DAS UNVERMEIDLICHE

Die Würfel zeigten zwei und eins.

An diesem Tag vor drei Jahren hatte Sajaam Freundlich aus der Sicherheit freigekauft. Seit drei Jahren war er heimatlos. Er war drei Menschen gefolgt, zwei Männern und einer Frau, quer durch Styrien. In dieser Zeit hatte er sich noch am ehesten bei den Tausend Klingen zu Hause gefühlt, und das nicht nur, weil ihr Name eine Zahl beinhaltete, obwohl das natürlich schon mal ein gutes Zeichen war.

Hier gab es zumindest bis zu einem gewissen Punkt eine Ordnung, an die man sich halten konnte. Jeder Mann hatte seine Aufgabe und bestimmte Zeiten, zu denen er sie verrichten sollte, und er kannte seinen Platz in der großen Maschinerie. Die Kompanie war in den drei Hauptbüchern des Schreibers ordentlich aufgelistet. Die Zahl der Männer, die unter jedem Hauptmann dienten, die Dienstjahre, die Bezahlung, die Beschwerden, die geliehene Ausrüstung: alles konnte zahlenmäßig erfasst werden. Es gab Regeln, was das Trinken, Spielen und Kämpfen betraf. Regeln für den Umgang mit den Huren. Regeln darüber, wer wo saß. Wer wann wohin gehen konnte. Wer kämpfte und wer nicht. Und dann gab es noch die überaus wichtige Viertelregelung, nach der die Beute erfasst und zugeteilt und deren Einhaltung mit schärfster Disziplin überwacht wurde.

Wenn Regeln gebrochen wurden, gab es festgesetzte Strafen, die alle begriffen. Gewöhnlich eine gewisse Anzahl Peitschenhiebe. Freundlich hatte am Tag zuvor miterlebt, dass ein Mann ausgepeitscht worden war, weil er an den falschen Ort gepinkelt hatte. Das schien zunächst einmal kein so großes Verbrechen zu sein, aber Victus hatte erklärt, wenn erst mal einer damit anfinge, irgendwo hinzupissen, wo es ihm gerade gefiele, dann würde auch schnell überall hingekackt, und es dauerte nicht lange, und alle stürben an irgendwelchen Seuchen. Deswegen hatte es drei Hiebe gegeben. Zwei und eins.

Freundlichs liebster Aufenthaltsort war die Messe. Die Mahlzeiten folgten einer beruhigenden Routine, die ihn an die Sicherheit erinnerte. Die finster dreinblickenden Köche in ihren fleckigen Schürzen. Der Dampf, der aus den großen Kesseln aufstieg. Das Klappern und Scheppern von Messern und Löffeln. Das Schlürfen und Schmatzen von Lippen, Zähnen, Zungen. Die Reihe sich anrempelnder Männer, die alle mehr verlangten, als ihnen zustand, und die es nie bekamen.

Die Männer, die an diesem Tag zu den Angriffsgruppen zählen sollten, bekamen zwei Fleischklößchen und einen Löffel Suppe extra. Zwei und eins. Cosca hatte gesagt, es sei eine Sache, wenn man mit einem Speer von einer Leiter gestoßen würde, aber er könne nicht dabei zusehen, wenn seine Leute vor Hunger geschwächt hinunterfielen.

»Wir werden binnen einer Stunde angreifen«, sagte er jetzt.

Freundlich nickte.

Cosca holte tief Luft, atmete durch die Nase aus und sah sich missmutig um. »Das Wichtigste sind die Leitern.« Freundlich hatte zugesehen, wie sie in den letzten Tagen gefertigt worden waren. Insgesamt einundzwanzig. Zwei und eins. Jede davon hatte einunddreißig Stufen, alle, außer einer, die zweiunddreißig hatte. Eins, zwei, drei. »Monza wird mit ihnen gehen. Sie will als Erste bei Orso sein. Sie ist fest entschlossen. Sie will ihre Rache.«

Freundlich zuckte die Achseln. So war sie immer gewesen.

»Ganz ehrlich, ich mache mir Sorgen um sie.«

Freundlich zuckte wieder die Achseln. Ihm war das ziemlich egal.

»Eine Schlacht ist eine gefährliche Situation.«

Achselzucken. Das wusste doch jeder.

»Mein Freund, ich möchte, dass du dich in ihrer Nähe hältst, wenn die Kämpfe beginnen. Sorge dafür, dass ihr nichts passiert.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich?« Cosca klopfte Freundlich auf die Schulter. »Der einzige Schild, den ich brauche, ist die enorm große Wertschätzung, die mir die Leute entgegenbringen.«

»Bist du sicher?«

»Nein, aber ich werde dort sein, wo ich immer bin. Weit hinter den Linien, wo mein Fläschchen mir Gesellschaft leistet. Irgendetwas sagt mir, dass sie dich mehr brauchen wird. Es gibt dort immer noch Feinde. Und, Freundlich …«

»Ja?«

»Pass genau auf und achte auf alles. Der Fuchs ist am gefährlichsten, wenn man ihn in die Enge treibt – dieser Orso wird noch ein paar tödliche Kniffe vorbereitet haben, aber …« Er blies die Backen auf. »Das ist nicht zu vermeiden. Pass auf und halte die Augen offen … vor allem nach Morveer.«

»In Ordnung.« Murcatto würde ihn und Espe bei sich haben, die auf sie aufpassten. Ein Dreiergrüppchen, wie damals, als sie Gobba getötet hatten. Zwei, die auf eine aufpassten. Er packte die Würfel zusammen und steckte sie in seine Tasche. Er sah dem aufsteigenden Dampf zu, als das Essen ausgeteilt wurde. Hörte dem Gemaule der Männer zu. Zählte ihre Beschwerden.

 

Das ausgewaschene Grau des Morgens verwandelte sich in goldenes Tageslicht, als die Sonne über die Zinnen oben auf jener Mauer kletterte, die sie nun würden überwinden müssen, während sich der zahnlückige Schatten der Brustwehr allmählich von den zerstörten Gärten zurückzog.

