folgen. Der alte Rubine, schwer unter seiner Amtskette gebeugt, schleppte sich als Letzter dahin und nahm sich wie immer viel Zeit.
»Du hast dieses Ding ja immer noch nicht rausgeschmissen.« Vitari warf dem riesenhaften Porträt Orsos, das wie zuvor von der Wand hinabsah, einen langen Blick zu.
»Wieso sollte ich? Es erinnert mich an meine Siege und an meine Niederlagen. Erinnert mich daran, wo ich herkomme. Und dass ich nicht die Absicht habe, je wieder dorthin zurückzukehren.«
»Außerdem es ist ein schönes Gemälde«, bemerkte Rubine, der sich betrübt umsah. »Es sind ja nur noch so wenige geblieben.«
»Die Tausend Klingen sind, wenn sonst schon nichts, zumindest sehr gründlich.« Aus dem Saal war ungefähr alles verschwunden, was nicht angenagelt oder in den Berghang gemeißelt gewesen war. Orsos riesenhafter Schreibtisch stand noch immer grimmig in einer Ecke geduckt da, wenn auch leicht von einem Axthieb versehrt, weil jemand darin offenbar Geheimfächer vermutet hatte. Der hoch aufragende Kaminsims, der von den monströsen Marmorstatuen des Juvens und des Kanedias gestützt wurde, hatte sich ebenfalls nicht wegtragen lassen und umrahmte nun ein paar flammende Scheite, denen es jedoch nicht im Geringsten gelang, die gähnende Halle zu erwärmen. Der große runde Tisch stand noch an seinem Platz, dieselbe Karte wie immer war darauf ausgerollt. So wie es am letzten Tag gewesen war, an dem Benna noch lebte; allerdings war sie jetzt an einer Ecke mit ein paar braunen Spritzern von Orsos Blut befleckt.
Monza ging darauf zu, verzog leicht gequält das Gesicht, als es in ihrer Hüfte knackte, und ihre Minister schlossen einen Kreis um den Tisch, so wie Orsos Minister es vordem auch getan hatten. Es hieß, dass sich die Geschichte immer wiederholte. »Welche Neuigkeiten bringen Sie?«
»Gute«, sagte Vitari, »wenn man schlechte Nachrichten mag. Wie ich erfahren habe, sind die Baoliten mit zehntausend Mann über den Fluss gekommen und in osprianisches Gebiet eingefallen. Muris hat seine Unabhängigkeit erklärt und wieder einmal Krieg mit Sipani angefangen, während sich dort in den Straßen Sotorius’ Söhne befehden.« Ihr Finger zuckte über die Landkarte und illustrierte unbeeindruckt das Chaos auf dem Kontinent. »Visserine hat noch immer keinen neuen Regenten und ist ein geplünderter Schatten seines früheren Glanzes. Gerüchteweise geht die Pest in Affoia um, und in Nicante soll es einen großen Brand gegeben haben. Puranti ist in Aufruhr. In Musselia herrscht Durcheinander.«
Rubine zupfte sich unglücklich den Bart. »Weh über Styrien! Man sagt überall, Rogont habe recht gehabt. Die Blutigen Jahre sind zu Ende. Nun beginnen die Jahre des Feuers. In Westport verkünden die heiligen Männer das Ende der Welt.«
Monza schnaubte. »Diese Dreckskerle verkünden das Ende der Welt, sobald sich ein Vogel zum Kacken hinsetzt. Gibt es irgendwo keinen Ärger?«
»In Talins?« Vitari sah sich im Saal um. »Obwohl ich hörte, dass der Palast von Fontezarmo kürzlich schwer geplündert wurde. Und in Borletta.«
»Borletta?« Es war nicht viel länger her als ein Jahr, seit Monza Orso in ebendiesem Saal berichtet hatte, wie gründlich ihre Truppen über die Stadt hergefallen waren. Und nicht zu vergessen den Kopf des Regenten über den Toren aufgespießt hatten.
