LEIDENSCHAFT UND TOD
In der Dunkelheit verwandelte sich Cardottis Haus der Sinnesfreuden in eine ganz andere Welt. Ein Traumland, das von der tristen Wirklichkeit so weit entfernt war wie der Mond. Der Spielsaal war von dreihundertsiebzehn flackernden Kerzen erhellt. Freundlich hatte sie gezählt, als sie auf den blitzenden Kronleuchtern in die Höhe gezogen, in Wandleuchter gesteckt und in glitzernde Kerzenhalter gedreht worden waren.
Inzwischen hatte man die grauen Tücher von den Spieltischen gezogen, und einer der Kartengeber mischte sein Blatt, ein anderer saß einfach nur da und starrte vor sich hin, während ein dritter sorgfältig seine Gewinnmarken vor sich auftürmte. Freundlich zählte still mit ihm mit. Auf der anderen Seite des Raums ölte ein alter Mann das Glücksrad. Für jene, die darauf setzten, würde es vermutlich wenig Glück bringen, wenn Freundlich die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer richtig berechnet hatte. Das war ja das Seltsame mit den Glücksspielen. Die Wahrscheinlichkeit war gegen den Spieler. Vielleicht konnte man die Zahlen an einem einzigen Tag einmal überlisten, aber niemals auf Dauer.
Alles glänzte wie ein verborgener Schatz, vor allem die Frauen. Sie waren nun angezogen und maskiert, und das warme Kerzenlicht verwandelte sie in Geschöpfe, die nicht mehr viel Menschliches an sich hatten. Die langen, schlanken Glieder waren geölt, gepudert und mit Glitzerstaub bestäubt, die Augen leuchteten dunkel durch die Sehschlitze in den vergoldeten Masken, Lippen und Nägel waren dunkelrot wie Blut aus tödlichen Wunden.
Die Luft war voller seltsamer, furchteinflößender Gerüche. In der Sicherheit hatte es keine Frauen gegeben, und Freundlich fühlte sich recht angespannt. Er beruhigte sich selbst damit, dass er immer wieder die Würfel rollen ließ und die geworfenen Zahlen zusammenzählte. Inzwischen war er schon bei viertausendzweihundertund…
Eine der Frauen rauschte an ihm vorüber, ihr Rüschenkleid strich über den gurkhisischen Teppich, und bei jedem Schritt glitt ein nacktes Bein aus der Schwärze hervor. … Zweihundertund… Seine Augen folgten diesem Bein, als seien sie daran festgeheftet, und sein Herz klopfte stark. … Zweihundertund…sechsundzwanzig. Er löste die Augen ruckartig von dem Anblick und sah wieder auf die Würfel.
Drei und zwei. Völlig normal, nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte. Er richtete sich ein wenig auf und wartete. Vor dem Fenster, im Innenhof, trafen die ersten Gäste ein.
»Willkommen, liebe Freunde, bei Cardotti! Wir haben hier alles, was sich große Jungen wünschen! Zu Würfeln und Karten, Spielen um Geschicklichkeit und Glück geht es hier entlang! All jene, die sich der Umarmung von Mutter Spreu ergeben möchten, bitte durch diese Tür! Wein und stärkere Getränke können Sie jederzeit und überall bestellen. Gönnen Sie sich ein paar Schluck, liebe Freunde! Hier und auf dem Hof wird es den ganzen Abend über verschiedene unterhaltsame Darbietungen geben! Tanz, Gaukelei, Musik … vielleicht sogar etwas Gewalt für jene, die gern ein wenig Blut sehen! Was die weibliche Begleitung angeht, nun … die finden Sie überall in diesem Gebäude …«
Ein maskierter und gepuderter Strom von Männern drängte sich in den Hof. Überall standen teuer und exquisit gekleidete Gestalten, und die Luft summte von angeberischem Geschwätz. Die Musikgruppe stimmte in einer Ecke des Hofes eine fröhliche Weise an, und in einer anderen warfen die Gaukler einen Wirbel funkelnder Gläser hoch in die Luft. Gelegentlich stolzierte eine der Frauen vorbei, flüsterte einem Mann etwas zu und führte ihn dann ins Haus. Und zweifelsohne nach oben. Cosca fragte sich unwillkürlich, ob er sich wohl für kurze Zeit empfehlen durfte.
»Äußerst entzückt, meine Liebe«, murmelte er und zog den Hut vor einer gertenschlanken Blondine, die gerade an ihm vorüberglitt.
»Kümmere dich um die Gäste!«, fauchte sie ihm heftig entgegen.
»Habe doch nur versucht, die Stimmung zu heben und ein bisschen zu helfen.«
»Wenn du helfen willst, kannst du ein oder zwei Schwänze lutschen! Mir stehen noch genug bevor!« Jemand fasste ihr auf die Schulter, und sie wandte sich um, lächelte strahlend, nahm den Mann am Arm und ließ sich hinwegführen.
»Was sind das alles hier für Kerle?«, raunte Espe ihm ins Ohr. »Drei oder vier Dutzend, hat man uns doch gesagt, ein paar Bewaffnete, die aber nicht gerne kämpfen? Das müssen doch jetzt schon doppelt so viele sein!«
Cosca grinste und klopfte dem Nordmann auf die Schulter. »Ich weiß! Ist es nicht aufregend, wenn man ein Fest veranstaltet und mehr Gäste kommen, als man erwartet hat? Hier ist wohl jemand richtig beliebt!«
Espe sah nicht besonders erheitert aus. »Wir aber wohl nicht! Wie sollen wir bei all dem den Überblick behalten?«
»Wie kommst du darauf, dass ich das wüsste? Nach meiner Erfahrung läuft es im Leben nur selten so, wie man es erwartet. Wir müssen uns auf die Gegebenheiten einstellen und einfach nur unser Bestes tun.«
»Vielleicht sechs Wächter, hieß es! Und wer sind die da?« Der Nordmann deutete mit dem Kinn zu einem finster dreinblickenden Knäuel von Männern, die polierte Brustpanzer über gesteppten schwarzen Jacken trugen, dazu grimmige Masken aus reinem Stahl, grimmige Degen und grimmige Messer an den Seiten, und die mit ihrem markigen Kinn grimmige Gesichter machten. Ihre Augen glitten aufmerksam über den Hof, als hielten sie nach Bedrohungen Ausschau.
»Hmmm«, machte Cosca. »Darüber habe ich mich auch schon gewundert.«
»Gewundert?« Die Faust des Nordmanns spannte sich unangenehm fest um Coscas Arm. »Wann wird aus Sichwundern denn vor Angst in die Hosen machen?«
»Das habe ich mich schon oft gefragt.« Cosca streifte seine Hand ab. »Aber es ist eine komische Sache. Ich bekomme einfach keine Angst.« Er wanderte durch die Menge, klopfte den Leuten auf die Schultern, bestellte Getränke, wies auf besondere Attraktionen hin und verbreitete überall, wo er erschien, gute Laune. Er war in seinem Element. Laster, Luxus, aber auch Gefahr.
Er fürchtete sich vor dem Alter, vor Scheitern und Verrat, und er hatte Angst davor, sich zum Narren zu machen. Aber vor einem Kampf hatte er noch niemals Furcht verspürt. Gerade dann, wenn er auf den Beginn einer Schlacht gewartet hatte, war er oftmals besonders glücklich gewesen. Wie er dem Aufmarsch der zahllosen Gurkhisen vor Dagoska zugesehen hatte. Oder der Aufstellung des Heeres von Sipani vor der Schlacht von den Inseln. Wie er bei Mondlicht auf sein Pferd geklettert war, als der Feind aus den Mauern von Muris hervorbrach. Gefahr war das, was er am meisten genoss. Dann waren alle Zukunftssorgen wie weggeblasen. Ebenso wie die Erinnerungen an vergangenes Versagen. Nur das herrliche Jetzt war dann zu spüren. Er schloss die Augen und zog die Luft ein, fühlte sie angenehm in seiner Brust kitzeln, hörte das aufgeregte Schwatzen der Gäste. Fast spürte er nicht einmal mehr das Verlangen nach einem Schnaps.