Schon bald würden sie loslegen. Espe schloss sein Auge und grinste in die Sonne. Legte den Kopf zurück und streckte die Zunge heraus. Es wurde kälter, da sich das Jahr nun allmählich dem Ende zuneigte. Fühlte sich aber fast wie ein klarer Sommermorgen im Norden an. Wie die Morgen, nach denen er große Schlachten ausgefochten hatte. Morgen, an denen er große Taten verübt hatte – einige Schandtaten allerdings auch.

»Du machst einen ziemlich glücklichen Eindruck«, ertönte Monzas Stimme, »jedenfalls für einen Mann, der gleich sein Leben aufs Spiel setzen wird.«

Espe öffnete sein Auge und grinste sie an. »Ich habe meinen Frieden mit mir gemacht.«

»Schön für dich. Das ist der härteste Kampf, den man überhaupt gewinnen kann.«

»Ich habe ja nicht gesagt, dass ich ihn gewonnen habe. Nur dass ich nicht mehr kämpfe.«

»Allmählich beginne ich zu glauben, dass das der einzige Sieg ist, der zählt«, murmelte sie, beinahe nur an sich selbst gewandt.

Vor ihnen machte sich die erste Gruppe Söldner zum Aufbruch bereit, stand an den Leitern, die großen Schilde am freien Arm, unruhig und nervös, was schließlich auch kein Wunder war. Espe konnte nicht sagen, dass er die Männer um ihre Aufgabe beneidete. Sie machten sich nicht die geringste Mühe, zu verbergen, was sie vorhatten. Jeder wusste, was nun kommen würde, auf beiden Seiten der Mauer.

Rund um Espe bereitete sich auch schon die zweite Gruppe auf ihren Einsatz vor. Die Männer zogen mit dem Wetzstein über ihre Klingen, zurrten die Riemen der Rüstungen fest, erzählten sich die letzten Witze und hofften, dass es nicht die allerletzten überhaupt sein würden, die sie je erzählten. Espe grinste, als er ihnen zusah. Rituale, die er ein Dutzend Mal und öfter erlebt hatte. Fühlte sich fast nach zu Hause an.

»Hast du je das Gefühl gehabt, am falschen Ort zu sein?«, fragte er. »So als ob du nur den nächsten Berg ersteigen, den nächsten Fluss überqueren und ins nächste Tal hinunterschauen müsstest, damit alles … irgendwie passen würde. So, wie es sein sollte.«

Monza sah mit zusammengekniffenen Augen zur Mauer des inneren Hofes. »Mein ganzes Leben lang, mehr oder weniger.«

»Ständig ist man damit beschäftigt, sich auf die nächste Hürde vorzubereiten. Ich habe inzwischen eine Menge Berge erstiegen. Ich habe viele Flüsse überquert. Sogar ein Meer. Hab alles, was ich kannte, hinter mir gelassen und bin nach Styrien gekommen. Aber da stand ich und habe auf mich selbst gewartet, als ich vom Schiff kam, derselbe Mann, dasselbe Leben. Das nächste Tal ist nicht anders als das hier. Jedenfalls nicht besser. Ich denk mal, ich habe gelernt … mich an den Ort zu halten, an dem ich gerade bin. Der Mann zu sein, der ich nun einmal bin.«

»Und was bist du?«

Er sah auf die Axt, die auf seinen Knien lag. »Ein Mörder, würd’ ich sagen.«

»Das ist alles?«

»Ganz ehrlich? So ziemlich.« Er zuckte die Achseln. »Deswegen hast du mich doch in deine Dienste genommen, oder nicht?«

Sie sah missmutig zu Boden. »Was ist aus dem Optimisten geworden?«

»Kann ich nicht auch ein optimistischer Mörder sein? Mir hat einmal ein Mann gesagt – der Kerl, der meinen Bruder umgebracht hat, nebenbei bemerkt –, dass Gut und Böse immer davon abhängen, wo man selbst gerade steht. Wir alle haben unsere Gründe. Ob es anständige Gründe sind oder nicht, das hängt meist doch davon ab, wen man fragt, oder nicht?«

»Ist das so?«

»Ich hätte gedacht, gerade du würdest das so sehen.«

»Vielleicht habe ich das auch einmal. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht sind das nur die Lügen, die wir uns selbst erzählen, damit wir mit dem, was wir getan haben, leben können.«

Espe konnte sich nicht zurückhalten, er platzte laut lachend heraus.

»Was ist denn so lustig?«

»Ich brauche keine Ausreden, Häuptling, das ist alles, was ich dir sagen will. Wie heißt das noch, wenn eine Sache auf jeden Fall passieren wird? Es gibt doch ein Wort dafür, wenn irgendwas nicht mehr aufzuhalten ist? Nicht zu verhindern, egal, was man tut?«

»Unvermeidlich«, sagte Monza.

»Das ist es. Das Unvermeidliche.« Espe kaute auf dem Wort so zufrieden herum, als sei es ein Stück besonders gutes Fleisch. »Ich bin zufrieden mit dem, was geschehen ist. Ich bin zufrieden mit dem, was kommt.«

Ein schriller Pfiff fuhr durch die Luft. Mit rasselnden Rüstungen und im Gleichtakt knieten sich die ersten Angreifer in Zwölfergruppen hin und nahmen die langen Leitern auf. Dann begannen sie vorwärtszurennen, in abartig schlechter Schlachtordnung, wie Espe fand, und glitten dabei auf dem schlammigen Gartengelände immer wieder aus. Andere folgten ihnen, nicht allzu beflissen; Scharfschützen mit Flachbogen, die versuchen sollten, die Bogenschützen oben auf den Zinnen zu beschäftigen. Es gab ein bisschen Keuchen und Stöhnen, ein paar »Standhaft!«-Rufe und alles, was dazugehörte, aber es war insgesamt ein eher ruhiger Angriff. Es hätte auch irgendwie nicht gepasst, wenn man beim Sturm auf eine Mauer Kriegsgeschrei ausgestoßen hätte. Was tat man dann, wenn man dort ankam? Man konnte ja schlecht den ganzen Weg die Leiter hinauf weiterbrüllen.