»Herzog Cantains junge Nichte hat ein Komplott des städtischen Adels vereitelt, sie zu stürzen. Offenbar hat sie eine so schöne Rede gehalten, dass sie alle ihre Degen beiseitewarfen, auf die Knie fielen und ihr an Ort und Stelle bedingungslose Treue schworen. Jedenfalls erzählt man es sich so.«
»Bewaffnete in die Knie zu zwingen, ist immer eine große Leistung, ganz gleich, wie sie es angestellt hat.« Monza erinnerte sich daran, wie Rogont seinen großen Sieg errungen hatte. Klingen können Männer töten, aber nur Worte können sie bewegen, und gute Nachbarn sind der sicherste Schutz bei einem Sturm. »Haben wir so etwas wie einen Botschafter?«
Rubine blickte in die Runde. »Ich denke, es würde sich jemand finden lassen.«
»Dann finden Sie jemanden und schicken Sie ihn nach Borletta, mit einem angemessenen Geschenk für die überzeugungskräftige Gräfin und … entbieten Sie ihr unsere schwesterliche Zuneigung.«
»Schwesterliche … Zuneigung?« Vitari sah aus, als habe sie einen Kackhaufen in ihrem Bett entdeckt. »Ich dachte, so was wäre nicht dein Stil.«
»Mein Stil ist alles, was funktioniert. Ich habe einmal gehört, gute Nachbarn seien der sicherste Schutz bei einem Sturm.«
»Nachbarn und gute Schwerter.«
»Gute Schwerter verstehen sich von selbst.«
Rubine hatte ein höchst entschuldigendes Gesicht aufgesetzt. »Euer Exzellenz, Ihr Ruf ist nicht … so gut, wie er sein könnte.«
»Das war er nie.«
»Aber man macht Sie nun allerorten für den Tod von König Rogont, Kanzler Sotorius und ihren Gefährten im Neunerbund verantwortlich. Dass Sie als Einzige überlebten …«
Vitari warf Monza einen süffisanten Blick zu. »Verdammt auffällig.«
»In Talins werden Sie deswegen natürlich nur umso mehr geliebt. Aber in den anderen Städten … wenn Styrien nicht so tief zerrissen wäre, dann würden sie sich sicherlich gegen Sie verbünden.«
Grulo sah missmutig zu Scavier hinüber. »Wir brauchen einen Verantwortlichen.«
»Schieben wir die Schuld doch ausnahmsweise dem zu, der sie auch verdient hat«, sagte Monza. »Castor Morveer vergiftete die Krone, zweifelsohne in Orsos Auftrag. Machen Sie das bekannt. Wenn möglich, überall.«
»Aber, Euer Exzellenz …« Rubines Ton klang nicht mehr entschuldigend, sondern schicksalsergeben. »Diesen Namen kennt doch niemand. Bei großen Verbrechen brauchen die Menschen einen großen Namen, den sie dafür verantwortlich machen können.«
Monzas Augen glitten nach oben. Herzog Orso grinste triumphierend von dem Gemälde einer Schlacht auf sie herab, an der er nie teilgenommen hatte. Sie merkte, dass sie zurückgrinste. Hübsch aufgemachte Lügen sind stets erfolgreicher als die ermüdende Wahrheit.
»Dann blasen Sie ihn doch ein bisschen auf. Castor Morveer, der Tod ohne Gesicht, der gefährlichste Meister-Giftmischer aller Zeiten. Der größte und geschickteste Mörder in der Geschichte. Ein Giftmischer-Poet. Ein Mann, der in das bestbewachte Gebäude Styriens eindringen, den Monarchen und vier der größten Fürsten vergiften konnte, und der dann wie der Nachtwind entwischte. Wer ist sicher vor dem König der Gifte? Nun, ich hatte Glück, dass ich mit dem Leben davonkam.«
»So arm und unschuldig, wie du bist.« Vitari schüttelte langsam den Kopf. »Es geht mir gegen den Strich, dieses schleimige Ekelpaket noch mit Ruhm zu überhäufen.«
»Ich vermute, du hast schon Schlimmeres ertragen.«
»Tote sind schlechte Sündenböcke.«
»Ach, komm schon, wir können ihm doch sicher ein bisschen Leben einhauchen. Plakate an allen Straßenecken, in denen seine schrecklichen Verbrechen angeprangert werden und auf denen wir, sagen wir, hunderttausend Waag auf seinen Kopf aussetzen.«
Volfier blickte immer beunruhigter drein. »Aber … er ist doch tot, oder nicht?«
»Wurde zusammen mit den anderen verscharrt, als wir die Gräben wieder zugeschüttet haben. Was bedeutet, dass wir dieses Kopfgeld niemals werden zahlen müssen. Ach, zur Hölle, machen wir zweihunderttausend draus, dann sieht es auch noch so aus, als hätten wir Geld.«
»Und wenn man so aussieht, als sei man reich, dann ist das fast so nützlich, als wenn man es wirklich wäre«, erklärte Scavier, die Grulo einen finsteren Blick zuwarf.