Er klappte die Augen wieder auf und sah zwei Männer, die durch das Tor kamen, während andere sich beeilten, ihnen Platz zu machen. Seine Hoheit Prinz Ario war in einen scharlachroten Mantel gekleidet. Seidene Manschetten bauschten sich an seinen bestickten Ärmeln auf eine Weise, die deutlich machte, dass er es niemals nötig hatte, selbst nach irgendetwas zu greifen. Ein Büschel verschiedenfarbiger Federn quoll aus der Oberkante seiner goldenen Maske und wedelte wie ein Pfauenschwanz, als er sich wenig beeindruckt umsah.
»Euer Hoheit!« Cosca zog den Hut und verbeugte sich tief. »Ihre Anwesenheit ehrt uns wahrlich, wahrlich sehr.«
»In der Tat«, bemerkte Ario. »Ebenso wie die Anwesenheit meines Bruders.« Er deutete mit einer schlaffen Handbewegung auf den Mann neben sich, der ganz und gar in makelloses Weiß gekleidet war, eine Maske in der Form einer halbrunden, goldenen Sonnenhälfte trug, und der, wie Cosca dachte, etwas nervös und zögerlich wirkte. Es war ganz ohne Zweifel Foscar, auch wenn er sich einen Bart hatte wachsen lassen, der ihm außerordentlich gut stand. »Nicht zu vergessen unser gemeinsamer Freund, Meister Sulfur.«
»Leider kann ich nicht bleiben.« Ein unauffälliger Mann war hinter die beiden Brüder getreten. Er hatte lockiges Haar, trug einen schlichten Anzug und hatte ein schwaches Lächeln aufgesetzt. »Es ist noch so viel zu tun. Nie hat man seine Ruhe, nicht wahr?« Er grinste Cosca an. Aus den Löchern seiner Maske blickten zwei verschiedenfarbige Augen: eins blau, eins grün. »Ich muss heute noch zurück nach Talins und mit Ihrem Vater reden. Wir können den Gurkhisen nicht derart freie Hand lassen.«
»Natürlich nicht. Verdammt seien diese gurkhisischen Dreckskerle. Gute Reise, Sulfur.« Ario neigte ein klein wenig den Kopf.
»Gute Reise«, knurrte Foscar, als Sulfur sich dem Tor zuwandte.
Cosca schwang sich den Hut wieder auf den Kopf. »Nun, Sie beide sind als Ehrengäste natürlich mehr als willkommen! Bitte genießen Sie die Unterhaltung! Ihnen steht alles zu Ihrer freien Verfügung!« Er kam näher und grinste ein wenig hintergründig. »Das obere Geschoss ist für Sie und für Ihren Bruder reserviert. Euer Hoheit werden, da bin ich überzeugt, in der Königssuite eine ganz besonders unterhaltsame Überraschung vorfinden.«
»Da hast du es, Bruder. Wollen wir doch mal sehen, ob wir dich nicht doch irgendwie von deinen Sorgen ablenken können.« Ario sah mit verärgertem Gesicht zur Musikgruppe. »Grundgütiger Himmel, hat diese Frau keine bessere Musik auftreiben können?«
Die allmählich dichter werdende Menge teilte sich, um die Brüder durchzulassen. Einige herablassend dreinblickende Edelmänner folgten in ihrem Kielwasser, ebenso wie vier von den grimmigen Kerlen mit Degen und Rüstung. Cosca sah ihren glänzenden Rückenpanzern stirnrunzelnd nach, als sie in den Spielsaal gingen.
Nicomo Cosca fühlte keine Angst, das stand fest. Aber ein gewisses Maß an nüchterner Besorgnis angesichts all dieser gut bewaffneten Männer erschien angebracht. Monza hatte ihnen immerhin eingeschärft, stets den Überblick zu behalten. Er tänzelte zum Eingang und tippte einem der Wächter, die davor standen, auf den Arm. »Keine weiteren Besucher mehr heute Abend. Wir sind voll.« Er schloss das Tor vor der Nase des überraschten Mannes, drehte den Schlüssel im Schloss und schob ihn in seine Westentasche. Prinz Arios Freund, Meister Sulfur, würde die Ehre haben, der Letzte gewesen zu sein, der an diesem Abend durch das Tor trat.
Mit ausgestrecktem Arm gab er der Musikgruppe ein Zeichen. »Etwas Lebhafteres, Jungs, spielt uns mal so richtig auf! Wir sollen die Leute doch unterhalten!«
Morveer kniete zusammengekauert in der Dunkelheit des Dachbodens und sah von der Dachkante aus in den Hof unter sich. Männer in prunkvoller Kleidung kamen zu Grüppchen zusammen, lösten sich wieder voneinander und wuselten durch die Türen, die ins Haus führten. Im Schein der Lampen leuchteten und schimmerten sie. Derbe Ausrufe und gedämpftes Getuschel, schlechte Musik und gut gelauntes Gelächter drangen durch die Nacht, aber Morveer war nicht in Feierlaune.
»Wieso so viele?«, flüsterte er. »Wir haben höchstens halb so viele Leute erwartet. Hier ist doch etwas schiefgelaufen.«
Ein glühender Flammenstoß schoss in die kühle Nacht, und man hörte lauten Beifall. Der idiotische Ronco, der sein eigenes Dasein und das aller anderen Menschen im Hof gefährdete. Morveer schüttelte leise den Kopf. Wenn das eine gute Idee gewesen war, dann war er der Kaiser von …
Day zischte ihm etwas zu, und er tastete sich über die Dachbalken zurück, während das alte Holz leise knarrte. Behutsam legte er sein Auge auf eines der Löcher. »Es kommt jemand.«
Eine Gruppe von acht Personen näherte sich von der Treppe, allesamt maskiert. Vier waren offensichtlich Wächter, die Brustplatten der Rüstungen auf Hochglanz poliert. Zwei waren sogar noch offensichtlicher Frauen aus Cardottis Haus. Die beiden letzten Männer jedoch waren für Morveer von besonderem Interesse.
»Ario und Foscar«, flüsterte Day.
»So sieht es zweifelsohne aus.« Orsos Söhne wechselten noch einige Worte, während die Wachen neben den beiden Türen Aufstellung nahmen. Dann verneigte sich Ario tief, und sein gehässiges Kichern drang bis zum Dachboden empor. Er schlenderte den Flur zur zweiten Tür hinunter, den Arm um eine der Frauen gelegt, und überließ seinem Bruder die Königssuite.
Morveer runzelte die Stirn. »Hier läuft etwas ganz und gar schief.«
Es sah genauso aus, wie sich ein Schwachkopf das Schlafgemach eines Königs vorgestellt hätte. Der Raum war restlos überladen, und alles glänzte vor Gold- und Silberfäden. Das Bett war ein Ungeheuer mit riesigem Baldachin, der von dicken Lagen roter Seide erstickt wurde. Ein fettleibiges Schränkchen strotzte vor Branntweinflaschen. Die Decke war mit schattenumlagertem Stuck und einem enormen, blinkenden Kronleuchter geschmückt, der viel zu tief hing. Der Kaminsims ruhte auf zwei Statuen nackter Frauen aus grünem Marmor, die eine Fruchtschale in die Höhe hielten.