»Da gehen sie hin.« Espe blieb stehen, hob seine Axt und schwenkte sie über dem Kopf. »Los! Los, auf geht’s, ihr Ärsche!«

Sie hatten die Hälfte des Gartens durchquert, als Espe jemanden »Feuer!« schreien hörte. Keinen Augenblick später war ein klickendes Rasseln von der Mauer zu hören. Bolzen flogen zu den Angreifern hinab. Es folgten ein paar Schreie, Schluchzer, ein paar der Jungs fielen, aber die meisten rannten weiter voran, jetzt noch schneller als zuvor. Söldner, die selbst Bogen besaßen, knieten sich hin und schossen ihrerseits eine Salve ab, die von den Zinnen abprallte oder direkt darüber hinwegging.

Wieder war die Pfeife zu hören, und die nächste Gruppe lief los, jene, die die undankbare Aufgabe gezogen hatten, die Leitern hinaufzuklettern. Sie waren meist nur leicht bewaffnet, damit sie sich schnell und geschickt bewegen konnten. Die erste Gruppe hatte es bis an den Fuß der Mauer geschafft und begann, die Leitern aufzurichten. Einer der Männer fiel mit einem Bolzen im Hals, aber den anderen gelang es dennoch, das schwere Ding ganz anzulehnen. Espe sah, wie es nach vorn kippte und gegen die Brustwehr schlug. Andere Leitern waren ebenfalls so weit. Auf der Brustwehr war nun mehr Bewegung; Soldaten beugten sich hinüber und warfen Steine hinab. Bolzen nahmen die zweite Gruppe unter Beschuss, aber die meisten waren nun schon nahe an der Mauer, gruppierten sich, begannen zu klettern. Erst standen sechs Leitern, dann zehn. Die nächste, die angelegt wurde, brach entzwei, als sie gegen die Brustwehr prallte, und Holzstücke prasselten auf die erschreckten Jungs hinunter, die sie getragen hatten. Espe musste leise kichern.

Noch mehr Steine flogen. Ein Mann stürzte auf halber Höhe von der Leiter, seine Beine knickten in verschiedene Richtungen weg, und er begann zu kreischen. Inzwischen wurde aber sowieso allerorten ordentlich gebrüllt und geschrien. Einige der Verteidiger auf dem Dach eines Turms kippten einen großen Zuber voller kochendem Wasser auf die Köpfe jener, die direkt darunter eine Leiter aufstellen wollten. Sie machten nun mächtig viel Lärm, die Leiter kippte um, und sie rannten wie die Verrückten herum und hielten sich die Köpfe.

Bolzen und Pfeile zischten hinauf und hinab. Steine flogen herab, prallten auf den Boden. Männer fielen an der Mauer oder auf dem Weg dorthin. Andere krochen durch den Schlamm zurück, wurden getragen, legten die Arme um die Schultern von Kameraden, die für jede Entschuldigung dankbar waren, aus der Schusslinie herauszukommen. Söldner hackten wild um sich, nachdem sie bis zur obersten Sprosse der Leitern gekommen waren, mehr noch wurden jedoch von wartenden Speerträgern wieder hinabgestoßen und kamen wesentlich schneller nach unten, als sie zuvor hinaufgekommen waren.

Espe sah, dass jemand auf der Brüstung einen Topf über einer Leiter und den darauf herumkletternden Männern ausleerte. Ein anderer kam mit einer Fackel, zündete die Leiter an, und die ganze obere Hälfte ging in Flammen auf. Öl demnach. Espe beobachtete die brennende Leiter und die brennenden Männer, die sich darauf befanden. Nach kurzer Zeit stürzten sie hinab, rissen dabei ein paar Kameraden mit. Noch mehr Geschrei. Espe schob seine Axt durch die Schlinge über seiner Schulter. Der beste Ort für die Waffe, wenn man klettern wollte. Es sei denn natürlich, dass sie herausrutschte und einem selbst den Kopf abschlug. Der Gedanke brachte ihn erneut zum Lachen. Ein paar Männer in seiner Nähe sahen ihn finster an, weil er so viel in sich hineinlachte, aber das war ihm egal. Sein Blut pochte nun schnell. Wenn er sie sich ansah, musste er nur noch mehr lachen.

Offenbar hatten es einige der Söldner nun an der rechten Seite bis zur Brustwehr geschafft. Er sah Klingen auf den Zinnen blitzen. Noch mehr Männer drängten dahinter nach. Eine Leiter, die voller Soldaten hing, wurde mit Stangen weggestoßen. Sie blieb einen Augenblick hoch aufgerichtet stehen, als wollte sie den Stelzenrekord der Welt brechen. Die armen Säcke oben an der Spitze wedelten mit den Armen, griffen ins Nichts, dann kippte die Leiter gemächlich um und schlug mitsamt ihrer menschlichen Fracht auf die Pflastersteine.

Auch links, direkt am Torhaus, wurde die Mauer geentert. Espe sah, dass Männer sich ein paar Schritte das Dach hinaufkämpften. Fünf oder sechs der Leitern lagen wieder unten, zwei lehnten noch an der Mauer und brannten, dicke schwarze Wolken in den Himmel schickend, aber auf den meisten anderen wimmelten von oben bis unten Soldaten herum. Offenbar waren die Verteidiger nicht allzu zahlreich, und die zahlenmäßige Überlegenheit machte sich allmählich bemerkbar.

Wieder ertönte die Pfeife, und die dritte Gruppe machte sich bereit, schwerer bewaffnete Männer, die nun den ersten auf den Leitern folgten und in die Festung drängen sollten.

»Los geht’s«, sagte Monza.

»Wie du meinst, Häuptling.« Espe holte tief Luft und lief los.

Die Bogen waren inzwischen fast völlig zum Schweigen gebracht worden, nur noch wenige Bolzen flogen aus den Schießscharten oben in den Türmen. Von daher war der Weg nun leichter als für die Truppe, die zuerst vorangestürmt war, eher ein Morgenspaziergang durch die überall verstreut liegenden Leichen. Sie erreichten eine der mittleren Leitern. Ein paar Männer und ein Feldwebel standen an ihrem Fuß, die Stiefel schon auf der ersten Sprosse, die Holme fest gepackt. Der Feldwebel gab jedem seiner Leute einen kleinen Klaps, als er hinaufstieg.

»Hoch mit euch, Jungs, hoch mit euch! Schnell und standhaft! Nicht trödeln! Hoch mit euch, und bringt die Ärsche da um! Du auch, du Drecksack – Oh. Verzeihung, Euer … äh … Exzellenz?«

»Halt sie einfach fest.« Damit begann Monza hinaufzusteigen.