»Bei der Geschichte, die ich verbreiten lassen werde, wird man den Namen Morveer noch in ehrfurchtsvollem Flüstern aussprechen, wenn wir schon lange tot sind.« Vitari lächelte. »Mütter werden ihre Kinder damit erschrecken.«
»Bei dieser Vorstellung liegt er sicherlich grinsend in seinem Grab«, sagte Monza. »Nebenbei bemerkt, ich habe gehört, dass du eine kleine Revolte ausgehoben hast.«
»Ich würde diesen Ausdruck nicht dadurch abwerten wollen, dass ich ihn auf diese Amateure anwendete. Die Narren haben Plakate aufgehängt, auf denen sie ihre Treffen bekanntgaben! Wir wussten ja ohnehin schon von ihnen, aber Plakate? Offen aufgehängt? Wenn du mich fragst, haben sie die Todesstrafe wegen Dummheit verdient.«
»Auch Verbannung wäre eine Möglichkeit«, schlug Rubine vor. »Ein wenig Erbarmen sorgt dafür, dass Sie gerecht, tugendhaft und mächtig wirken.«
»Und Sie meinen wohl, das könnte ich insgesamt gut gebrauchen, was?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Brummen Sie Ihnen ein heftiges Bußgeld auf, geben Sie ihre Namen bekannt, stellen Sie sie nackt vor dem Senatsgebäude zur Schau, und dann … lassen Sie sie frei.«
»Frei?« Rubine hob die buschigen weißen Augenbrauen.
»Frei?« Vitari hob ihre hellroten.
»Wie gerecht, tugendhaft und mächtig wirke ich denn dann wohl? Wenn wir sie hart bestrafen, dann geben wir ihren Freunden einen Grund, ein Unrecht zu rächen. Doch wenn wir sie verschonen, dann erscheint Widerstand absurd. Beobachte sie, Vitari. Du hast selbst gesagt, sie seien blöd. Wenn sie noch mehr Verrätereien planen, dann werden sie uns selbst auf ihre Spur bringen. Dann können wir sie immer noch hängen.«
Rubine räusperte sich. »Wie Euer Exzellenz befiehlt. Ich werde Plakate drucken lassen, auf denen die Gnade, die Sie diesen Männern erweisen, genau geschildert wird. Die Schlange von Talins verzichtet darauf, die Fangzähne zu zeigen.«
»Für den Augenblick. Wie steht es auf den Märkten?«
Ein hartes Lächeln glitt über Scaviers weiches Gesicht. »Geschäftig, höchst geschäftig, von morgens bis abends. Es sind Händler zu uns gekommen, die dem Chaos in Sipani, in Ospria und in Affoia entfliehen wollen, und sie sind bereit, uns das zu zahlen, was uns zusteht, wenn sie bei uns ihre Ladung ohne Probleme löschen können.«
»Die Kornspeicher?«
»Die Ernte war gut genug, damit wir den Winter ohne Aufruhr überstehen sollten, hoffe ich.« Grulo schnalzte mit der Zunge. »Aber ein Großteil des Landes von hier bis Musselia liegt noch immer brach. Die Bauern wurden vertrieben, als Rogonts Heer dort plündernd umherzog. Dann hinterließen die Tausend Klingen eine Spur der Verwüstung fast bis hinunter an die Ufer der Etris. Die Bauern sind stets die Ersten, die in solch harten Zeiten leiden müssen.«
Eine Lektion, die man Monza nicht mehr lehren musste. »Die Stadt ist also voller Bettler?«
»Voller Bettler und Flüchtlinge.« Rubine zupfte wieder an seinem Bart. Wenn er noch mehr traurige Geschichten auf Lager hatte, würde er ihn sich noch ganz ausraufen. »Ein Zeichen unserer Zeit …«
»Dann geben Sie Land an jeden, der in der Lage ist, den Boden zu bestellen, und lassen Sie ihn Steuern an uns zahlen. Ackerland ohne Bauern ist weiter nichts als Dreck.«
Grulo neigte den Kopf. »Ich werde es veranlassen.«
»Sie sind so still, Volfier.« Der Altgediente stand da, starrte auf die Landkarte und knirschte mit den Zähnen.
»Scheiß Etrisani!«, platzte er nun heraus und schlug mit der großen Faust gegen seinen Degengriff. »Ich meine, Entschuldigung, Euer Exzellenz, aber … diese verdammten Dreckskerle!«
Monza grinste. »Noch mehr Ärger an der Grenze?«
»Drei Höfe wurden niedergebrannt.« Ihr Grinsen verflüchtigte sich. »Die Bauern sind verschwunden. Die Grenzwacht, die nach ihnen suchte, wurde aus den Wäldern beschossen. Ein Mann starb, zwei sind verletzt. Die Übrigen setzten den Angreifern nach, brachen die Jagd aber eingedenk Ihrer Befehle an der Grenze ab.«
»Sie wollen dich herausfordern«, sagte Vitari. »Und sie sind wütend, weil sie Orsos engste Verbündete waren.«
Grulo nickte. »Sie hatten sich ganz Orsos Sache verschrieben und alles dafür aufgegeben, und sie hofften auf eine goldene Ernte, wenn er erst einmal König sein würde.«
Volfier schlug wütend gegen die Tischkante. »Diese Dreckskerle glauben, wir seien zu schwach, um sie aufzuhalten!«
»Und, sind wir das?«, fragte Monza.