An einer Wand hing eine große Leinwand in glitzerndem Rahmen – eine Frau mit höchst unwahrscheinlicher Oberweite badete in einem Fluss und schien das Ganze wesentlich mehr zu genießen, als es wahrscheinlich war. Monza hatte nie begriffen, wieso es ein Gemälde besser machte, wenn der eine oder andere Nippel zu sehen war. Aber Maler dachten offenbar so, und deswegen zeigte man Nippel.
»Von dieser Scheißmusik kriege ich Kopfschmerzen«, knurrte Vitari, die sich einen Finger unter ihr Korsett schob und an der Hüfte kratzte.
Monza deutete mit einer Kopfbewegung zur Seite. »Dieses verdammte Bett macht mir Kopfschmerzen. Vor allem vor dieser Tapete.« Es handelte sich um ein besonders übles Azurblau mit türkisen Streifen, das mit vergoldeten Sternchen verziert war.
»Wenn das nicht reicht, um eine Frau an die Spreupfeife zu bringen.« Vitari tippte die Elfenbeinpfeife an, die auf dem Marmortisch neben dem Bett lag, neben einem Klümpchen Spreu in dem Glaskrug daneben. Der Hinweis war für Monza überflüssig. Sie hatte das Rauchutensil die ganze letzte Stunde kaum aus den Augen gelassen.
»Denk an die Aufgabe«, gab sie kurz zurück, löste die Augen von der Pfeife und sah wieder zur Tür.
»Immer.« Vitari hob den Rock. »Ist allerdings mit diesen scheiß Klamotten nicht so einfach. Wie kann bloß jemand …«
»Pssst.« Schritte ertöten auf dem Gang draußen.
»Unsere Gäste. Bist du bereit?«
Die Griffe der beiden Messer drückten in Monzas verlängerten Rücken, als sie die Hüften bewegte. »Ist jetzt wohl zu spät, um es mir anders zu überlegen, was?«
»Es sei denn, du wolltest sie stattdessen lieber ficken.«
»Ich denke, wir belassen es bei Mord.« Monza stützte sich mit der rechten Hand im Fensterrahmen ab und hoffte, damit eine verführerische Pose einzunehmen. Ihr Herz klopfte, und das Blut rauschte schmerzhaft laut in ihren Ohren.
Ganz langsam öffnete sich nun knarrend die Tür, und ein Mann trat ein. Er war groß und ganz in Weiß gekleidet, und seine goldene Maske hatte die Form einer halben, aufgehenden Sonne. Sein Bart war makellos gestutzt, konnte aber die Narbe auf dem Kinn nicht ganz verbergen. Monza blinzelte. Das war nicht Ario. Das war noch nicht mal Foscar.
»Scheiße«, hörte sie Vitari zischen.
Die Erkenntnis dämmerte Monza, als hätte ihr jemand ins Gesicht gespuckt. Es war nicht Orsos Sohn, es war sein Schwiegersohn. Niemand anders als der große Friedensstifter höchstpersönlich, seine Erhabene Majestät, der Hochkönig der Union.
»Bereit?«, fragte Cosca.
Espe räusperte sich noch einmal. Seit er in diesen verdammten Hof getreten war, fühlte es sich so an, als ob ihm etwas quer im Hals saß. »Ist jetzt wohl zu spät, um es mir anders zu überlegen, was?«
Das Grinsen des alten Söldners wurde noch ein bisschen breiter. »Es sei denn, du wolltest sie alle stattdessen lieber ficken. Meine Herren! Meine Damen! Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!« Die Musiker hielten inne, und die Geige stimmte einen einzelnen, sägenden Ton an. Er führte nicht dazu, dass Espe sich besser fühlte.
Cosca hieb mit seinem Stock durch die Luft und verscheuchte die Gäste aus dem Kreis, den sie in der Hofesmitte angezeichnet hatten. »Treten Sie bitte zurück, meine Freunde, denn Sie sind in höchster Gefahr! Einer der großen Augenblicke der Geschichte wird vor Ihren Augen noch einmal auferstehen!«
»Wann komme ich endlich mal zum Schuss?«, rief jemand und löste abgehacktes Gelächter aus.
Cosca sprang vor und schlug dem Sprecher mit seiner Stockspitze beinahe ein Auge aus. »Sobald jemand stirbt!« Jetzt hatte auch die Trommel eingesetzt, wumm, wumm, Wumm. Die Leute versammelten sich im flackernden Fackellicht um den Kreis. Ein Ring aus Masken – Vögel und Tiere, Soldaten und Possenreißer, grinsende Schädel und lachende Teufel. Darunter die Gesichter von Männern – betrunken, gelangweilt, wütend, neugierig. Weiter hinten balancierten Barti und Kümmel auf den Schultern des jeweils anderen, und wer gerade oben war, klatschte im Rhythmus der Trommelschläge.
»Aus Gründen der Bildung, Erbauung und Unterhaltung«, Espe hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, »präsentiert Ihnen Cardottis Haus der Sinnesfreuden …« Nun holte der Nordmann tief Luft, hob Schwert und Schild und drängte sich in den Kreis. »Das berüchtigte Duell zwischen Fenris dem Gefürchteten …« Coscas Stock zuckte in die Richtung von Graulock, der sich nun dem Kreis von der anderen Seite näherte. »Und Neunfinger-Logen!«
»Er hat aber zehn Finger!«, rief jemand und provozierte grölendes, betrunkenes Gelächter.
Espe lachte nicht mit. Graulock war vielleicht ein ganzes Stück weniger bedrohlich, als der echte Gefürchtete es gewesen war, aber er war trotzdem kein besonders beruhigender Anblick, groß wie ein Haus und mit dieser schwarzen Eisenmaske vor dem Gesicht, die linke Seite seines rasierten Kopfes und der starke linke Arm blau bemalt. Seine Keule sah ziemlich schwer und sehr gefährlich aus, wie sie da in diesen großen Fäusten lag. Espe musste sich immer wieder sagen, dass sie auf derselben Seite waren. Sie taten ja nur so, das war alles. Nur Schauspielerei.
»Meine Herren, ich rate Ihnen, ein wenig Platz zu machen«, rief Cosca, und die drei gurkhisischen Tänzerinnen, die schwarzen Katzenmasken über den schwarzen Gesichtern, hüpften am Rand des Kreises herum und drängten die Gäste weiter zurück. »Es kann Blutvergießen geben!«
»Das hoffe ich doch!« Wieder Gelächter. »Ich bin ja nicht hierhergekommen, um zwei Idioten miteinander tanzen zu sehen!«
Die Zuschauer jubelten, pfiffen, buhten. Vor allem buhten sie. Espe bezweifelte allmählich, dass sein Plan – ein paar Minuten durch den Kreis springen und mit den Waffen durch die Luft schlagen, dann Graulock ein Messer zwischen Arm und Seite rammen, während der eine Blase mit Schweineblut zum Platzen brachte – diese Arschlöcher zu großen Beifallsbekundungen bewegen würde. Er erinnerte sich an das echte Duell vor den Mauern von Carleon, bei dem das Schicksal des ganzen Nordens auf dem Spiel gestanden hatte. Der kalte Morgen, der Atem, der in der Luft gefror, das Blut im Schildkreis. Die Carls, die sich am Rand versammelt hatten, ihre Schilde emporhielten, schrien und brüllten. Er fragte sich, was jene Männer wohl von diesem Quatsch hier halten würden. Das Leben nahm manchmal wirklich seltsame Wendungen.