Espe folgte, ließ die Hände über die rauen Holme gleiten, die Stiefel schabten über das Holz, und der Atem zischte durch sein Lächeln, während seine Muskeln langsam anfingen zu schmerzen. Er hielt die Augen starr auf die Mauer vor sich gerichtet. Hatte wenig Zweck, woandershin zu gucken. Falls ein Pfeil kam? Konnte man nichts machen. Falls jemand einen Stein schleuderte oder einen Kessel heißen Wassers auskippte? Konnte man nichts machen. Wenn sie die Leiter wegstießen? Scheißpech, klar, aber wenn man danach Ausschau hielt, wurde man nur langsamer, und das machte einen frühen Abgang nur wahrscheinlicher. Also kletterte er weiter und atmete schwer durch die zusammengebissenen Zähne.

Schon bald hatte er die Spitze der Leiter erreicht und kletterte darüber. Monza stand bereits auf dem Wehrgang, den Degen gezogen, und sah in den Inneren Hof hinab. Er konnte Kampfeslärm hören, aber aus größerer Entfernung. Ein paar Tote von beiden Seiten lagen hinter der Brustwehr. Ein Söldner saß gegen die Mauer gelehnt da, sein Arm war am Ellenbogen abgetrennt, und er hatte sich ein Seil um den Oberarm geschnürt, um nicht sofort zu verbluten. »Er ist über die Mauer gefallen, über die Mauer gefallen«, stöhnte er immer und immer wieder. Espe vermutete, dass er schon zur Mittagszeit tot sein würde, und er überlegte gleichzeitig, dass dieser Umstand bedeutete, dass es mehr Essen für alle gab. Man musste es von der erfreulichen Seite betrachten, oder nicht? Darum ging es doch bei dieser Sache mit dem Optimismus.

Er zog sich den Schild vom Rücken und schob den Arm durch die Riemen auf der Rückseite. Dann befreite er die Axt aus der Schulterschlinge und ließ den Griff in der Hand herumwirbeln. Fühlte sich gut an. Wie ein Schmied, der seinen Hammer bereitlegt, um dann gleich mit seiner Arbeit anzufangen. Unter ihnen erstreckten sich weitere Gärten, auf Terrassen angelegt, die man in die Bergflanke geschlagen hatte, die jedoch nicht annähernd so zerstört aussahen wie das Gelände außerhalb der Mauern. Auf drei Seiten fassten Gebäude die Grünflächen ein. Jede Menge funkelnder Fenster und verspielter steinerner Verzierungen, Kuppeln und Türmchen, die sich aus den Dächern erhoben, mit Statuen und glitzernden Zacken übersät. War nicht weiter schwer, den Palast Herzog Orsos auszumachen, und das war auch gut so, weil Espe schließlich wusste, dass er keinen allzu scharfen Verstand hatte. Aber ein Gespür für Blut.

»Los jetzt«, sagte Monza.

Espe grinste. »Bin direkt hinter dir, Häuptling.«

 

Die Gräben, die sich über die staubige Bergflanke zogen, waren verlassen. Die Soldaten, die sie zuvor bevölkert hatten, waren auf und davon, zurück in ihre Heimat oder bestrebt, die eigenen kleinen Rollen in den großen Ränkespielen um Macht und Einfluss zu übernehmen, die sich durch den vorzeitigen Tod von König Rogont und seinen Verbündeten ergeben hatten. Nur die Tausend Klingen waren noch da, und sie wimmelten nun hungrig durch König Orsos Palast wie Maden durch einen Leichnam. Schenkt hatte all das schon einmal gesehen. Treue, Pflichtbewusstsein, Stolz – insgesamt eher flüchtige Beweggründe, die sich Männer bei gutem Wetter gern leisteten, die aber schnell wie weggeblasen waren, sobald ein Sturm aufzog. Aber Gier? Auf Gier konnte man sich stets verlassen.

Er schritt den gewundenen Pfad entlang und überquerte das von Kampfspuren durchzogene Gelände vor den Mauern, ging über die Brücke und kam dem hoch aufragenden Torhaus von Fontezarmo immer näher. Ein einzelner Söldner lümmelte auf einem Klappstuhl vor dem offenen Tor, den Speer neben sich an die Mauer gelehnt.

»Was führt dich hierher?« Die Frage verriet kaum echtes Interesse.

»Herzog Orso hat mich damit beauftragt, Monzcarro Murcatto, die jetzige Großherzogin von Talins, zu töten.«

»Lächerlich.« Der Wachmann klappte sich den Kragen hoch, dass er die Ohren schützte, und lehnte sich wieder gegen die Wand.

Oft glauben die Menschen alles andere eher als die Wahrheit. Schenkt dachte darüber nach, als er den langen Torweg durchquerte und schließlich den Äußeren Hof der Festung betrat. Die streng geordnete Schönheit der Formschnittgärten Herzog Orsos hatte sich komplett verflüchtigt, ebenso wie die gesamte nördliche Mauer. Aber so war der Krieg. Es gab ziemlich viel Durcheinander. Aber auch das war der Krieg.

Der letzte Angriff war offenbar in vollem Gange. Leitern standen an der Mauer des Inneren Hofes, und unter ihnen lagen im zerstörten Garten zahlreiche Tote und Verletzte verstreut. Feldscherer waren dort unterwegs, verteilten Wasser, machten sich an Verbänden oder Schienen zu schaffen und betteten Männer auf Bahren. Schenkt wusste, dass nur wenige derer, die nicht mehr selbst kriechen konnten, überleben würden. Dennoch klammerten sich die Menschen stets an den kleinsten Funken Hoffnung. Das war eine der Eigenschaften, für die man sie bewundern konnte.

Er blieb still neben einem geborstenen Springbrunnen stehen und sah den Verwundeten zu, die sich gegen das Unvermeidliche sträubten. Ein Mann glitt plötzlich hinter den Steintrümmern hervor und rannte ihn beinahe um. Ein unauffälliger, schon leicht kahl werdender Kerl, der eine abgewetzte, nietenbesetzte Lederweste trug.

»Gah! Ich bitte vielmals um Entschuldigung!«

Schenkt erwiderte nichts.

