NACH UNTEN

Sie erreichten Visserine, als die Sonne hinter den Bäumen verschwand und das Land in Schwärze tauchte. Die Türme konnte man selbst aus vielen Meilen Entfernung sehen. Es waren Dutzende. Vielleicht sogar noch mehr. Hoch und schlank wie Frauenfinger ragten sie in den bewölkten, blaugrauen Himmel, und kleine Lichtpünktchen glühten dort, wo Lampen in den hohen Fenstern brannten.

»Ziemlich viele Türme«, murmelte Espe vor sich hin.

»In Visserine waren sie immer sehr in Mode.« Cosca grinste ihn von der Seite an. »Manche gehen zurück bis zum Neuen Kaiserreich und sind Hunderte von Jahren alt. Die größten Familien wetteifern miteinander, die jeweils höchsten zu bauen. Es ist eine Frage des Stolzes. Als ich noch ein Kind war, ist einmal einer von ihnen eingestürzt, bevor er fertig war, keine drei Straßen von dort, wo ich lebte. Ein Dutzend Häuser armer Menschen wurde dabei zerstört. Es sind immer die Armen, die vom Ehrgeiz der Reichen zermalmt werden. Aber sie beschweren sich kaum, weil sie, nun …«

»Weil sie davon träumen, selbst einmal einen Turm zu bauen?«

Cosca gluckste leise. »Nun ja, ich denke schon. Aber eines sehen sie dabei nicht: Je höher man hinaufklettert, desto tiefer ist später der Fall.«

»Die Menschen sehen das meist erst, wenn der Boden bereits auf sie zukommt.«

»Das ist leider wahr. Und ich fürchte, viele der Reichen von Visserine werden bald fallen …«

Freundlich entzündete eine Fackel, Vitari ebenfalls, und Day steckte eine dritte an die Vorderseite des Karrens, um den Weg zu beleuchten. Überall um sie herum flammten Fackeln auf, bis die Straße sich in einen Strom winziger Lichter verwandelt hatte, der sich im Dunkeln schimmernd über das dunkle Land zum Meer bewegte. Zu einer anderen Zeit hätte es ein hübsches Bild abgegeben, aber nicht jetzt. Der Krieg zog heran, und es war niemand in guter Stimmung.

Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr Menschen drängten sich auf der Straße und desto mehr Müll türmte sich daneben. Die eine Hälfte der Leute schien unbedingt nach Visserine hineinzuwollen, um sich hinter ein paar Stadtmauern verstecken zu können, und die andere Hälfte war bestrebt, herauszukommen und über das offene Land zu fliehen. Den Bauern ließ der nahende Krieg eine erbärmliche Wahl. Wer auf seiner Scholle blieb, riskierte mit großer Wahrscheinlichkeit Brand und Raub, vermutlich auch Vergewaltigung und Tod. Wer versuchte, sich bis zur Stadt durchzuschlagen, und darauf vertraute, dort Platz zu finden, riskierte es, von seinen Beschützern ausgeraubt zu werden oder, wenn die Stadt schließlich fiel, den Eroberern in die Hände zu fallen. Man konnte sich höchstens noch in den Bergen verstecken, vielleicht erwischt werden, vielleicht auch verhungern oder in einer eisigen Nacht einfach erfrieren.

Der Krieg tötete ein paar Soldaten, das stimmte, aber den übrigen schenkte er Geld, neue Triumphlieder und ein Feuer, um das man sich scharen konnte. Er tötete viel mehr Bauern und schenkte denen, die übrig blieben, nichts als tote Asche.

Wie um die Stimmung noch weiter zu heben, fing es an zu regnen. Kalte Tropfen zischten und fauchten auf den flackernden Fackeln und fuhren wie weiße Streifen durch den Lichtschein rund um die kleinen Brände. Die Straße verwandelte sich in zähen Schlamm. Espe fühlte die Nässe auf seiner Kopfhaut, aber seine Gedanken waren weit weg. Sie weilten an jenem Ort, wo sie sich die letzten Wochen so oft aufgehalten hatten. Bei Cardotti und den dunklen Taten, die er dort verrichtet hatte.

Sein Bruder hatte ihm stets gesagt, eine Frau zu töten, das sei das Niederste, was ein Mann überhaupt tun konnte. Achtung vor Frauen und Kindern, die Wahrung der alten Grundsätze und die Treue zum eigenen Wort, das war es, was die Menschen von den Tieren unterschied und Carls von Meuchelmördern. Er hatte es nicht tun wollen, aber wenn man in einer Menschenmenge eine Klinge schwingt, dann kann man sich der Verantwortung für die Geschehnisse nicht entziehen. Der gute Mensch, der er hier hatte werden wollen, hätte sich die Nägel bis aufs Blut heruntergekaut angesichts dessen, was er getan hatte. Aber wenn er daran dachte, wie sein Schwert ein großes Stück aus ihrem Brustkorb riss, an den hohlen Klang dabei und an ihren leeren Blick, als sie sterbend an der Wand hinabglitt, dann war in seinem Kopf nur Erleichterung darüber, dass er davongekommen war.