»Anfangen!«, brüllte Cosca und sprang zurück zwischen die Zuschauer.
Graulock stieß ein mächtiges Gebrüll aus und griff an, hob die Keule und schwang sie heftig. Espe bekam einen verdammten Schreck. Er riss den Schild gerade noch rechtzeitig hoch, aber die Wucht des Schlages warf ihn um, und er landete mit dem Hintern auf dem Boden, der linke Arm war taub. Er schlug hin, verhedderte sich mit seinem Schwert und fügte sich selbst einen kleinen Schnitt über der Augenbraue zu. Er hatte noch Glück, dass er die Spitze nicht ins Auge bekommen hatte.
Rasch rollte er zur Seite, die Keule krachte dort auf den Boden, wo er eben noch gelegen hatte, und sandte ein paar Steinsplitter in die Luft. Als er sich wieder aufrichtete, fiel Graulock wieder über ihn her und sah aus, als ob er es tödlich ernst meinte. Espe wich mit der Würde eines Katers aus, der in ein Wolfsgehege gefallen ist. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie so etwas abgesprochen hatten. Offenbar wollte der große Kerl den Zuschauern eine Vorstellung bieten, die sie nicht so schnell vergessen würden.
»Bring ihn um!«, brüllte jemand.
»Lasst ein bisschen Blut sehen, ihr Idioten!«
Espe fasste den Griff seines Schwertes etwas fester. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gefühl. Sogar noch schlechter als vorher.
Gewöhnlich wurde Freundlich ruhiger, wenn die Würfel rollten, aber heute war das nicht so. Er hatte ein schlechtes Gefühl. Sogar noch schlechter als vorher. Er sah zu, wie die Würfel rollten, klappernd aneinanderschlugen, sich drehten, und ihr Klackern schien an seiner feuchten Haut zu kratzen, bis sie endlich zur Ruhe kamen.
»Zwei und vier«, sagte er.
»Die Zahlen sehen wir selber!«, gab der Mann, der eine Maske in Form einer Mondsichel trug, brüsk zurück. »Die verdammten Würfel sind gegen mich!« Er warf sie wütend zu Freundlich hinüber, und sie schlugen hart auf das polierte Holz.
Freundlich nahm sie stirnrunzelnd auf und rollte sie sanft zurück. »Fünf und drei. Das Haus gewinnt.«
»Das scheint es sich zur Gewohnheit zu machen«, knurrte ein anderer mit einer Maske, die wie ein Schiff aussah, und die Freunde der beiden Männer stimmten mit verärgertem Gemurmel zu. Sie waren alle betrunken. Betrunken und dämlich. Das Haus macht es sich immer zur Gewohnheit, zu gewinnen, deswegen veranstaltet es ja überhaupt erst solche Glücksspiele. Aber es war kaum Freundlichs Aufgabe, die Männer darüber aufzuklären. Anderswo im Saal kreischte jemand schrill vor Freude auf, als das Glücksrad seine Zahl anzeigte. Einige Kartenspieler klatschten milde geringschätzig.
»Scheiß Würfel.« Mondsichel schlürfte einen Schluck Wein aus seinem Glas, während Freundlich sorgsam die Gewinnmarken nahm und sie seinem eigenen, wachsenden Stapel hinzufügte. Das Atmen fiel ihm schwer, die Luft war voller seltsamer Gerüche – Parfüm und Schweiß und Wein und Rauch. Er merkte, dass ihm der Mund offen stand, und er klappte ihn hastig zu.
Der König der Union sah von Monza zu Vitari und zurück – gut aussehend, königlich und äußerst unwillkommen. Monza merkte, dass ihr der Mund offen stand, und sie klappte ihn hastig zu.
»Ich meine das nicht ungebührlich, aber eine von euch genügt vollkommen, und ich hatte … immer schon eine Schwäche für dunkles Haar.« Er deutete zur Tür. »Ich hoffe, ich beleidige dich nicht, wenn ich dich nun bitte, zu gehen. Ich werde dafür sorgen, dass du bezahlt wirst.«
»Wie großzügig.« Vitari sah kurz zur Seite, und Monza deutete den Hauch eines Achselzuckens an, während ihr Verstand hin und her zuckte wie ein Frosch in kochendem Wasser und verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser selbst gebauten Falle suchte. Vitari löste sich von der Wand und stolzierte zur Tür. Im Vorbeigehen ließ sie den Handrücken über den Mantel des Königs gleiten. »Verdammt sei meine rothaarige Mutter«, zischte sie und ließ die Tür ins Schloss fallen.
»Ein äußerst …« Der König räusperte sich. »Ein äußerst angenehmer Raum.«
»Sie sind leicht zufriedenzustellen.«
Er lachte prustend. »Da ist meine Frau aber anderer Meinung.«
»Die wenigsten Frauen haben etwas Gutes über ihre Ehemänner zu sagen. Deswegen kommen sie ja zu uns.«
»Das verstehst du nicht. Ich habe ihren Segen. Meine Frau erwartet unser drittes Kind, und daher … nun ja, das interessiert dich sicher gar nicht.«
»Ich werde interessiert erscheinen, egal, was Sie mir erzählen. Dafür werde ich bezahlt.«
»Natürlich.« Der König rieb sich ein wenig nervös die Hände. »Vielleicht sollten wir etwas trinken.«
Sie nickte zu dem Schränkchen hinüber. »Es ist alles da.«
»Möchtest du auch etwas?«
»Nein.«
»Nein, natürlich nicht, warum auch?« Wein gluckerte aus der Flasche. »Ich nehme an, diese Situation ist dir nicht neu.«
»Nein.« Dabei konnte sie sich im Augenblick nicht darauf besinnen, wann sie das letzte Mal als Hure verkleidet mit einem König gesprochen hatte. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Mit ihm zu schlafen oder ihn umzubringen. Beides erschien ihr wenig reizvoll. Ario umzubringen, bedeutete schon Ärger genug. Einen König umzubringen – selbst Orsos Schwiegersohn – würde noch wesentlich mehr Probleme mit sich bringen.
Wenn er vor zwei dunklen Pfaden steht, hieß es bei Stolicus, dann sollte ein General stets den leichteren beschreiten. Sie bezweifelte, dass er dabei an derartige Umstände gedacht hatte, aber das änderte nichts. Sie umfasste mit einer Hand den Bettpfosten und ließ sich ein wenig sinken, bis sie ungelenk auf den grellen Decken saß. Dann fiel ihr Auge auf die Spreupfeife.
Wenn er vor zwei dunklen Pfaden steht, hieß es bei Farans, dann sollte ein General stets einen dritten suchen.
»Sie wirken nervös«, raunte sie.
Der König war nun bis an das Fußende des Bettes getreten. »Ich muss gestehen, dass es lange her ist, seit ich … einen Ort wie diesen hier besucht habe.«
»Dann brauchen Sie vielleicht etwas Beruhigendes.« Sie wandte ihm den Rücken zu, bevor er ablehnen konnte, und begann die Pfeife zu stopfen. Es dauerte nicht lange, bis sie damit fertig war. Schließlich tat sie das jede Nacht.
»Spreu? Ich bin mir nicht sicher, ob ich …«
»Brauchen Sie auch dafür den Segen Ihrer Frau?« Sie streckte ihm die Pfeife hin.
»Natürlich nicht.«
Monza stand auf, hob die Lampe, achtete darauf, dass er den Blick nicht von ihr ließ und hielt die Flamme an den Pfeifenkopf. Nach dem ersten Zug hustete er alles sofort wieder aus. Beim zweiten fast genauso. Den dritten konnte er länger wirken lassen, und schließlich stieß er ein Wölkchen weißen Rauchs aus.