»Sie sind … sind Sie … ich meine … sind Sie hier, um sich aktiv an diesem Angriff zu beteiligen?«

»Gewissermaßen.«

»Ich ebenfalls, ich ebenfalls. Gewissermaßen.« Es wäre nichts Ungewöhnliches daran gewesen, einen Söldner von der Schlacht fliehen zu sehen, aber irgendetwas passte nicht ins Bild. Der Mann war wie ein brutaler Schläger gekleidet, sprach aber wie ein schlechter Schreiber. Die Hand, die Schenkt am nächsten war, wedelte herum, als wollte sie unbedingt von der anderen ablenken, die offensichtlich nach einer verborgenen Waffe tastete. Schenkt runzelte die Stirn. Er hatte nicht die Absicht, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Daher gab er diesem Mann eine Gelegenheit, wie er das immer tat, wenn es irgend möglich war.

»Wir beide haben also etwas zu tun. Dann wollen wir uns nicht weiter aufhalten.«

Die Miene des Fremden hellte sich auf. »Absolut nicht, nein. An die Arbeit.«

 

Morveer stieß ein falsches Lachen aus, und dann fiel ihm ein, dass er unabsichtlich wieder in seinen eigenen Tonfall hineingerutscht war. »An die Arbeit«, grunzte er in der wenig überzeugenden tiefen Tonlage eines gemeinen Tagelöhners.

»An die Arbeit«, gab der Mann zurück, dessen helle Augen immer noch auf ihm ruhten.

»Gut. Ja, dann.« Morveer umrundete den Fremden und ging weiter, ließ die Hand von der präparierten Nadel gleiten und locker herabhängen. Zweifelsohne war irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Kerl, aber wenn es Morveers Mission gewesen wäre, jeden Menschen zu vergiften, der irgendwie ungewöhnlich wirkte, dann wäre er niemals auch nur zur Hälfte mit seiner Arbeit fertig geworden. Glücklicherweise hatte er lediglich den Auftrag, sieben der wichtigsten Würdenträger Styriens zu ermorden, und dabei hatte er kürzlich bereits spektakuläre Erfolge feiern können.

Noch immer war er ganz überwältigt vom Ausmaß seiner jüngsten Leistung, der Kühnheit der Durchführung und der unvergleichlichen Genialität seines Plans. Zweifelsohne war er der größte Giftmischer aller Zeiten und hatte seinen Platz in der Geschichte sicher. Es verbitterte ihn, dass er seine großen Leistungen nie mit der Welt würde teilen können und dass er niemals die Bewunderung erfahren würde, die seinem Triumph doch ganz klar gebührte. Oh, wenn doch nur der zweifelnde Leiter des Waisenhauses diesen glücklichen Tag hätte miterleben dürfen, dann hätte er zugeben müssen, dass Castor Morveer aus einem Stoff gemacht war, der zu unvergleichlichen Großtaten befähigte! Wenn seine Frau es gesehen hätte, dann hätte sie ihn endlich verstanden und sich nicht dauernd wegen seiner seltsamen Angewohnheiten beklagt! Wenn sein berüchtigter einstiger Lehrer, Moumah-yin-Bek, nur hätte dabei sein können, dann hätte er sicherlich anerkannt, dass sein Schüler ihn auf ewig in den Schatten stellte. Wäre Day noch am Leben, dann hätte sie sicherlich mit ihrem silberhellen Kichern sein Genie anerkannt, ihr unschuldiges Lächeln aufgesetzt und ihn vielleicht sogar ganz sachte berührt, vielleicht hätte sie sogar … Aber jetzt war nicht die Zeit, sich solchen Fantastereien hinzugeben. Es hatte triftige Gründe dafür gegeben, sie alle vier zu vergiften, und von daher musste Morveer sich damit begnügen, sich selbst zu beglückwünschen.

Offenkundig hatte man nach dem Mord an Rogont und seinen Verbündeten alle sonst gültigen Grundsätze bei der Belagerung von Fontezarmo über Bord geworfen. Ohne die geringste Übertreibung konnte man behaupten, dass der Äußere Hof der Festung so gut wie gar nicht bewacht war. Natürlich war ihm bewusst, dass Nicomo Cosca ein aufgeblasener Windbeutel, ein berüchtigter Säufer und ein völlig unfähiger Dummkopf war, aber Morveer hatte dennoch angenommen, der Söldnergeneral würde zumindest gewisse Sicherheitsvorkehrungen treffen. Es war beinahe enttäuschend leicht, hier einzudringen.

Obwohl die Kämpfe auf den Zinnen größtenteils beendet schienen – das Tor zum Inneren Hof war in den Händen der Söldner und stand weit offen –, drang immer noch leiser Kampfeslärm von den weiter innen liegenden Gärten. Ein äußerst ekliges Geschäft; er war froh, dass es keinen Grund für ihn gab, sich in die Nähe solcher Auseinandersetzungen zu begeben. Die Tausend Klingen hatten die Zitadelle eingenommen, und damit war Herzog Orsos Schicksal besiegelt, aber dieser Gedanke bereitete Morveer keine Kopfschmerzen. Große Männer kamen und gingen. Das war eben so. Doch ihm war die Bezahlung seiner Arbeit vom Bankhaus Valint und Balk garantiert worden, und das ging über einen einzelnen Mann und ein einzelnes Land hinaus. Das war nicht umzubringen.

Ein paar Verwundete waren auf einen Flecken kargen Grases gebettet worden, in den Schatten eines Baums, an den unerklärlicherweise eine Ziege gebunden war. Morveer verzog das Gesicht, schlich zwischen ihnen hindurch, die Lippen geschürzt angesichts der blutigen Verbände, der befleckten Kleidung, der großen Fleischwunden …

»Wasser …«, flüsterte ihm einer entgegen und umklammerte seinen Knöchel.

»Immer ist es Wasser!« Er riss sein Bein los. »Sucht euch doch welches!« Hastig trat er durch eine offene Tür in den größten Turm des Äußeren Hofs, in dem, wie er aus verlässlicher Quelle wusste, der Wachhauptmann der Festung sein Quartier gehabt hatte und in dem nun Nicomo Cosca residierte.