Wenn man unabsichtlich eine Frau in einem Hurenhaus tötete, war das Mord, und es war sicher schlimm, aber wenn man einen Mann in einer Schlacht umbrachte, dann war das auf einmal eine edle Tat? Etwas, worauf man stolz sein konnte und worüber man Lieder sang? Es hatte eine Zeit gegeben, an den Feuern oben im kalten Norden, da diese Beurteilung ganz einfach und offensichtlich erschienen war. Aber Espe sah den Unterschied längst nicht mehr so deutlich wie früher. Und es war nicht so, als sei er nun plötzlich verwirrt. Ihm war auf einmal alles klar. Wenn man einmal damit begonnen hat, Menschen zu töten, dann spielt es keine Rolle mehr, aus welchen Beweggründen man es tut.

»Du siehst aus, als gingen dir dunkle Gedanken durch den Kopf, mein Freund«, sagte Cosca.

»Ist wohl nicht die richtige Zeit für Witze.«

Der Söldner lachte leise. »Mein alter Mentor Sazine hat mir einmal gesagt, man solle in jedem Augenblick des Lebens lachen können, weil es mit dem Lachen nämlich ziemlich schwierig wird, wenn das Leben einmal vorbei ist.«

»Tatsächlich? Was ist aus ihm geworden?«

»Ist an Wundbrand in der Schulter gestorben.«

»Ziemlich schlechter Witz.«

»Tja, wenn das Leben ein Witz ist«, überlegte Cosca, »dann ein ziemlich makabrer.«

»Dann lacht man besser gar nicht, damit man sich nicht selbst lächerlich macht.«

»Oder man stimmt seinen Humor darauf ab.«

»Man muss schon einen ziemlich kranken Humor haben, um über das hier lachen zu können.«

Cosca kratzte sich am Hals, während er zu den Mauern von Visserine hinübersah, die schwarz im stärker werdenden Regen vor ihnen aufragten. »Ich muss zugeben, dass es auch mir schwerfällt, dieser Lage etwas Lustiges abzugewinnen.«

An den Lichtern war bereits zu erkennen, dass es vor dem Tor ein hässliches Gedränge gab, und der Anblick wurde nicht angenehmer, als sie näher kamen. Gelegentlich traten Menschen aus dem Tor – alte Männer, junge Männer und Frauen, die Kinder trugen und Gepäck auf Maultiere oder den eigenen Rücken gebunden hatten. Wagenräder mühten sich knarrend durch den zähen Schlamm. Die Leute, die die Stadt verließen, schoben sich nervös durch die zornige Menge. Eingelassen wurden hingegen nicht sehr viele. Man spürte die Angst, die schwer in der Luft lag, und je dichter das Gedränge wurde, desto schwerer wurde sie.

Espe schwang sich vom Pferd, streckte die Beine und lockerte gewissenhaft sein Schwert in der Scheide.

»In Ordnung.« Monzas schwarzes Haar rahmte ihr von der Kapuze beschattetes Gesicht ein. »Ich bringe uns rein.«

»Sind Sie absolut überzeugt davon, dass wir die Stadt betreten sollten?«, fragte Morveer.

Sie warf ihm einen langen Blick zu. »Orsos Heer kann keine zwei Tage mehr von hier entfernt sein. Das bedeutet, Ganmark ist im Anmarsch. Vielleicht auch der Getreue Carpi mit den Tausend Klingen. Und dort, wo sie sind, müssen auch wir sein, so einfach ist das.«

»Sie sind natürlich meine Dienstherrin. Aber ich fühle mich verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass man es mit der Entschlossenheit auch übertreiben kann. Sicherlich könnten wir einen weniger gefährlichen Weg ersinnen, als uns in eine Stadt zu begeben, die demnächst von feindlichen Streitkräften umringt sein wird, und derart in eine Falle zu laufen.«

»Wir werden nichts erreichen, wenn wir hier draußen warten.«

»Wir werden auch nichts erreichen, wenn wir alle getötet werden. Ein Plan, der so starr ist, dass er bricht, wenn die Umstände eine leichte Anpassung erforderten, ist schlimmer als …« Sie wandte sich ab, bevor er den Satz zu Ende brachte, ging auf den Torbogen zu und drängte sich zwischen den Menschen durch. »Frauen«, zischte Morveer durch die zusammengebissenen Zähne.

»Was ist mit Frauen?«, knurrte Vitari.