»Du bist dran«, krächzte er und drückte ihr die Pfeife wieder in die Hand, als er sich aufs Bett sinken ließ. Der Rauch kräuselte sich noch daraus empor und kitzelte ihre Nase.
»Ich …« Oh, wie sehr es sie danach verlangte. Sie bebte vor Gier. »Ich …« Hier war es, direkt in ihrer Hand. Aber es war nicht die richtige Zeit, um sich gehen zu lassen. Sie durfte den Überblick nicht verlieren.
Sein Mund verzog sich zu einem dümmlichen Grinsen. »Wessen Segen brauchst du denn?«, krächzte er. »Ich verspreche, ich werde niemandem … oh.«
Schon hielt sie die Flamme wieder an die graubraunen Flocken, zog den Rauch tief ein und fühlte, wie er in ihren Lungen brannte.
»Verdammte Stiefel«, hörte sie den König fluchen, der versuchte, die auf Hochglanz polierte Fußbekleidung abzustreifen. »Passen mir verdammt noch mal überhaupt nicht. Da zahlt man … hundert Mark … für ein Paar Stiefel, da sollte man … doch erwarten können …« Einer flog davon und prallte gegen die Wand, wo er einen hellen Fleck zurückließ. Monza fiel das Aufstehen schwer.
»Noch einmal.« Sie hielt ihm die Pfeife hin.
»Nun … das schadet ja wohl nicht …« Monza starrte auf die Flamme der Lampe, wie sie aufflackerte. Schimmernd, leuchtend, in allen Farben wie ein Schatz aus unbezahlbaren Edelsteinen verwandelten sich die Spreukrümel in strahlendes Orange, wurden von hübschem Braun zu glühendem Rot und schließlich zu verbrauchter grauer Asche. Der König blies ein langgezogenes Wölkchen süß riechenden Rauchs in ihr Gesicht, und sie schloss die Augen und saugte ihn ein. Ihr Kopf war voll davon, schwoll an und schien platzen zu wollen.
»Oh.«
»Hm?«
Er sah sich mit großen Augen um. »Das ist jetzt … doch ziemlich …«
»Ja. Ja, das ist es.« Das Zimmer glühte. Der Schmerz in ihren Beinen war zu einem angenehmen Kitzeln geworden. Ihre nackte Haut kribbelte und prickelte. Sie sank aufs Bett, und die Matratze knarrte unter ihrem Körper. Nur sie und der König der Union, auf einem hässlichen Bett in einem Hurenhaus. Was hätte gemütlicher sein können?
Der König fuhr sich träge mit der Zunge über die Lippen. »Meine Frau. Die Königin. Du weißt schon. Hab ich das erwähnt? Die Königin. Sie hat nicht immer Lust …«
»Ihre Frau mag Frauen«, sagte Monza, ohne darüber nachzudenken. Dann prustete sie vor Lachen los und musste ein wenig Rotz von ihrer Oberlippe wischen. »Sie liebt sie geradezu.«
Die Augen des Königs färbten sich hinter den Löchern der Maske rosa. Sie glitten träge über ihr Gesicht. »Frauen? Wovon sprachen wir gerade?« Er beugte sich vor. »Ich bin jetzt … gar nicht mehr … nervös.« Ungeschickt schob er eine Hand an der Innenseite ihres Schenkels empor. »Ich denke …«, murmelte er, und seine Zunge fuhr unruhig in seinem Mund herum. »Ich … denke …« Damit verdrehten sich seine Augen zur Decke, und mit ausgestreckten Armen fiel er zurück aufs Bett. Sein Kopf neigte sich gemächlich zur Seite, die Maske verrutschte über seinem Gesicht, und dann rührte er sich nicht mehr. Leises Schnarchen drang an Monzas Ohren.
Er sah so friedlich aus, wie er da lag. Sie wollte sich ebenfalls hinlegen. Immer musste sie denken, denken, sich sorgen, denken. Sie brauchte Ruhe. Sie verdiente eine Pause. Aber da nagte etwas an ihr, etwas, das sie vorher noch erledigen musste. Was war es? Sie kam wie im Traum wieder auf die Beine und schwankte unsicher hin und her.
Ario.
»Ja. Das war’s.« Sie ließ Seine Majestät ausgestreckt auf dem Bett liegen und schlich sich zur Tür. Das Zimmer schaukelte hin und her und versuchte, sie zu Fall zu bringen. Verdammtes Mistding. Vorsichtig beugte sie sich hinunter und zog sich einen der hohen Schuhe vom Fuß, kam ins Stolpern und wäre beinahe gestürzt. Dann streifte sie den zweiten ab, und er schwebte sanft durch die Luft, wie ein Anker, der im Wasser versinkt. Mühsam zwang sie sich, die Augen offen zu halten, während sie die Tür anstarrte, denn zwischen ihr und der Welt schien eine Wand aus blauem Glas zu stehen, und die Kerzenflammen dahinter hinterließen lange, blendende Schweife in ihrem Blickfeld.
Morveer nickte Day zu, und sie nickte zurück. Wie ein Schatten aus noch schwärzerem Schwarz kauerte sie in der Dunkelheit des Dachbodens, und ein schmaler Streifen blauen Lichts ließ gerade eben ihr Lächeln erkennen. Hinter ihr bildeten die Balken, Sparren und Latten schwarze Umrisse, knapp auszumachen durch den leichten Schimmer, der auf ihren Kanten lag. »Ich kümmere mich um die beiden vor der Königssuite«, flüsterte er. »Du … übernimmst die anderen.«
»Abgemacht. Und wann?«
Das war in der Tat eine Frage von größter Bedeutung. Er legte sein Auge wieder auf das Guckloch, das Blasrohr in der einen Hand, während die Fingerspitzen der anderen nervös gegen seinen Daumen rieben. Die Tür der Königssuite öffnete sich, und Vitari trat zwischen den Wachen nach draußen. Kurz blickte sie grimmig nach oben, dann ging sie den Flur hinunter. Von Murcatto, von Foscar war nichts zu sehen, und auch sonst bewegte sich gar nichts. Das war nicht Teil des Plans, da war sich Morveer sicher. Er musste natürlich immer noch die Wächter töten, dafür hatte man ihn bezahlt, und einen Auftrag, den er angenommen hatte, brachte er stets zu Ende. Das war etwas, das ihn deutlich von verkommenen Subjekten wie diesem Nicomo Cosca unterschied. Aber wann, aber wann, wann …
Morveer runzelte die Stirn. Er war sicher, dass er ein leises Kauen hörte. »Isst du etwas?«
»Nur ein Brötchen.«
»Meine Güte, lass das! Wir sind bei der Arbeit, verdammt noch mal, und ich versuche nachzudenken! Ist denn ein winziger Hauch Professionalität zu viel verlangt?«
Die Zeit zog sich hin, begleitet von den leisen Tönen der untalentierten Musiker unten im Hof, aber abgesehen von den leichten Bewegungen, mit denen die Wächter von einer Seite zur anderen schwankten, war nichts weiter zu sehen. Morveer schüttelte den Kopf. In diesem Fall erschien es wie so oft, als sei ein Augenblick so gut wie der nächste. Er atmete tief ein, setzte das Rohr an die Lippen, zielte auf den Wächter, der etwas weiter entfernt stand …
Mit einem Knall schlug die Tür zu Arios Gemach auf. Die zwei Frauen kamen heraus, eine rückte sich noch die Röcke zurecht. Morveer sog die Luft ein, blies die Backen auf. Die beiden zogen die Tür hinter sich zu und gingen dann den Flur hinunter. Der eine Wächter sagte etwas zum anderen, und der lachte. Es gab ein ganz leises Zischen, als Morveer in das Rohr blies, und das Lachen hörte schlagartig auf.