Er schlich durch die Düsternis der engen Gänge, die von den Schießscharten notdürftig erhellt wurden. Dann kroch er eine Wendeltreppe hinauf, schabte mit dem Rücken gegen den rauen Stein, die Zunge hart gegen den Gaumen gepresst. Die Tausend Klingen waren ebenso schlampig und leicht zu übertölpeln wie ihr Befehlshaber, aber Morveer war sich stets bewusst, dass ein unglücklicher Zufall genügte, um ihm den aberwitzig leichten Zugang, über den er sich gerade so freute, gründlich zu vermasseln. Vorsicht stand schließlich immer an erster Stelle.

Der erste Stock war zu einem Lager umfunktioniert worden, in dem schattendunkle Kisten standen. Morveer tastete sich weiter vor. Im zweiten Geschoss entdeckte er leere Stockbetten, die offensichtlich von den früheren Wachleuten der Festung benutzt worden waren. Nachdem er zwei weitere Runden die Wendeltreppe hinaufgestiegen war, drückte er vorsichtig mit dem Finger eine Tür auf und spähte durch den Spalt.

In dem runden Raum, der dahinter lag, befanden sich ein großes Himmelbett, Regale mit vielen beeindruckend aussehenden Büchern, ein Schreibtisch und mehrere Kleiderkisten, ein Rüstungsgestell, auf dem schimmernde Panzerungen hingen, ein Degenstand, in dem verschiedene Klingen steckten, ein Tisch mit vier Stühlen und einem Kartenspiel sowie ein großes Getränkekabinett mit Intarsientüren, auf dem einige Gläser standen. An einer Reihe Haken über dem Bett hingen verschiedene auffällige Hüte mit glitzernden Schmucknadeln, vergoldeten Bändern und großen Federn in allen Regenbogenfarben, die sich in dem leichten Windhauch bewegten, der durch das Fenster hineinwehte. Es war ganz unzweifelhaft das Gemach, das sich Cosca als Quartier gewählt hatte. Niemand sonst hätte es gewagt, derartig lächerlichen Kopfputz zu tragen, aber im Augenblick war von dem großen Säufer nichts zu sehen. Morveer schlüpfte hinein und drückte die Tür geräuschlos hinter sich zu. Auf leisen Sohlen schlich er zum Schränkchen, wich geschickt dem Zusammenstoß mit einem abgedeckten Melkeimer aus, der darunter stand, und öffnete mit sanftem Druck die Türen.

Morveer gönnte sich ein kleines Lächeln. Nicomo Cosca hätte sich sicherlich selbst als wilden und romantischen Außenseiter betrachtet, den keinerlei Gewohnheit fesseln konnte. Dabei war er so vorhersehbar wie der Lauf der Sterne und so berechenbar wie die Gezeiten. Die meisten Menschen änderten sich nie, und ein Säufer blieb immer ein Säufer. Die größte Schwierigkeit lag nun jedoch in der großen Auswahl verschiedener Flaschen, die er hier aufgereiht hatte. Man konnte nicht mit Sicherheit sagen, aus welcher er das nächste Mal einen Schluck nehmen würde. Morveer sah keinen anderen Ausweg, als die ganze Sammlung zu vergiften.

Er zog sich Handschuhe an und ließ die Grünsaatlösung vorsichtig aus seiner Innentasche gleiten. Sie war nur dann tödlich, wenn man sie verschluckte, und wie lange es brauchte, bis der Tod eintrat, hing stark vom Opfer selbst ab, aber sie hatte nur einen ganz leicht fruchtigen Geruch, den man überhaupt nicht wahrnahm, wenn das Mittel in Wein oder Schnaps geträufelt wurde. Sorgfältig prägte sich Morveer genau ein, wo und wie jede Flasche stand und wie tief der jeweilige Korken hineingedrückt war, dann nahm er sie nacheinander heraus, ließ vorsichtig einen Tropfen aus seiner Pipette in den Hals fallen, setzte den Korken wieder auf und stellte die Flasche wieder genauso hin, wie er sie vorgefunden hatte. Er lächelte, als er Flaschen der verschiedensten Größen, Formen und Farben vergiftete. Diese Arbeit war wesentlich weniger originell als der Geniestreich mit der vergifteten Krone, aber deswegen nicht weniger verdienstreich. Er würde wie ein Zephyr des Todes durch dieses Zimmer wirbeln, ohne eine Spur zu hinterlassen, und diesem ekelhaften Säufer das wohlverdiente Ende bereiten. Wieder würde man von Nicomo Coscas Tod berichten, aber es würde wahrhaftig das letzte Mal sein. Nur wenige Menschen würden davon ausgehen, dass etwas anderes als der völlig verdiente und gemeinsinnige …

Er erstarrte. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Schnell schob er den Korken in die letzte Flasche, stellte sie sorgfältig an ihren Platz und schoss durch eine enge Tür in eine dunkle, kleine Zelle, eine Art …

Er rümpfte die Nase, als ihm ein kräftiger Uringeruch entgegenwehte. Die strenge Schicksalsgöttin ließ doch keine Gelegenheit aus, um ihn zu erniedrigen. Er hätte es wissen müssen, dass sich ihm ausgerechnet eine Latrine als Versteck anbieten würde. Nun konnte er nur darauf hoffen, dass Cosca nicht das dringende Bedürfnis überkam, seine Gedärme zu entleeren …

 

Die Kämpfe an der Befestigungsmauer schienen ohne große Schwierigkeiten zu Ende gegangen zu sein. Zweifelsohne wurde im Inneren Hof weiter gekämpft, ebenso wie in den reich geschmückten Staatsräumen und den hallenden Marmorsälen von Herzog Orsos Palast. Aber von Coscas Ausguck oben im Wachtturm war davon nichts zu sehen. Und selbst, wenn er etwas hätte sehen können, welchen Unterschied hätte das gemacht? Wenn man einmal gesehen hat, wie eine Festung erstürmt wird, dann …

»Victus, mein Freund!«

»Hm?« Der letzte Oberhauptmann der Tausend Schwerter senkte das Fernrohr und sah Cosca wie immer mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen an.