»Frauen – Anwesende natürlich völlig ausgenommen – neigen dazu, eher mit dem Herzen als mit dem Kopf zu denken.«

»Bei dem, was sie zahlt, kann sie von mir aus mit dem Arsch denken.«

»Auch wer reich stirbt, ist tot.«

»Besser, als wenn er arm stirbt«, bemerkte Espe.

Es dauerte nicht lange, und ein halbes Dutzend Wachmänner schob sich durch die Menge, drängte die Leute mit Speeren zurück und machte eine schlammige Gasse zum Tor frei. Ein Offizier war bei ihnen, und Monza folgte ihm auf dem Fuße. Sie hatte zweifelsohne ein paar Münzen springen lassen und fuhr nun die Ernte ein.

»Ihr sechs mit dem Wagen da drüben.« Der Offizier deutete mit einem behandschuhten Finger auf Espe und die anderen. »Ihr kommt rein. Ihr sechs und sonst niemand.«

Unter den Übrigen, die um das Tor herumstanden, kam zorniges Gemurmel auf. Jemand trat gegen den Wagen, als er sich in Bewegung setzte. »Das ist doch Scheiße! Das ist doch nicht gerecht! Ich habe Salier mein Leben lang Steuern gezahlt, und jetzt werde ich hier sitzengelassen?« Ein Mann packte Espe am Arm, als er versuchte, sein Pferd zum Tor zu führen. Er war ein Bauer, soweit Espe das im Fackellicht und dem heftigen Regen erkennen konnte, und er war offenbar noch verzweifelter als die anderen. »Wieso werden diese Drecksäcke durchgelassen? Ich muss meine Familie er…«

Espe schlug die Faust in das Gesicht des Mannes. Als der stürzte, packte er ihn am Mantel und riss ihn wieder hoch, schickte einen zweiten Schlag hinterher und schleuderte ihn rücklings in den Graben neben der Straße. Blut, dunkel im dämmrigen Licht, strömte dem Bauern über das Gesicht, als er sich wieder aufzurichten versuchte. Wenn man eine Schlägerei anfängt, dann bringt man sie am besten mit den ersten Schlägen auch gleich zu Ende. Ein wenig gezielte Härte kann einem langfristig viel ersparen. So hätte es der Schwarze Dow gesehen. Und daher trat Espe schnell vor, setzte dem Mann den Stiefel auf die Brust und drückte ihn wieder in den Dreck.

»Bleib lieber, wo du bist.« Ein paar andere standen in der Nähe, dunkle Umrisse, eine Frau, an deren Beine sich zwei Kinder schmiegten. Einer der jungen sah ihn direkt an, leicht vorgebeugt, als ob er darüber nachdachte, etwas zu unternehmen. Der Sohn des Bauern vermutlich. »Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt mit diesem Scheiß, Kleiner. Hast du das dringende Bedürfnis, dich langzulegen?«

Der Junge schüttelte den Kopf. Espe nahm wieder den Zügel seines Pferdes, schnalzte mit der Zunge und ging zum Tor. Nicht zu schnell. Aufmerksam und bereit für den Fall, dass jemand so dumm sein sollte, ihn auf die Probe stellen zu wollen. Aber er war erst ein paar Schritte weit gekommen, da hatten sich die Umstehenden schon wieder aufs Rufen verlegt, beteuerten, dass sie etwas Besonderes waren und dass gerade sie eingelassen werden müssten, während man den Rest den Wölfen überlassen konnte. Angesichts der Lage war ein Mann, dem man die Vorderzähne eingeschlagen hatte, keine große Sache. Jene, die noch nichts Schlimmeres gesehen hatten, gingen davon aus, dass sie es schon bald tun würden, und sie waren vor allem bestrebt, jetzt selbst nichts abzubekommen. Er folgte den anderen, blies kühlend auf seine abgeschürften Knöchel, ritt durch das Tor und in die Dunkelheit des Durchgangs, der dahinter lag.

Espe versuchte sich daran zu erinnern, was ihm der Hundsmann erzählt hatte, damals in Adua. Es schien hundert Jahre her zu sein. Irgendwas davon, dass Blut nur noch mehr Blut heraufbeschwöre und dass es nie zu spät sei, es besser zu machen. Nicht zu spät, ein guter Mensch zu werden. Rudd Dreibaum war ein guter Mann gewesen, da hatte es keinen besseren gegeben. Sein ganzes Leben lang hatte er sich an die alten Bräuche gehalten und nie den leichteren Weg gewählt, wenn er ihn für den falschen gehalten hatte. Espe war stolz, dass er neben diesem Mann gekämpft und ihn Häuptling genannt hatte, aber was hatte Dreibaum seine Ehrenhaftigkeit am Ende eingebracht? Dass man später am Feuer mit feuchten Augen ein paar Mal seinen Namen nannte. Das, ein hartes Leben und ein Loch im Schlamm. Der Schwarze Dow war ein kalter Drecksack gewesen, wie Espe keinen anderen erlebt hatte. Ein Mann, der nie einem Feind offen entgegentrat, wenn er ihn von hinten erledigen konnte, der Dörfer ohne Reue niederbrannte, seine eigenen Eide brach und auf die Folgen spuckte. Ein Mann, so gnädig wie die Pest und mit einem Gewissen von der Größe einer Sackratte. Jetzt saß er auf Skarlings Thron, und die eine Hälfte des Nordens lag ihm zu Füßen, während die andere sich fürchtete, seinen Namen auszusprechen.