»Ah!« Der Wächter, der näher unter dem Loch stand, fuhr sich mit der Hand an den Kopf.
»Was denn?«
»Irgendwas … keine Ahnung, mich hat was gestochen.«
»Gestochen? Was könnte denn …« Nun rieb sich der andere Wachmann den Kopf. »Verdammt noch eins!«
Der erste hatte die Nadel in seinem Haar gefunden und hielt sie gegen das Licht. »Eine Nadel.« Mit fahrigen Händen fasste er nach seinem Degen, doch dann sank er gegen die Wand und rutschte hinab, bis er auf dem Boden saß. »Ich fühle mich ganz …«
Der zweite Wächter machte einen unsicheren Schritt in den Gang, griff ins Nichts und stürzte dann mit ausgestrecktem Arm vornüber. Morveer gönnte sich ein winziges, zufriedenes Nicken, dann kroch er zu Day hinüber, die mit ihrem Blasrohr über zwei weiteren Löchern in der Decke kauerte.
»Erfolgreich?«, fragte er.
»Natürlich.« Sie hielt das Brötchen in der anderen Hand und biss nun davon ab. Durch das Loch sah Morveer die beiden Wächter neben der Königssuite bewegungslos am Boden liegen.
»Gute Arbeit, meine Liebe. Aber leider ist dies der einzige Auftrag, den man uns anvertraut hat.« Er suchte seine Ausrüstung zusammen.
»Sollten wir nicht bleiben und sehen, wie es läuft?«
»Dazu sehe ich keine Veranlassung. Wir können bestenfalls erwarten, dass einige Männer sterben werden, und so etwas habe ich schon vorher gesehen. Häufig sogar. Glaub mir – ein Tod ist ziemlich wie der andere. Hast du das Seil?«
»Natürlich.«
»Es ist nie zu früh, einen Fluchtweg vorzubreiten.«
»Vorsicht steht immer an erster Stelle.«
»Ganz genau.«
Day zog das Seil aus ihren Packtaschen, entrollte es und befestigte ein Ende an einem soliden Balken. Dann hob sie den Fuß und trat das kleine Fenster aus seiner Füllung. Morveer hörte, wie es mit einem Platschen in den Kanal fiel, der hinter dem Gebäude vorüberfloss.
»Hervorragend gelöst. Was täte ich nur ohne dich?«
»Stirb!« Damit stürmte Graulock durch den Kreis, den großen Holzknüppel hoch über dem Kopf erhoben. Espe holte ebenso keuchend Luft wie die Zuschauer und konnte sich nur um Haaresbreite rechtzeitig in Sicherheit bringen. Er fühlte noch, wie der Luftzug der Waffe sein Gesicht berührte. Er konnte den großen Mann in einer ungeschickten Umarmung zu fassen bekommen, und sie stolperten zusammen aus dem Kreis hinaus.
»Was, zur Hölle, soll das werden?«, zischte Espe ihm ins Ohr.
»Rache!« Graulock rammte ihm das Knie in die Seite und schüttelte ihn ab.
Espe stolperte ein paar Schritte, fand dann sein Gleichgewicht wieder und zermarterte sich das Hirn, aufweiche Weise er diesem riesenhaften Kerl schon einmal in die Quere gekommen sein mochte. »Rache? Wofür denn, du verrückter Hund?«
»Für Uffrith!« Graulock stieß den Fuß auf den Boden, täuschte einen Angriff vor, und Espe machte einen Satz zurück, vorsichtig über den Rand seines Schilds spähend.
»Hä? Da ist doch niemand umgekommen!«
»Bist du sicher?«
»Ein paar Leute unten am Hafen, aber …«
»Mein Bruder! Keine zwölf Jahre alt!«
»Daran hatte ich keinen Anteil, du großer Ochse! Der Schwarze Dow hat sie dort umgebracht!«
»Der Schwarze Dow steht jetzt aber nicht vor mir, und ich habe meiner Mutter geschworen, dass ich jemanden zur Rechenschaft ziehen würde. Für mich ist dein Anteil an der Sache groß genug, damit ich ihn aus dir rausprügele, du Arschloch!« Espe kreischte hell auf, als er sich vor einem weiteren harten Schlag duckte, und er hörte Männer, die ebenso gern Blut sehen wollten wie die Zuschauer bei einem echten Duell, hinter sich klatschen.
Gut, dann also Rache. Rache war ein doppelschneidiges Schwert, keine Frage. Man konnte nie wissen, wann sie einen erwischen würde. Espe richtete sich auf, und von einem Schlag, den er gerade abbekommen hatte, rann ihm das Blut seitlich über das Gesicht. Er konnte an nichts anderes denken als daran, wie ungerecht es war. Er hatte versucht, das Richtige zu tun, so wie es ihm sein Bruder immer gesagt hatte. Er hatte versucht, ein besserer Mensch zu werden. Oder nicht? Aber so war das mit den guten Absichten. Sie ritten einen direkt in die Scheiße.
»Aber ich habe doch nur … mein Bestes getan!«, brüllte er auf Nordisch.
Graulock schickte Spucke durch die Mundöffnung seiner Maske. »Mein Bruder auch!« Er griff an, und die Keule fuhr so schnell herab, dass sie nur verschwommen zu sehen war. Espe duckte sich unter dem Schlag hindurch, riss dann hastig den Schild nach oben und ließ den Rand unter das Kinn seines Gegners krachen, der zurücktaumelte und Blut spuckte.
Espe hatte immer noch seinen Stolz. So viel hatte er sich bewahrt. Er wollte verdammt sein, wenn er sich von einem dämlichen Drecksack, der einen guten Mann nicht von einem schlechten unterscheiden konnte, wieder in den Schlamm schicken lassen wollte. Er fühlte, wie Zorn in seiner Kehle aufwallte, so wie er es immer zu Hause im Norden gefühlt hatte, wenn die Schlacht in vollem Gange war und er mittendrin steckte.
»Rache also?«, brüllte er. »Ich werde dir zeigen, was Rache ist!«
Cosca zuckte zusammen, als Espe einen Schlag mit dem Schild abwehrte und zur Seite stolperte. Der Kämpfer stieß einige ausgesprochen wütend klingende Worte auf Nordisch hervor, schlug mit seinem Schwert in die Luft und verfehlte Graulock nur um Fingerbreite. Als er den Arm zurückschwingen ließ, erwischte er beinahe einige Zuschauer, die hastig zurückwichen.
»Fantastische Vorführung!«, schwärmte jemand in Coscas Nähe, »es sieht beinahe echt aus! Die muss ich für die Hochzeit meiner Tochter anheuern …«
Es stimmte, die Nordmänner zeigten eine ausgesprochen lebensnahe Darbietung. Fast ein bisschen zu lebensnah. Sie umkreisten sich wachsam, die Augen fest aufeinandergerichtet, und immer wieder wagte sich einer der beiden mit dem Fuß oder mit seiner Waffe vor. Es war die wilde, konzentrierte Vorsicht, wie sie Männer zeigten, die genau wussten, dass der kleinste Ausrutscher ihren Tod bedeuten konnte. Espes Haar klebte auf einer Seite blutdurchtränkt an seinem Kopf. Graulock war die Lederrüstung über der Brust aufgeschlitzt, und er hatte einen Schnitt unter dem Kinn, wo Espe ihn mit dem Schildrand getroffen hatte.