»Wir haben Fußtruppen von dreitausend Mann und dazu tausend Kavalleristen, allesamt bewaffnet und gedrillt, allesamt gute Leute, die sich schon in Schlachten erprobt haben.«
»Kampfbereit?«
»Sie brauchen nur zu befehlen, dann werden sie es beweisen!«
»Wie sieht es mit den Etrisaniern aus?«
»Viel Wind um nichts«, erklärte Vitari verächtlich. »Schon zu besten Zeiten allenfalls eine Macht zweiter Ordnung, und ihre besten Zeiten liegen lange zurück.«
»Wir sind ihnen zahlenmäßig und auch von unserer Durchschlagskraft her überlegen«, grollte Volfier.
»Und wir haben zweifelsohne eine gerechte Sache zu vertreten«, ergänzte Rubine. »Ein kurzer Ausfall über die Grenze, um ihnen eine harte Lehre zu erteilen …«
»Inzwischen haben wir auch die Mittel für einen größeren Feldzug«, sagte Scavier. »Ich habe bereits einige Ideen für finanzielle Forderungen, die uns bedeutend reicher …«
»Die Leute werden Sie unterstützen«, unterbrach Grulo sie. »Und die Entschädigungszahlungen werden die Kosten mehr als aufwiegen!«
Monza sah stirnrunzelnd auf die Karte; besonders finster blickte sie auf die Blutflecke in der einen Ecke. Benna hätte ihr zur Vorsicht geraten. Hätte um Zeit gebeten, um sich einen Plan zurechtzulegen … aber Benna war schon lange tot, und Monza war stets dafür gewesen, schnell zu handeln, hart zuzuschlagen und sich erst später Gedanken zu machen. »Bereiten Sie Ihre Männer auf den Abmarsch vor, Oberst Volfier. Ich beabsichtige, Etrisani zu belagern.«
»Belagern?«, fragte Rubine.
Vitari grinste ihn von der Seite an. »So nennt man das, wenn man eine Stadt umzingelt hat und zur Aufgabe zwingt.«
»Die Bedeutung des Wortes ist mir durchaus bekannt!«, zischte der alte Mann. »Aber ich rate zur Vorsicht, Euer Exzellenz. Talins hat erst kürzlich eine Reihe höchst schmerzlicher Umbrüche erleben müssen …«
»Ich habe größten Respekt vor Ihren juristischen Kenntnissen, Rubine«, sagte Monza, »aber der Krieg ist meine Domäne, und glauben Sie mir, wenn man in den Krieg zieht, gibt es nichts Schlimmeres als halbe Sachen.«
»Aber was ist mit Verbündeten …«
»Niemand will einen Verbündeten, der den eigenen Besitz nicht schützen kann. Wir müssen unsere Entschlusskraft unter Beweis stellen, sonst werden die Wölfe herauskommen, um unseren Kadaver zu beschnüffeln. Wir müssen die Hunde von Etrisani zum Winseln bringen.«
»Sie bezahlen lassen«, zischte Scavier.
»Sie zerschmettern!«, tönte Grulo.
Volfier grinste, als er salutierte. »Ich werde die Männer antreten lassen und binnen einer Woche den Abmarsch vorbereiten.«
»Ich werde meine Rüstung polieren«, sagte sie, obwohl sie das sowieso immer tat. »Sonst noch etwas?« Die fünf schwiegen. »Dann danke ich Ihnen.«
»Euer Exzellenz.« Sie verneigten sich alle auf ihre eigene Art, Rubine mit dem bekümmerten Ausdruck berechtigter Zweifel, Vitari mit einem ganz leichten, süffisanten Grinsen.
Monza sah ihnen nach, als sie den Saal verließen. Vielleicht hatte sie einmal den Degen beiseitelegen und wieder etwas anbauen wollen. So wie vor langer Zeit, kurz nachdem ihr Vater gestorben war. Bevor die Blutigen Jahre begannen. Aber sie hatte genug gesehen, um zu wissen, dass es niemals eine letzte Schlacht gab, ganz gleich, was die Menschen sich einreden wollten. Das Leben ging weiter. Jeder Krieg barg die Saat des nächsten in sich, und sie hatte die Absicht, bereitzustehen, um die Ernte einzufahren.
Wer unbedingt will, der nehme den Pflug, hieß es bei Farans, aber er halte dennoch einen Dolch bereit, nur für alle Fälle.