Hinter dem Torweg gelangten sie in die Stadt. Wasser plätscherte aus schadhaften Gossen auf abgestoßene Pflastersteine. Eine nasse Prozession von Männern, Frauen, Maultieren und Wagen wartete darauf, aus der Stadt gelassen zu werden, und sah ihnen zu, als sie ihnen entgegenkamen. Espe legte den Kopf in den Nacken, die Augen wegen des Regens leicht zusammengekniffen, als sie an einem großen Turm vorbeikamen, der hoch in die schwarze Nacht ragte. Er war sicher dreimal höher als das höchste Gebäude in Carleon, und er war nicht einmal der größte in diesem Viertel.

Er sah von der Seite zu Monza hinüber, auf jene Art, die er inzwischen so gut beherrschte. Sie blickte finster drein wie meistens, die Augen gerade nach vorn gerichtet, und das Licht der Fackeln, die an ihnen vorüberwanderten, zuckte über ihre harten Züge. Sie hatte einen Entschluss gefasst und tat nun alles, um ihr Ziel zu erreichen. Scheiß auf Gewissen und Folgen. Erst kam die Rache, dann war Zeit für Fragen.

Er fuhr sich mit der Zunge durch den Mund und spuckte aus. Je mehr er hier sah, desto mehr erkannte er, dass sie Recht hatte. Erbarmen und Feigheit waren dasselbe. Niemand belohnt dich für gutes Betragen. Hier nicht, und im Norden auch nicht, nirgendwo. Wenn man etwas haben will, dann muss man es sich nehmen, und derjenige, der am meisten an sich raffen kann, hat den meisten Einfluss. Vielleicht wäre es schön gewesen, wenn das Leben anders gewesen wäre.

Aber es war nun einmal nicht so.

 

Monza fühlte sich steif und zerschlagen, wie immer. Sie war zornig und müde, auch wie immer. Sie brauchte einen Zug Spreu, mehr denn je. Und um diesem Abend noch ein wenig mehr Würze zu verleihen, war sie inzwischen auch noch nass, kalt und wundgeritten.

In ihrer Erinnerung war Visserine eine schöne Stadt voll funkelndem Glas und eleganter Gebäude, gutem Essen, Lachen und Freiheit. Bei ihrem letzten Besuch war sie besonders guter Stimmung gewesen. Sie hatten Sommer gehabt und keinen kühlen Frühlingstag, und außer Benna war niemand da gewesen, der erwartete, dass sie irgendwelche Dinge regelte. Und es hatte noch keine vier Männer gegeben, die sie töten musste.

Aber auch davon abgesehen war die Stadt längst nicht mehr der freundliche Lustgarten ihrer Erinnerung.

Dort, wo Lampen brannten, waren die Fensterläden fest geschlossen, und das Licht drang nur durch die Spalten an den Seiten, fiel auf die kleinen Glasfiguren über den Türen und ließ sie funkeln. Hausgeister, ein alter Brauch, sogar älter als das Neue Kaiserreich, waren dort angebracht worden, um für Wohlstand zu sorgen und das Böse zu vertreiben. Monza fragte sich, was die kleinen Glasgötzen wohl bewirken mochten, wenn Orsos Heer die Stadt eroberte. Nicht viel. Angst lag schwer auf den Straßen, und das Gefühl von Bedrohung war so stark, dass es sich an Monzas klamme Haut zu heften schien und die Härchen in ihrem Nacken aufstellte.

Nicht, dass in Visserine wenig Leute auf den Straßen gewesen wären. Einige eilten zum Hafen oder zu den Toren. Männer und Frauen mit so viel Gepäck auf dem Rücken, wie sie tragen konnten, zogen ihre Kinder hinter sich her, und die Alten schlurften hinterdrein. Wagen ratterten an ihnen vorüber, schwer beladen mit Säcken und Kisten, Matratzen und Kommoden und jeder Menge unsinnigem Kram, der später ohnehin weggeworfen werden würde, und sie stauten sich auf den Straßen, die aus Visserine hinausführten. Eine Verschwendung von Zeit und Mühe, in Zeiten wie diesen etwas anderes retten zu wollen als das eigene Leben.