»Ich würde sagen, der Tag ist unser.«

»Ich würde sagen, da hast du recht.«

»Wir beide können hier oben nichts mehr ausrichten, selbst, wenn wir etwas sehen könnten.«

»Da sagst du ein wahres Wort, wie immer.« Cosca verstand das als Witz. »Jetzt ist der Rest unvermeidlich. Es bleibt nichts anderes mehr übrig, als die Beute zu teilen.« Victus strich geistesabwesend über die Ketten, die ihm um den Hals hingen. »Das liebe ich bei jeder Belagerung am meisten.«

»Ein Kartenspiel?«

»Warum nicht?«

Cosca schob sein Fernrohr zusammen und ging als Erster die Wendeltreppe hinab zu der Kammer, die er okkupiert hatte. Er trat zu dem Schränkchen und öffnete die Intarsientüren. Die vielfarbigen Flaschen begrüßten ihn wie ein Grüppchen alter Freunde. Ah, ein Schnaps, ein Schnaps, ein Schnaps. Ein Glas zur Hand nehmend, zog er mit einem satten Plopp den Korken aus dem nächstbesten Behältnis.

»Was trinken?«, rief er über seine Schulter.

»Warum nicht?«

 

Es wurde noch immer gekämpft, aber von einer organisierten Verteidigung konnte längst nicht mehr gesprochen werden. Die Söldner hatten alle Gegner von den Mauern geholt und aus den Gärten getrieben, und nun stürmten sie die Türme, die Gebäude, den Palast. Mehr und mehr quollen über die Leitern, verzweifelt darum bemüht, sich nichts von der Beute entgehen zu lassen. Niemand kämpfte entschlossener oder bewegte sich schneller als die Männer der Tausend Klingen, wenn sie Profit und Plünderung witterten.

»Hier entlang.« Sie lief auf das Haupttor des Palastes zu, nahm genau denselben Weg wie an dem Tag, da man ihren Bruder getötet hatte, vorbei an dem runden Teich, in dem jetzt zwei Leichen mit dem Gesicht nach unten im Schatten der hohen Scarpiussäule trieben. Espe folgte ihr, und er trug noch immer das seltsame Lächeln, das schon den ganzen Tag auf seinen Zügen lag. Sie kamen an einer Gruppe Männer vorbei, die sich um eine Tür geschart hatten, die Augen hell leuchtend vor Gier, und die beherzt die Äxte gegen das Schloss schwangen; die Tür erbebte unter jedem Schlag. Als sie endlich aufflog, stolperten sie übereinander, schrien, brüllten, drängten sich beiseite, um ja der Erste zu sein. Zwei hatten sich zu Boden geschlagen und kämpften um etwas, das sie noch nicht einmal gestohlen hatten.

Etwas weiter entfernt hatten zwei Söldner einen Dienstboten, der eine goldgesäumte Jacke trug und dessen entsetztes Gesicht blutverschmiert war, auf einen Brunnenrand gesetzt. Einer ohrfeigte ihn und schrie: »Wo ist das verdammte Geld?« Dann tat der andere dasselbe. Der Kopf des Dieners flog hin und her. »Wo ist das verdammte Geld, wo ist das verdammte Geld, wo ist das verdammte Geld …«

Ein Fenster schwang krachend auf, und Stückchen der Bleiverglasung, Glassplitter und ein antikes Schränkchen flogen aufs Pflaster und zerbarsten. Ein Söldner rannte unter Triumphgebrüll an ihnen vorüber, die Arme um etwas Schimmerndes geschlungen. Vielleicht ein Vorhang. Monza hörte einen Schrei, fuhr herum, sah jemanden von einem Fenster weiter oben mit dem Kopf voran in den Garten stürzen und sich schlaff in der Luft drehen. Von irgendwoher drang lautes Kreischen. Es klang nach einer Frau, aber das war schwer zu sagen, so verzweifelt, wie es sich anhörte. Überall wurde gebrüllt, geschrien, gelacht. Sie schluckte ihre Übelkeit hinunter, versuchte nicht daran zu denken, dass sie es war, die all das verursacht hatte. Das war es, wohin ihre Rache geführt hatte. Jetzt konnte sie die Augen nur noch nach vorn richten wie immer, und darauf hoffen, Orso als Erste zu finden.

Ihn zu finden und ihn bezahlen zu lassen.

Die beschlagenen Palasttüren waren noch immer verschlossen, aber die Söldner hatten einen anderen Weg ins Gebäude gefunden und eines der großen Bogenfenster an der Seite eingeschlagen. Jemand musste sich in der Eile, hineinzukommen und reich zu werden, geschnitten haben – auf dem Fensterbrett waren Blutspuren. Monza drängte sich hindurch, ihre Stiefel knirschten auf geborstenem Glas, dann sprang sie in den großen Speisesaal, der dahinter lag. Sie hatte hier einmal gegessen, fiel ihr plötzlich wieder ein, mit Benna an ihrer Seite, und sie hatten gelacht. Auch der Getreue war dabei gewesen. Orso, Ario, Foscar, Ganmark, eine Gruppe weiterer Offiziere. Ihr ging durch den Kopf, dass vermutlich so gut wie alle Gäste jenes Abends jetzt tot waren. Dem Saal war es nicht viel besser ergangen.

Er sah aus wie ein Feld, über das die Heuschrecken hergefallen waren. Die Hälfte der Bilder waren schon weggeschleppt worden, die übrigen hatte man einfach zerschnitten. Die zwei großen Vasen neben dem Kamin waren zu schwer zum Tragen, und daher hatte man sie zertrümmert und die goldenen Griffe mitgenommen. Auch die Vorhänge waren heruntergerissen worden, und alle Teller waren geklaut, außer jenen, deren Bruchstücke den Boden bedeckten. Seltsam, dass Menschen in einer solchen Lage fast ebenso viel Freude daran hatten, etwas kaputt zu machen, wie etwas zu stehlen. Sie randalierten immer noch durchs Haus und nahmen alles auseinander, um ja nichts zu übersehen, das vielleicht einen gewissen Wert gehabt hätte. Einer dieser närrischen Kerle hatte einen Stuhl auf den Tisch gestellt und versuchte an den Kronleuchter heranzukommen. Ein anderer mühte sich damit ab, die kristallenen Türknäufe mit einem Messer zu lösen.