Sie sah missmutig auf die Karte, und ihre linke Hand wanderte unbewusst auf ihren Bauch. Er wuchs allmählich. Drei Monate war es nun her, seit ihre Blutung das letzte Mal gekommen war. Das bedeutete, es war Rogonts Kind. Oder vielleicht auch Espes. Das Kind eines Toten oder das eines Mörders, das eines Königs oder das eines Bettlers. Das Einzige, worauf es ankam, war, dass es ihres war.
Sie ging langsam zum Schreibtisch, sank auf den Stuhl, zog die Kette unter ihrem Hemd hervor und drehte den Schlüssel im Schloss. Sie nahm Orsos Krone hervor, ein vertrautes Gewicht, das zwischen ihren Handflächen lag, und ein ebenso vertrauter Schmerz fuhr durch ihre rechte Hand, als sie den goldenen Reif anhob und vorsichtig auf die Dokumente legte, die sich auf der abgestoßenen, ledernen Schreibfläche verteilten. Die Juwelen hatte sie herausgebrochen, um damit Waffen zu bezahlen. Aus Gold mach Stahl und wiederum mehr Gold, so, wie Orso es ihr immer gesagt hatte. Dennoch stellte sie fest, dass sie sich von der Krone an sich nicht trennen mochte.
Rogont war als unverheirateter Mann gestorben, ohne Erben. Sein Kind, selbst ein Bastard, würde einen berechtigten Anspruch auf seine Titel haben. Großherzog von Ospria. Vielleicht sogar König von Styrien. Rogont hatte die Krone, auch wenn sie vergiftet gewesen war, immerhin getragen, wenn auch nur für einen sehr kurzen eitlen Augenblick. Sie fühlte ein ganz leichtes Lächeln in ihrem Mundwinkel zucken. Wenn man alles verliert, was man hat, kann man immer noch nach Rache dürsten. Aber wenn man sie bekommen hat, was dann? Orso hatte insofern die Wahrheit gesagt. Das Leben ging weiter. Man brauchte neue Träume, auf deren Erfüllung man hinarbeiten konnte.
Sie schüttelte sich, nahm die Krone wieder in die Hand und ließ sie in der Schublade verschwinden. Sie anzustarren, war nicht besser, als wenn sie ihre Spreupfeife anglotzte und sich immer wieder fragte, ob sie das verdammte Ding anzünden sollte oder nicht. Sie drehte gerade wieder den Schlüssel im Schloss, als die Türen aufschwangen und der Kämmerer erneut mit seinem Gesicht fast über den Boden strich.
»Und was ist es diesmal?«
»Ein Vertreter des Bankhauses Valint und Balk, Euer Exzellenz.«
Monza hatte natürlich gewusst, dass sie kommen würden, aber deswegen war ihr dieser Gesandte trotzdem nicht willkommen.
»Führen Sie ihn herein.«
Für einen Mann, der für ein Unternehmen tätig war, das ganze Nationen kaufen und verkaufen konnte, sah er wenig beeindruckend aus. Jünger, als sie erwartet hätte, mit lockigem Haar, einer angenehmen Art und einem entspannten Lächeln. Das beunruhigte sie nur noch mehr.
Die bittersten Feinde kommen mit dem süßesten Lächeln. Verturio. Wer sonst?
»Euer Exzellenz.« Er verbeugte sich beinahe ebenso tief wie ihr Kämmerer, und das wollte etwas heißen.
»Meister …?«
»Sulfur. Yoru Sulfur, zu Ihren Diensten.« Er hatte verschiedenfarbige Augen, wie ihr auffiel, als er sich dem Schreibtisch näherte, eins blau, eins grün.