Wenn man beschlossen hatte, zu fliehen, dann tat man das am besten so schnell wie möglich.

Aber es gab viele andere, die sich entschieden hatten, in die Stadt hineinzuflüchten, und die zu ihrem Entsetzen feststellen mussten, dass Visserine eine Sackgasse war. An einigen Stellen säumten sie die Straßen. Sie lagerten in Hauseingängen, versuchten sich mit Decken vor dem Regen zu schützen. Sie verstopften zu Dutzenden die schattenumlagerten Arkaden eines leeren Marktes, duckten sich, als eine Kolonne Soldaten vorbeimarschierte, deren Rüstungen durch die Nässe mit feinen Tropfen besetzt waren, die im Fackelschein funkelten. Geräusche hallten durch die Düsternis. Das Krachen von berstendem Glas oder zersplitterndem Holz. Zornige Rufe, oder auch ängstliche. Ein- oder zweimal sogar ein richtiger Schrei.

Monza vermutete, dass ein paar Bürger der Stadt beschlossen hatten, die große Plünderung schon ein wenig vorzuverlegen. Ein paar Rechnungen zu begleichen und sich ein paar der Dinge zu sichern, auf die sie schon länger ein neidvolles Auge geworfen hatten, während die Augen der Mächtigen aufs eigene Überleben gerichtet waren. Es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen man etwas umsonst bekommen konnte, und immer mehr Leute würden diesen Umstand ausnutzen, wenn Orsos Heer erst einmal vor der Stadt lagerte. Die dünne Schicht der Zivilisation begann bereits abzublättern.

Monza fühlte die Augen, die ihr und ihren fröhlichen Gefährten folgten, während sie langsam durch die Stadt ritten. Ängstliche Augen, misstrauische Augen und die anderen – jene, die abzuschätzen versuchten, ob sie schwach genug oder reich genug waren, dass sich ein Überfall lohnte. Sie hielt die Zügel in der rechten Hand, so weh es auch tat, damit die Linke auf ihrem Schenkel nahe am Griff ihres Degens ruhen konnte. Das einzige Gesetz, das in Visserine nun noch etwas galt, war das der Klinge. Und der Feind stand noch nicht einmal vor den Toren.

Ich habe die Hölle gesehen, hieß es bei Stolicus, und sie ist eine große Stadt während einer Belagerung.

Vor ihnen führte die Straße durch einen Marmorbogen, von dessen hohen Schlusssteinen Wasser hinabplätscherte. Die darüberliegende Wand schmückte ein großes Gemälde. Großherzog Salier saß oben auf einem Thron, und man hatte ihn schmeichelhafterweise lediglich rundlich und nicht überaus fett dargestellt. Eine Hand hielt er segnend in die Höhe, und sein väterliches Lächeln verströmte ein himmlisches Licht. Unter ihm befanden sich ausgewählte Bürger Visserines, von den höchsten bis zu den niedrigsten, die demütig von den Segnungen seiner weisen Regierung profitierten. Brot, Wein, Wohltand. Unter ihnen, direkt über dem Durchgang, waren die Worte Mildtätigkeit, Gerechtigkeit, Mut in mannshohen goldenen Buchstaben angebracht. Ein wahrheitsliebender Mensch hatte es geschafft, bis dort oben hinaufzuklettern und sie in leuchendem Rot teilweise mit Gier, Folter, Feigheit zu übermalen.

»Die Überheblichkeit dieses fetten Arschlochs Salier.« Vitari grinste sie von der Seite an, das orangefarbene Haar schwarzbraun vom Regen. »Na ja, ich vermute, dass er nun keine großen Sprüche mehr klopfen wird, meinst du nicht?«

Monza knurrte nur. Wenn sie in Vitaris knochiges Gesicht sah, stellte sie sich lediglich die Frage, wie weit sie dieser Frau vertrauen konnte. Sicher, sie waren mitten in einem Krieg, aber die größte Bedrohung ging für sie höchstwahrscheinlich immer noch von ihrer eigenen kleinen Truppe Ausgestoßener aus. Vitari? War allein des Geldes wegen hier, und das war stets ein riskanter Beweggrund, weil jederzeit ein anderer Drecksack mit tieferen Taschen des Weges kommen mochte. Cosca? Wie sehr konnte man einem anerkannt betrügerischen Säufer vertrauen, den man einmal selbst verraten hatte? Freundlich? Wer konnte überhaupt sagen, was im Kopf dieses Mannes vor ich ging?