Ein pockennarbiger Söldner grinste sie an, die Hände voller vergoldetem Besteck. »Ich hab ’n paar Löffel!«, brüllte er. Monza schob ihn aus dem Weg, und er stolperte, sein ganzer Schatz flog über den Boden, und andere Männer bückten sich danach wie Enten, denen man Brotkrumen hinstreut. Mit Espe an der Seite drängte sie sich durch die offene Tür in einen Marmorkorridor. Kampfeslärm hallte zu ihnen herüber. Heulen und Brüllen, metallisches Scheppern, krachendes Holz aus allen Richtungen. Sie spähte angestrengt in der Düsternis nach links und rechts und versuchte sich zu orientieren, während Schweißtropfen auf ihrer Kopfhaut prickelten.

»Hier entlang.« Sie kamen an einem großen Salon vorbei, in dem Männer gerade die Polsterung der antiken Sessel zerfetzten, als ob Orso sein Geld unter dem Bezug versteckt haben würde. Die Tür daneben wurde von einer begierigen Menge eingeschlagen. Ein Mann bekam einen Pfeil in den Hals, als sie endlich nachgab, die anderen stürzten an ihm vorbei, heulten vor Begeisterung, und Waffengeklirr ertönte. Monza hielt die Augen weiter nach vorn gerichtet und dachte nur an eines: Orso finden. Hastig lief sie eine Treppe hinauf, die Zähne zusammengebissen, den dumpfen Schmerz in den Beinen kaum noch fühlend.

Die Stufen führten zu einer düsteren Galerie, die eine Seite eines hohen Saals einnahm, dessen Tonnengewölbe mit vergoldeten Blättern verziert war. Die ganze Wand bestand aus einer großen Orgel, deren polierte Pfeifen aus geschnitztem Holz emporragten. Vor der Tastatur stand ein Hocker für den Organisten. Darunter, hinter einem schön geschnitzten Holzgeländer, lag das Musikzimmer. Söldner kreischten vor Vergnügen und prügelten eine lärmende Sinfonie aus den Instrumenten, die sie dabei zerschlugen.

»Wir sind ganz nahe dran«, flüsterte sie über ihre Schulter.

»Gut. Es ist an der Zeit, die Sache hinter uns zu bringen, würd’ ich sagen.«

Genau das dachte sie auch. Vorsichtig schlich sie zu der hohen Tür in der gegenüberliegenden Wand. »Orsos Gemächer liegen in dieser Richtung.«

»Nein, nein.« Stirnrunzelnd wandte sie den Kopf. Espe stand grinsend da, und sein metallenes Auge schimmerte im Dämmerlicht. »Das meine ich nicht.«

Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. »Was dann?«

»Du weißt, was.« Sein Lächeln wurde breiter, die Narben verzogen sich, und er streckte seinen Hals nach links und nach rechts.

Gerade rechtzeitig duckte sie sich und nahm eine Kampfhaltung ein. Fauchend kam er ihr entgegen, und die Axt blitzte auf. Sie wich aus und warf dabei den Hocker um, stürzte beinahe und versuchte immer noch, ihre Gedanken zu sortieren. Seine Axt schlug in die Orgelpfeifen und verursachte ein dröhnendes, verrücktes Geräusch. Er drehte die Klinge wieder heraus und hinterließ ein klaffendes Loch in dem dünnen Metall. Dann setzte er ihr wieder nach, aber nun war der Schreck vergangen, und kalte Wut war an seine Stelle getreten.

»Du einäugiger Schwanzlutscher!« Vielleicht nicht besonders originell, dafür aber von Herzen. Sie machte einen Satz auf ihn zu, aber er blockte den Calvez mit seinem Schild ab, schwang die Axt, und sie konnte nur noch knapp ausweichen. Die schwere Klinge krachte in das Gehäuse der Orgel, und Splitter flogen durch die Gegend. Wachsam zog sie sich zurück, hielt Abstand. Sie konnte dieses wuchtige Stahlgewicht ebenso wenig abwehren, wie es ihr gelungen wäre, dieser Orgel eine süße Melodie zu entlocken.

»Warum?«, fauchte sie ihn an, während sich die Spitze des Calvez in kleinen Kreisen bewegte. Seine Gründe waren ihr dabei scheißegal, sie wollte ihn lediglich hinhalten und nach einer Lücke in seiner Deckung suchen.

»Vielleicht hing mir deine Verachtung zum Hals raus.« Geschützt hinter seinem Schild rückte er vor, und sie wich weiter zurück. »Oder vielleicht hat Eider mir auch einfach mehr angeboten.«

»Eider!« Sie spuckte ihm ihr Lachen ins Gesicht. »Das ist eben dein Problem! Du bist ein verdammter Vollidiot!« Bei dem letzten Wort schlug sie zu, versuchte, ihn zu überraschen, aber er ließ sich nicht täuschen und parierte ihre Stöße ruhig mit seinem Schild.

»Ich bin der Vollidiot? Nach dem ich dir wie oft das Leben gerettet habe? Ich habe mein Auge gegeben! Damit du zusammen mit diesem hohlköpfigen Arschloch Rogont über mich lachen konntest? Du hast mich wie Dreck behandelt und trotzdem erwartet, dass ich treu zu dir halte, und da nennst du mich einen Idioten?« Dagegen war kaum etwas zu sagen, nun, da er ihr es so unter die Nase rieb. Sie hätte auf Rogont hören, hätte zulassen sollen, dass er Espe erledigte, aber sie hatte sich von ihren Schuldgefühlen überwältigen lassen. Erbarmen war vielleicht ein Zeichen von Mut, wie Cosca gesagt hatte, aber offenbar war es nicht immer die beste Idee. Espe bewegte sich wieder auf sie zu, und sie wich zurück, wobei ihr allmählich der Platz dazu ausging.

»Du hättest das erwarten können«, flüsterte er, und sie dachte bei sich, da ist was dran. Sie hätte schon lange damit rechnen sollen. Seit sie mit Rogont ins Bett gegangen war. Seit sie sich von Espe abgewandt hatte. Seit er sein Auge in den Zellen unter Saliers Palast verloren hatte. Vielleicht aber auch schon seit dem ersten Tag, da sie einander begegnet waren. Vorher vielleicht sogar. Immer.

Manche Dinge sind eben unvermeidlich.