»Vom Bankhaus Valint und Balk.«
»Ich habe die Ehre, dieses stolze Unternehmen zu vertreten.«
»Wie schön für Sie.« Sie sah sich in dem großen Saal um. »Ich bedauere, aber während des Angriffs entstand sehr viel Schaden. Die Dinge sind inzwischen etwas mehr … auf ihren praktischen Nutzen ausgerichtet als zu Orsos Zeiten.«
Sein Lächeln wurde nur noch breiter. »Mir sind einige kleine Schäden an den Mauern aufgefallen, als ich ankam. Aber der praktische Nutzen kommt auch mir entgegen, Euer Exzellenz. Ich bin hier, um über das Geschäft zu sprechen. Um Ihnen nämlich die vollständige Unterstützung meiner Dienstherren anzubieten.«
»Wenn ich recht informiert bin, dann kamen Sie oft zu meinem Vorgänger, Großherzog Orso, um ihm ebenfalls Ihre vollständige Unterstützung anzubieten.«
»Das ist richtig.«
»Und nun, da ich ihn ermordet habe, kommen Sie zu mir.«
Sulfur blinzelte nicht einmal. »Ganz genau.«
»Ihre Unterstützung passt sich ja neuen Situationen geschmeidig an.«
»Wir sind eine Bank. Jede Veränderung birgt neue Möglichkeiten.«
»Und was können Sie mir anbieten?«
»Geld«, sagte er leichthin. »Geld, um Heere aufzubauen. Geld, um öffentliche Einrichtungen zu bezahlen. Geld, damit der Ruhm nach Talins – und nach Styrien – zurückkehrt. Vielleicht sogar genug Geld, um Ihren Palast etwas … weniger auf seinen praktischen Nutzen ausgerichtet auszustatten.«
Monza hatte immer noch ein Vermögen in Gold nahe jenem Hof vergraben, auf dem sie geboren worden war. Sie zog es vor, es dort weiterhin liegen zu lassen. Nur für den Fall der Fälle. »Und wenn ich es ganz gern so karg mag?«
»Ich bin überzeugt, dass wir Ihnen auch politische Unterstützung bieten können. Sie wissen sicherlich, gute Nachbarn sind der sicherste Schutz bei einem Sturm.« Es gefiel ihr nicht, dass er diese Worte gebrauchte, kurz nachdem sie das selbst getan hatte, aber er fuhr ohne Umschweife fort. »Valint und Balk haben tiefe Wurzeln in der Union. Sehr tiefe. Ich bezweifle nicht, dass wir ein Bündnis zwischen Ihnen und dem Hochkönig in die Wege leiten könnten.«
»Ein Bündnis?« Sie erwähnte nicht, dass sie einmal fast eine ganz andere Art von Vereinigung mit dem König der Union vollzogen hätte, in dem geschmacklosen Schlafgemach in Cardottis Haus der Sinnesfreuden. »Obwohl er mit Orsos Tochter verheiratet ist? Obwohl einer seiner Söhne einen Anspruch auf mein Herzogtum geltend machen könnte? Einen größeren Anspruch als ich, würden viele sagen.«
»Wir sind stets bemüht, mit dem zu arbeiten, was wir vorfinden, bevor wir versuchen, die Umstände zu ändern. Für den richtigen Anführer mit der richtigen Unterstützung liegt Styrien offen da. Valint und Balk möchten auf der Seite des Siegers stehen.«
»Obwohl ich in Ihre Filiale in Westport einbrach und Ihren Angestellten Mauthis ermordete?«
»Ihr Erfolg bei diesem Unternehmen beweist uns nur Ihren enormen Einfallsreichtum.« Sulfur zuckte die Achseln. »Männer lassen sich leicht ersetzen. Die Welt ist voll von ihnen.«
Sie tippte gedankenverloren auf die Schreibtischplatte. »Seltsam, dass Sie heute hier auftauchen und mir ein solches Angebot machen.«
»Wieso das?«
»Erst gestern hatte ich einen sehr ähnlichen Besuch von einem Gesandten des Propheten von Gurkhul, der mir … seine Unterstützung anbot.«
Das ließ ihn einen Augenblick nachdenken. »Wen hat er geschickt?«
»Eine Frau namens Ischri.«
Sulfurs Augen verengten sich ein klein wenig. »Sie können ihr nicht vertrauen.«
»Aber Ihnen kann ich vertrauen, weil Sie mich so nett anlächeln? Das tat mein Bruder auch, und er log bei jedem Atemzug.«
Sulfur lächelte nur noch mehr. »Dann sage ich Ihnen die Wahrheit. Vielleicht sind Sie sich bewusst, dass der Prophet und meine Dienstherren auf verschiedenen Seiten des großen Kampfes stehen.«
»Davon habe ich sagen hören.«
»Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie nicht auf der falschen Seite stehen wollen.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt auf irgendeiner Seite stehen möchte.« Langsam ließ sie sich ein wenig mehr gegen die Stuhllehne gleiten und tat so, als habe sie es ganz bequem, obwohl sie sich immer noch wie eine Betrügerin vorkam, die an einem gestohlenen Schreibtisch saß. »Aber keine Sorge. Ich sagte Ischri, der Preis für ihre Unterstützung sei mir zu hoch. Sagen Sie mir, Meister Sulfur, welchen Preis werden Valint und Balk für ihre Hilfe verlangen?«
»Nicht mehr als das, was der Anstand gebietet. Zinsen für die geliehenen Gelder. Eine vorrangige Stellung für die Bank und ihre Teilhaber und Partner bei geschäftlichen Unternehmungen. Dass Sie sich weigern, mit den Gurkhisen und ihren Verbündeten zu verhandeln. Dass Sie dann, wenn meine Dienstherren es verlangen, gemeinsam mit den Heeren der Union …«
»Nur dann, wenn Ihre Dienstherren es verlangen?«
»Vielleicht wird das zeit Ihres Lebens ein- oder zweimal vorkommen.«
»Oder vielleicht auch öfter, wenn es Ihnen gefällt. Sie wollen, dass ich Ihnen Talins verkaufe und mich dafür auch noch bedanke. Sie wollen, dass ich an der Tür Ihrer Schatzkammer knie und um Gefallen bettele.«
»Das stellen Sie nun wahrlich ein wenig überspitzt …«
»Ich knie vor niemandem, Meister Sulfur.«
Nun war es an ihm, angesichts ihrer Wortwahl zu stutzen. Aber nur kurz. »Darf ich aufrichtig sein, Euer Exzellenz?«
»Sie können es ja gern einmal versuchen.«
»Sie sind eine Novizin auf den Höhen der Macht. Jeder muss vor irgendeinem Herrn knien. Wenn Sie zu stolz sind, unsere in Freundschaft dargebotene Hand zu ergreifen, werden andere das tun.«
Monza schnaubte, obwohl ihr Herz hinter dieser verächtlichen Geste laut klopfte. »Dann wünsche ich Ihnen und den anderen alles Gute. Möge diesen anderen Ihre in Freundschaft dargebotene Hand ein glücklicheres Geschick bereiten als Orso. Ich glaube, Ischri wollte damit beginnen, sich in Puranti nach neuen Freunden umzusehen. Vielleicht sollten Sie es als Erstes in Ospria versuchen, oder in Sipani oder in Affoia. Ich bin sicher, dass Sie jemanden in Styrien finden werden, der Ihr Geld gern nimmt. Wir sind für unsere Hurerei berühmt.«
Sulfurs Lächeln zuckte noch eine Spur breiter. »Talins schuldet meinen Dienstherren sehr viel Geld.«
»Orso schuldet Ihnen dieses Geld, fragen Sie ihn nach der Rückzahlung. Ich glaube, er wurde mit den Küchenabfällen entsorgt, aber wenn Sie ein wenig buddeln, werden Sie ihn sicherlich am Fuß der Felswand finden. Ich leihe Ihnen für diese Arbeit gern eine Schippe.«
Immer noch lächelte er, aber die Drohung, die darin lag, war nun nicht mehr zu übersehen. »Es wäre eine Schande, wenn Sie uns keine andere Möglichkeit ließen, als dem Zorn der Königin Terez nachzugeben und sie Rache für den Tod ihres Vaters nehmen zu lassen.«
»Ah, Rache, Rache.« Monza lächelte nun ebenfalls. »Ich erschrecke nicht vor Schatten, Meister Sulfur. Ganz sicher wird Terez mit Worten einen großen Krieg herbeireden wollen, aber die Union steht mit dem Rücken zur Wand. Sie hat Feinde im Norden und im Süden und auch innerhalb der eigenen Grenzen. Wenn die Frau Ihres Hochkönigs meinen kleinen Sessel möchte, tja, dann kann sie gern kommen und um ihn kämpfen. Aber ich vermute stark, dass Seine erhabene Majestät andere Sorgen hat.«
»Ich glaube nicht, dass Sie sich darüber im Klaren sind, welche Gefahren die dunklen Ecken der Welt bevölkern.« Nun lag keinerlei Wohlwollen mehr in Sulfurs breitem Grinsen. »Selbst jetzt, während wir uns unterhalten, sitzen Sie hier … ganz allein.« Sein Gesicht sah plötzlich hungrig aus, die Zähne scharf und weiß. »So fürchterlich verletzlich.«
Sie blinzelte, als sei sie überrascht. »Allein?«
»Du irrst dich.« Schenkt war völlig geräuschlos herangetreten, bis er unbeobachtet direkt hinter Sulfur gelangt war, so nahe wie sein eigener Schatten. Der Vertreter von Valint und Balk fuhr herum, machte einen erschreckten Satz zurück und erstarrte dann, als habe er, als er sich umwandte, die Toten in sein Ohr atmen sehen.
»Du«, hauchte er.