Aber verglichen mit Morveer waren sie geradezu eine richtige Familie. Sie sah verstohlen über ihre Schulter und entdeckte, dass er ihr von seinem Platz auf dem Wagen finstere Blicke zuwarf. Der Mann war reines Gift, und sobald ihm ihr Tod einen Gewinn versprach, würde er sie so schnell ermorden, wie andere einen Holzbock zerquetschten. Er war mit der Entscheidung, nach Visserine zu gehen, nicht einverstanden gewesen, aber es kam für sie nicht in Frage, ihm ihre Beweggründe zu erläutern. Orso würde inzwischen längst Eiders Brief erhalten haben. Sicherlich hatte er eine königliche Belohnung aus den Kassen von Valint und Balk auf ihren Tod ausgesetzt, und die Hälfte aller Meuchelmörder des ganzen Weltenrunds streifte durch Styrien und hoffte, ihren Kopf in einen Sack stecken zu können. Zusammen mit den Köpfen aller, die ihr geholfen hatten, natürlich.

Angesichts dieser Lage der Dinge waren sie in der Mitte einer Schlacht sicherer als außerhalb.

Espe war der Einzige, dem sie auch nur halbwegs trauen konnte. Er ritt vornübergebeugt, groß und schweigend neben ihr. In Westport hatte sie sein Geplapper gestört, aber jetzt war es verstummt, und so seltsam es klang, es hatte eine Lücke hinterlassen. Er hatte ihr im nebelgeschwängerten Sipani das Leben gerettet. Monzas Leben war nicht mehr das, was es früher einmal gewesen war, aber wenn ein Mann ihr dieses bisschen bewahrte, dann stieg er trotzdem ein verdammt großes Stück in ihrer Achtung.

»Du bist plötzlich so still.«

Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit kaum sehen, nur die harte Miene, die Schatten in den Augenhöhlen und unter den Wangenknochen. »Hab wahrscheinlich einfach nichts zu sagen.«

»Hat dich früher auch nicht gestört.«

»Tja. Ich sehe eben alles Mögliche anders.«

»Tatsächlich?«

»Du glaubst ja vielleicht, mir fällt das leicht, aber es ist ziemlich mühsam, immer so viel Hoffnung zu haben. Eine Mühe, die sich zudem nicht zu lohnen scheint.«

»Ich dachte, es sei eine Belohnung an sich, ein besserer Mensch zu werden.«

»Bei so viel Mühe ist es nicht genügend Lohn. Falls es dir nicht aufgefallen ist, wir sind mitten in einem Krieg.«

»Glaub mir, ich weiß, wie ein Krieg aussieht. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens mittendrin verbracht.«

»Na und, was ist daran so besonders? Ich auch. Nach dem, was ich gesehen habe, und ich habe ziemlich viel gesehen, bietet der Krieg nicht gerade die beste Gelegenheit, um ein besserer Mensch zu werden. Ich denke, ich versuche es vielleicht ab jetzt auf deine Weise.«

»Da suche man sich doch einen Gott und preise ihn! Willkommen in der wahren Welt.« Sie war sich nicht sicher, ob sie trotz ihres Grinsens nicht doch einen Hauch Enttäuschung fühlte. Monza mochte es vielleicht schon seit langer Zeit aufgegeben haben, ein anständiger Mensch zu sein, aber irgendwie hatte ihr die Idee gefallen, dass sie im Zweifelsfall zumindest einen benennen konnte. Sie zügelte ihr Pferd, und der Wagen kam hinter ihr ratternd zum Stehen. »Wir sind da.«

Das Haus, das sie und Benna in Visserine gekauft hatten, war alt und schon zu der Zeit gebaut worden, als die Stadt noch keine gute Befestigungsmauer besessen und reiche Leute daher selbst für den Schutz ihres Eigentums gesorgt hatten. Es war ein steinerner, fünfstöckiger Turmbau mit Saal und Ställen auf einer Seite, schießschartenähnlichen Fenstern im Erdgeschoss und einer Brustwehr auf dem Dach. Groß und schwarz ragte er gegen den dunklen Himmel auf und unterschied sich stark von den niedrigen Gebäuden, die sich teils gemauert, teils in Fachwerkbauweise errichtet, in seiner Nähe duckten. Sie hob den Schlüssel zur beschlagenen Tür, dann runzelte sie die Stirn. Die Tür stand einen Spaltbreit offen und Licht drang auf das rohe Mauerwerk. Sie legte den Finger auf die Lippen und deutete auf den hellen Streifen.