Die Zuschauer riefen längst keine Schmähungen mehr, sondern feuerten die Kämpfer gespannt an, die Augen gierig auf das Spektakel gerichtet und hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, nach vorn zu drängen und besser zu sehen, oder zurückzuweichen, um nicht in die Reichweite der Waffen zu geraten. Sie fühlten, dass hier etwas in der Luft lag. Wie die Schwere des Himmels vor einem großen Sturm. Echte, mörderische Wut.
Die Musiker hatten inzwischen ein Gespür für die passende Begleitung des Schauspiels entwickelt, die Geige kreischte auf, wenn Espe mit dem Schwert ausholte, und die Trommeln dröhnten, wenn Graulock seine große Keule schwang. Das erhöhte die beinahe unerträgliche Spannung noch entscheidend.
Es war überdeutlich, dass sie versuchten, einander umzubringen, und Cosca hatte nicht die geringste Ahnung, wie er sie davon abhalten sollte. Er zuckte zusammen, als die Keule auf Espes Schild krachte und ihn fast von den Beinen riss. Sorgenvoll sah er zu den farbigen Glasfenstern hoch oben über dem Innenhof hinauf.
Irgendetwas sagte ihm, dass sie hier mehr als nur zwei Tote zurücklassen würden.
Die Leichen der beiden Wächter lagen vor der Tür. Einer saß gegen die Wand gelehnt da und starrte an die Decke. Der andere lag auf dem Bauch. Sie sahen gar nicht richtig tot aus, mehr, als würden sie schlafen. Monza versetzte sich selbst eine Ohrfeige, um den Spreunebel aus ihrem Kopf zu vertreiben. Die Tür wankte auf sie zu, und eine Hand in einem schwarzen Handschuh streckte sich aus und ergriff die Klinke. Verdammt. Sie musste das tun. Sie stand da, schwankte und wartete darauf, dass die Hand wieder losließ.
»Oh.« Es war ihre Hand. Sie drückte die Klinke, und die Tür öffnete sich mit einem Ruck. Monza taumelte hindurch und landete beinahe auf dem Bauch. Der Raum schwankte, Wände zerflossen, lösten sich auf, wurden zu strömenden Wasserfällen. Flammen knisterten, funkelndes Kristall in einem Kamin. Ein Fenster stand offen, und Musik strömte hinein; unten im Hof schrien und riefen Männer. Sie konnte diese Geräusche sehen, glückliche Ablagerungen, die wie in Glas herumwirbelten, die Entfernung überwanden und ihre Ohren kitzelten.
Prinz Ario lag auf dem Bett, splitternackt, der Körper weiß auf der zerwühlten Decke, Arme und Beine ausgestreckt. Seine Hand bewegte sich ihr entgegen, und das Federbüschel seiner Maske warf lange Schatten über die düstere Wand hinter ihm.
»Ein Nachschlag?«, murmelte er und nahm einen trägen Schluck aus einer Weinflasche.
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht schon … müde gemacht.« Monzas eigene Stimme schien aus einem weit entfernt stehenden Eimer hervorzudröhnen, als sie zum Bett schlingerte wie ein Schiff, das auf einer aufgewühlten See aus rotem Teppich dahintreibt.
»Ich würde vermuten, dass ich mich durchaus noch einmal aufrichten könnte«, sagte Ario und spielte mit seinem Schwanz. »Allerdings hast du mir etwas voraus.« Er bewegte missbilligend den Zeigefinger. »Zu viel Kleidung.«
»Hm.« Sie ließ den Pelz von ihren Schultern gleiten, der sanft zu Boden fiel.
»Handschuhe runter.« Er gab ihr einen kleinen Klaps mit der Hand. »Kann die Dinger nicht leiden.«
»Ich auch nicht.« Sie zog sie aus, und es kitzelte an ihren Unterarmen. Ario starrte ihre Rechte an. Sie hielt sie sich vor die Augen und sah sie blinzelnd an. Eine lange rosafarbene Narbe lief über den Unterarm, und die Hand war eine verdrehte Klaue, mit zerquetschter Handfläche und verkrüppelten Fingern, von denen der kleinste sich stur abspreizte.
»Ah.« Das hatte sie ganz vergessen.
»Eine verkrüppelte Hand.« Ario robbte rücklings interessiert über das Bett auf sie zu, und sein Schwanz und auch die Federn seiner Maske wedelten durch seine Hüftbewegungen von einer Seite zur anderen. »Wie ausgesprochen … exotisch.«
»Nicht wahr?« Die Erinnerung an Gobbas Stiefel, der darauf niederfuhr, blitzte in ihrem Kopf auf und tauchte sie mit einem Schlag in kaltes Bewusstsein. Sie spürte, dass sie lächelte. »Das hier brauchen wir nicht.« Sie nahm die Federn und zog ihm die Maske vom Gesicht, warf sie in eine Ecke.
Ario grinste sie an. Um die Augen zeigten sich dort, wo die Maske gesessen hatte, kleine rosa Druckstellen. Sie merkte, wie das warme Glühen der Droge sie verließ, als sie ihm ins Gesicht blickte. Wieder sah sie, wie er ihren Bruder in den Hals stach, ihn von der Terrasse stieß und sich darüber beschwerte, dass er sich geritzt hatte. Und nun lag er vor ihr. Orsos Erbe.
»Wie unhöflich.« Er richtete sich auf dem Bett auf. »Ich muss dir eine Lektion erteilen.«
»Vielleicht bin ich es auch, die die Lektion erteilt.«
Jetzt kam er näher, so nahe, dass sie seinen Schweiß riechen konnte. »Wie kühn, mir gegenüber solche Worte zu gebrauchen. Sehr kühn.« Er ließ einen Finger über ihren Arm streifen. »Nur wenige Frauen sind so kühn.« Noch näher kam er, und seine andere Hand glitt in den Schlitz ihres Kleides, ihren Schenkel hinauf, griff an ihre Hinterbacken. »Beinahe habe ich das Gefühl, als würde ich dich kennen.«
Monza legte die versehrte Hand auf den Rand ihrer Maske, als Ario sie weiter an sich heranzog. »Mich kennen?« Die andere ließ sie sanft hinter den Rücken gleiten, bis sie den Griff eines Messers spürte. »Natürlich kennst du mich.«
Mit einem Ruck riss sie sich die Maske herunter. Arios Lächeln verharrte noch einen Augenblick, während seine Augen über ihr Gesicht glitten. Dann riss er sie entsetzt auf.
»Hilfe …!«
»Hundert Waag auf den nächsten Wurf!«, brüllte Mondsichel und hielt die Würfel hoch. Im Raum wurde es still, als die Anwesenden sich neugierig umwandten.
»Hundert Waag.« Freundlich bedeutete das nichts. Nichts davon war sein Geld, und ohnehin interessierte ihn Geld höchstens dann, wenn es gezählt wurde. Verluste und Gewinne waren dabei genau dasselbe.
Mondsichel ließ die Würfel in der Hand klappern. »Kommt schon, ihr Scheißer!« Mit kühner Geste warf er sie rollend und klickernd über den Tisch.
»Fünf und sechs.«
»Ha!« Mondsichels Freunde jubelten, lachten, klopften ihm auf die Schulter, als ob er damit, dass er eben diese Zahlen und keine anderen gewürfelt hatte, irgendeine besondere Leistung gezeigt hatte.
Der eine mit der Maske, die wie ein Schiff aussah, warf die Arme in die Luft. »Jetzt aber!«
Der mit der Fuchsmaske machte eine obszöne Handbewegung.