»Ja.«
»Ich dachte …«
»Nein.«
»Dann … ist das hier dein Werk?«
»Ich hatte meine Hand im Spiel.« Schenkt zuckte die Achseln. »Aber Chaos ist der natürliche Zustand der Welt, denn Menschen versuchen stets, ihre eigenen Wege zu gehen. Jene, die wollen, dass alle Welt denselben Pfad einschlägt, sehen sich einer großen Herausforderung gegenüber.«
Die verschiedenfarbigen Augen glitten zu Monza und wieder zurück. »Unser Meister wird nicht …«
»Dein Meister«, verbesserte Schenkt. »Ich habe keinen, nicht mehr, erinnerst du dich? Ich habe ihm gesagt, ich sei nicht mehr dabei. Wann immer ich kann, spreche ich eine Warnung aus, und hier ist eine für dich. Hebe dich hinfort. Wenn du zurückkehrst, wirst du mich nicht mehr in warnender Stimmung vorfinden. Geh zurück und sage ihm, dass du ergeben dienst. Sag ihm, auch ich diente einst. Wir knien vor niemandem.«
Sulfur nickte langsam, dann verzog sich sein Mund wieder zu dem süffisanten Lächeln, das er zu Beginn ihrer Unterhaltung gezeigt hatte. »Dann stirb im Stehen.« Er wandte sich an Monza und verbeugte sich noch einmal elegant. »Sie werden von uns hören.« Damit stolzierte er gelassen aus dem Saal.
Schenkt hob die Brauen, als Sulfur aus ihrem Blickfeld verschwunden war. »Er hat es gut aufgenommen.«
Ihr war nicht nach Lachen zumute. »Da ist vieles, was du mir nicht erzählst.«
»Ja.«
»Wer bist du wirklich?«
»Ich war viele Dinge. Ein Lehrling. Ein Gesandter. Jemand, der schwierige Probleme löste, und jemand, der sie schuf. Heute, so scheint es, bin ich jemand, der die Rechnungen anderer begleicht.«
»Kryptischer Scheiß. Wenn ich Rätsel raten will, dann kann ich zu einer Wahrsagerin gehen.«
»Du bist eine Großherzogin. Du könntest vielleicht sogar eine zu dir kommen lassen.«
Sie nickte zu den Türen hinüber. »Du kanntest ihn.«
»Das ist wahr.«
»Ihr hattet denselben Meister?«
»Einst. Vor langer Zeit.«
»Du hast für eine Bank gearbeitet?«
Er lächelte sein leeres Lächeln. »Gewissermaßen. Sie tun viel mehr, als Geld zu zählen.«
»Das erkenne ich allmählich auch. Und jetzt?«
»Jetzt knie ich vor niemandem.«
»Wieso hast du mir geholfen?«
»Weil sie Orso aufgebaut hatten, und ich zerstöre alles, was sie aufbauen.«
»Rache«, sagte sie leise.
»Nicht das beste aller Motive, aber auch aus bösen Motiven können gute Dinge erwachsen.«
»Und andersherum.«
»Natürlich. Du hast dem Herzog von Talins all seine Siege gebracht, und daher beobachtete ich dich und dachte darüber nach, dich zu töten, um ihn zu schwächen. Wie sich dann herausstellte, versuchte Orso das selbst zu tun. Und daher flickte ich dich wieder zusammen und wollte dich überreden, Orso zu töten und seinen Platz einzunehmen. Aber ich hatte deine Entschlossenheit unterschätzt, und du bist mir entschlüpft. Und zufällig hast du alles daran gesetzt, Orso zu töten …«
Sie rutschte ein wenig unbehaglich auf dem Stuhl ihres ehemaligen Dienstherrn herum. »Und nahm seinen Platz ein.«
»Warum einen Fluss eindämmen, der schon in die richtige Richtung fließt? Sagen wir einfach, wir haben uns gegenseitig geholfen.« Wieder zeigte er sein Totenschädelgrinsen. »Wir alle haben unsere Rechnungen zu begleichen.«
»Du hast dir bei deinen Rechnungen offenbar sehr mächtige Feinde gemacht.«
»Du hast offenbar ganz Styrien ins Chaos gestürzt.«
Das stimmte wohl. »War eigentlich nicht meine Absicht.«
»Wenn du dich einmal dazu entschließt, die Kiste zu öffnen, dann spielen deine Absichten keine Rolle mehr. Jetzt klafft diese Kiste so weit auf wie ein offenes Grab. Ich frage mich, was noch daraus hervordringen wird? Werden die rechtschaffenen Anführer aus dem Durcheinander hervortreten, um den Weg in ein helleres, schöneres Styrien zu weisen, das aller Welt ein leuchtendes Beispiel sein könnte? Oder werden wir die gewissenlosen Schatten alter Tyrannen erleben, die ihre Kreise um die blutigen Spuren der Vergangenheit ziehen?« Schenkts blasse Augen ließen nicht von ihren ab. »Was von beiden wirst du sein?«
»Das werden wir vermutlich herausfinden.«
»Das vermute ich auch.« Er wandte sich um, ohne dass seine Schritte das geringste Geräusch verursachten, zog die Türen still hinter sich zu und ließ sie allein.