Espe hob seinen schweren Stiefel und stieß die Tür mit lautem Krachen auf. Auf der anderen Seite fiel klappernd Holz zu Boden, als dort irgendetwas wegrutschte. Monza schoss ins Haus, die linke Hand am Schwertknauf. In der Küche befanden sich keinerlei Möbel, aber viele Menschen. Sie sahen verdreckt und müde aus, und sie alle starrten sie entsetzt und ängstlich im Licht einer einzelnen Kerze an. Der gedrungene Mann, der den Arm in einer Schlinge trug und ihr am nächsten stand, erhob sich ungelenk von einem leeren Fass und packte einen Holzknüppel.

»Zurück mit dir!«, schrie er sie an. Ein Mann in dreckigem Bauernkittel machte einen Schritt auf sie zu und schwang ein Beil.

Espe drängte sich an Monza vorbei, duckte sich unter der Tür hindurch und richtete sich auf. Sein großer Schatten zuckte an der Wand hinter ihm hin und her, und sein gezogenes Schwert schimmerte bedrohlich an seiner Seite. »Zurück mit euch.«

Der Bauer tat, wie ihm geheißen, die furchtsamen Augen auf die lange, helle Klinge gerichtet. »Wer, zur Hölle, seid ihr?«

»Ich?«, fauchte Monza. »Das ist mein Haus, du Drecksack.«

»Es sind elf«, sagte Freundlich, der sich durch die Tür auf der anderen Seite schob.

Außer den beiden Männern gab es zwei alte Frauen und einen noch älteren Mann, gebeugt und mit herabhängenden, knotigen Händen. Auch eine Frau in Monzas Alter war dabei, mit einem Säugling auf dem Arm und zwei kleinen Mädchen, die an ihrer Seite saßen und alles mit großen Augen beobachteten, einander ähnlich genug, um Zwillinge zu sein. Ein Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren stand am kalten Kamin. Sie hatte ein roh geschmiedetes Messer gezogen, mit dem sie gerade Fische ausgenommen hatte; den anderen Arm hatte sie schützend vor einen vielleicht zehnjährigen Jungen gestreckt, um ihn hinter sich in Deckung zu schubsen.

Nur ein Mädchen, das auf seinen kleinen Bruder aufpasste.

»Tu dein Schwert weg«, sagte Monza.

»Hä?«

»Heute Nacht wird niemand getötet.«

Espe hob eine seiner schweren Brauen und sah sie an. »Na, und wer ist jetzt der Optimist?«

»Ihr habt Glück, dass ich ein großes Haus gekauft habe.« Der Kerl mit dem Arm in der Schlinge sah nach dem Oberhaupt der Familie aus, und daher richtete sie den Blick auf ihn. »Es ist für uns alle Platz.«

Er ließ seine Keule sinken. »Wir sind Bauern aus dem Tal und nur auf der Suche nach einem sicheren Ort. Das Haus war schon so, als wir es entdeckten, wir haben nichts geklaut. Wir werden keinen Ärger machen …«

»Das wäre auch besser für euch. Sind das hier alle?«

»Ich heiße Furli. Das ist meine Frau …«

»Ich muss eure Namen nicht wissen. Ihr bleibt hier unten und kommt uns nicht in die Quere. Wir werden oben sein, im Turm. Dort kommt ihr nicht hinauf, verstanden? Dann wird auch keinem was passieren.«

Er nickte, und die Angst mischte sich mit Erleichterung. »Ich verstehe.«

»Freundlich, bring die Pferde in den Stall und hol den Wagen von der Straße.« Die hungrigen Gesichter der Bauernfamilie – hilflos, schwach, bedürftig – lösten Übelkeit in Monza aus. Mit einem Tritt schubste sie einen kaputten Stuhl aus dem Weg und stieg dann die Treppe empor, die sich in die Dunkelheit hinaufwand, die Beine noch steif von dem langen Tag im Sattel. Morveer holte sie auf dem vierten Absatz ein, gefolgt von Cosca und Vitari, und dahinter kam Day, die eine Kiste im Arm trug. Morveer hatte eine Lampe bei sich, und das Licht sammelte sich auf der Unterseite seines unzufriedenen Gesichts.

»Diese Bauern sind eine klare Gefahr für uns«, raunte er. »Ein Problem, das sich allerdings leicht beseitigen ließe. Es wird kaum nötig sein, den König der Gifte zu bemühen. Eine milde Gabe Brot, natürlich mit Leopardenblume bestäubt, und sie würden uns keine …«

»Nein.«

Er blinzelte. »Wenn es Ihre Absicht ist, sie nach Belieben dort unten herumlaufen zu lassen, dann muss ich schärfstens protestieren.«

»Protestieren Sie, wenn Sie wollen. Sie werden ja merken, ob mich das einen Scheiß kümmert. Sie und Day können dieses Zimmer nehmen.« Als er sich umdrehte und in die Dunkelheit spähte, riss ihm Monza die Lampe aus der Hand. »Cosca, du gehst mit Freundlich in den zweiten Stock. Vitari, so, wie’s aussieht, kannst du nebenan allein schlafen.«

»Allein schlafen.« Vitari kickte ein paar Stuckbruchstücke über die Dielen. »Die Tragik meines Lebens.«

»Dann gehe ich noch einmal zum Wagen und bringe meine Ausrüstung in die Herberge der Schlächterin von Caprile für verjagtes Bauernvolk.« Morveer schüttelte angewidert den Kopf und wandte sich wieder zur Treppe.