Die Kerzen schienen unangenehm hell geworden zu sein. Zu hell zum Zählen. Im Saal war es sehr warm, eng und voll. Freundlichs Hemd klebte ihm am Körper, als er die Würfel aufnahm und sie sanft selbst rollen ließ. Am Tisch zog man hart die Luft ein. »Fünf und sechs. Das Haus gewinnt.« Die Leute vergessen oft, dass ein Ergebnis beim Würfeln genauso wahrscheinlich ist wie ein beliebiges anderes – genau dasselbe eingeschlossen. Daher war es für ihn keine so große Überraschung, dass Mondsichel völlig die Fassung verlor.
»Du betrügerisches Arschloch!«
Freundlich runzelte die Stirn. In der Sicherheit hätte er einen Mann, der so etwas zu ihm sagte, aufgeschlitzt. Das hätte er auch tun müssen, damit andere wussten, dass sie so etwas bei ihm gar nicht erst versuchen durften. Er hätte auf den anderen eingestochen und nicht aufgehört. Aber sie waren jetzt nicht in der Sicherheit, sie waren draußen. Überblick behalten, hatte man ihm gesagt. Er bemühte sich, den warmen Griff seines Beils zu vergessen, der sich an seine Hüfte schmiegte. Überblick. Er zuckte die Achseln. »Fünf und sechs. Die Würfel lügen nicht.«
Mondsichel packte Freundlichs Handgelenk, als der die Gewinnmarken zusammenschieben wollte. Er beugte sich vor und piekte ihm einen trunkenen Finger in die Brust. »Ich glaube, deine Würfel sind gezinkt.«
Freundlich fühlte, wie seine Gesichtszüge schlaff wurden. Der Atem ging ihm kaum durch die Kehle, so eng war sie ihm zugeschnürt. Er fühlte jeden Tropfen Schweiß, der über seine Stirn, seinen Rücken, seine Kopfhaut lief. Eine ruhige, kalte und absolut unerträgliche Wut brannte durch seinen ganzen Körper. »Was sollen meine Würfel sein?«, brachte er gerade noch heraus.
Piek, piek, piek. »Deine Würfel lügen.«
»Was tun meine Würfel?« Freundlichs Beil spaltete die Mondsichelmaske und den Kopf darunter gründlich auf. Sein Messer stach dem Kerl mit dem Schiff über dem Gesicht mit so viel Wucht in den Mund, dass die Klinge an seinem Hinterkopf wieder herauskam. Freundlich stach wieder zu, und wieder und wieder, rein, raus, bis der Griff der Klinge glitschig wurde. Eine Frau stieß einen langen, schrillen Schrei aus.
Freundlich war sich vage bewusst, dass ihn alle im Saal anstarrten, viermal dreimal vier Menschen oder mehr, vielleicht auch weniger. Er kippte den Würfeltisch um und schleuderte Gläser, Marken, Münzen in die Luft. Der Mann mit der Fuchsmaske starrte ihn an, die Augen hinter den Sehschlitzen weit aufgerissen, Spritzer dunkler Hirnmasse auf seiner bleichen Wange.
Freundlich beugte sich vor und starrte ihm ins Gesicht. »Entschuldige dich!«, brüllte er mit aller Kraft. »Entschuldige dich bei meinen verdammten Würfeln!«
»Hilfe …«
Arios Schrei ging in dem schweren, keuchenden Versuch unter, einzuatmen. Er starrte an sich herunter, und sie tat es auch. Ihr Messer war in die kleine Höhlung am Ansatz des Oberschenkels gedrungen, genau neben seinem schlaffen Schwanz, und steckte bis zum Griff darin. Blut strömte über ihre Faust. Einen winzigen Augenblick stieß er ein hässliches, hohes Kreischen aus, dann traf ihn die Spitze von Monzas anderem Messer unter dem Ohr und kam auf der anderen Seite seines Halses wieder heraus.
Ario blieb, wo er war, die Augen weit aufgerissen, und eine Hand zupfte schwach an ihrer nackten Schulter. Die andere kroch zitternd hoch und zerrte am Griff der Klinge. Blut, dick und schwarz, quoll aus der Wunde und zwischen seinen Fingern hervor, blubberte die Beine hinab und lief in dunklen, sirupartigen Strängen über seine Brust, und seine bleiche Haut war rot verschmiert und rot bespritzt. Sein Mund öffnete sich gähnend, aber es erklang nur ein sanftes, furzähnliches Geräusch, als Atem um den nassen Stahl in seiner Kehle glitt. Er taumelte zurück, sein anderer Arm griff in die Luft, und Monza sah ihm fasziniert zu, während sein weißes Gesicht eine helle Spur in ihrem Sichtfeld hinterließ.
»Drei erledigt«, flüsterte sie. »Vier stehen noch aus.«
Seine blutigen Schenkel klatschten gegen das Fensterbrett, und dann fiel er, sein Kopf klatschte gegen das Buntglas und stieß das Fenster weit auf. Er fiel hindurch und verschwand in der Nacht.
Die Keule kam auf ihn zu, ein Hieb, der Espes Schädel wie ein Ei aufgeschlagen hätte. Aber es war ein müder, schlampiger Hieb, der Graulocks Seite ungedeckt ließ. Espe duckte sich inmitten einer Drehbewegung und fauchte, als er das schwere Schwert herumwirbeln ließ. Es schlug dem großen Mann den blau bemalten Unterarm mit einem satten Geräusch geradewegs ab, und die Klinge traf danach tief seitlich in seinen Bauch. Blut spritzte aus dem Stumpf auf die Gesichter der Umstehenden. Die Keule fiel klappernd aufs Pflaster, ebenso wie Hand und Arm. Jemand stieß einen dünnen Schrei aus. jemand anders lachte.
»Wie haben sie das hingekriegt?«
Dann fing Graulock an zu kreischen, als hätte er sich den Fuß in der Tür geklemmt. »Scheiße! Es tut weh! Ah! Ah! Was ist mit … bei den …«
Mit der Hand, die ihm noch verblieben war, fasste er sich auf die andere Seite, fühlte die tiefe Wunde, aus der eine dunkle Masse quoll. Auf einem Knie warf er sich nach vorn, legte den Kopf in den Nacken und fing an zu schreien. Bis Espes Schwert die Maske mitten auf der Stirn traf und mit einem Scheppern, das sein Gebrüll unterbrach, eine riesige Delle zwischen die Augenlöcher schlug. Der große Kerl kippte nach hinten, seine Stiefel flogen in die Luft, dann krachten sie zu Boden.
Und damit war die abendliche Unterhaltung zu Ende.
Die Musiker spielten die letzten unsicheren Töne, dann verklang das Lied. Abgesehen von dem entfernten Gebrüll aus dem Spielsaal war es auf dem Hof nun still. Espe starrte auf Graulocks Leiche und auf das Blut, das aus der eingedellten Maske blubberte. Seine Wut war plötzlich verraucht, und nun fühlte er die Schmerzen in seinem Arm, den kalten Schweiß, der auf seiner Kopfhaut prickelte, und eine gesunde Portion aufkeimendes Entsetzen.
»Wieso passieren solche Sachen immer mir?«
»Weil du ein böser, böser Mensch bist«, sagte Cosca, der ihm über die Schulter sah.
Espe fühlte, wie ein Schatten über sein Gesicht glitt. Er sah gerade hoch, als ein nackter Körper mit dem Kopf voran in den Kreis krachte und die Umstehenden, die ihn mit aufgerissenen Mündern anstarrten, mit Blut bespritzte.