»Tun Sie das«, zischte Monza hinter ihm her. Sie verharrte einen Augenblick, bis sie seine Stiefel ein paar Treppen weiter unten vernahm und er außer Hörweite war. Bis es, von Coscas Stimme abgesehen, der ein Stockwerk tiefer endlos auf Freundlich einredete, still auf dem Treppenabsatz war. Dann folgte sie Day in ihr Zimmer und schob leise die Tür zu. »Wir müssen reden.«

Das Mädchen öffnete die Kiste und holte ein Stück Brot hervor. »Worüber?«

»Über dieselbe Sache, über die wir schon in Westport sprachen. Über deinen Dienstherrn.«

»Er geht Ihnen auf die Nerven, was?«

»Sag nicht, dass er nicht auch an deinen zerrt.«

»Jeden Tag der letzten drei Jahre.«

»Ist sicher nicht leicht, für einen Mann wie ihn zu arbeiten.« Monza tat einen weiteren Schritt ins Zimmer, ließ das Mädchen dabei nicht aus den Augen. »Früher oder später muss sich eine Schülerin aus dem Schatten ihres Meisters lösen, wenn sie jemals selbst Meisterin werden will.«

»War das der Grund, weshalb Sie Cosca verraten haben?«

Das ließ Monza einen Augenblick innehalten. »Mehr oder weniger. Manchmal muss man ein Risiko eingehen. Wer mit kräftigem Griff eine Nessel packt, verbrennt sich nicht. Aber du hast ja sogar noch bessere Gründe als ich.« Sie hatte es ganz leichthin gesagt, als sei es offensichtlich.«

Nun war es an Day, kurz zu zögern. »Welche Gründe?«

Monza gab sich überrascht. »Nun … weil Morveer mich früher oder später verraten und zu Orso überlaufen wird.« Sie war sich natürlich nicht sicher, aber es war höchste Zeit, sich gegen diese Möglichkeit abzusichern.

»Ist das so?« Day lächelte nicht mehr.

»Es gefällt ihm nicht, wie ich die Dinge angehe.«

»Wer sagt, dass es mir gefällt?«

»Begreifst du es nicht?« Day verengte nur die Augen, das Brotstück lag tatsächlich einmal vergessen in ihrer Hand. »Wenn er zu Orso überläuft, dann wird er jemanden brauchen, dem er die Schuld zuweisen kann. Für Ario. Einen Sündenbock.«

Jetzt hatte sie verstanden. »Nein«, fauchte sie. »Er braucht mich.«

»Wie lange bist du jetzt bei ihm? Drei Jahre, hast du gesagt? Vorher ist er doch wohl auch zurechtgekommen, oder? Was meinst du, wie viele Gehilfen er vor dir gehabt hat? Hast du viele von ihnen kennengelernt?«

Day öffnete den Mund, blinzelte und schloss ihn dann nachdenklich wieder.

»Vielleicht hält er auch zu mir, wir bleiben eine glückliche Familie und trennen uns in aller Freundschaft. Die meisten Giftmischer sind nette Leute, wenn sie einem erst mal vertraut sind.« Monza beugte sich nahe genug zu Day hinüber, um flüsternd verstanden zu werden. »Aber wenn er dir sagt, dass er zu Orso überläuft, dann komm mir nicht damit, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Sie ließ Day zurück, die missmutig ihr Stück Brot ansah, huschte still durch die Tür und zog sie mit den Fingerspitzen zu. Vorsichtig spähte sie die Treppe hinunter, aber von Morveer war nichts zu sehen, nur der Handlauf ragte in die Dunkelheit hinunter. Sie nickte leise. Die Saat war ausgebracht, und sie musste nun abwarten, was daraus erwuchs. Sie mühte ihre müden Beine die schmale Treppe zur Spitze des Turms hinauf, durch die knarrende Tür und in die obere Kammer unter dem Dach, auf dem leise der Regen trommelte.

Das Zimmer, in dem sie und Benna einen glücklichen Monat zusammen verbracht hatten, inmitten einiger dunkler Jahre. Weitab vom Krieg. Sie hatten gelacht, geredet, durch die großen Fenster auf die Welt draußen geblickt. So getan, als lebten sie ein Leben, in dem sie niemals Kriege geführt, sondern irgendwie anders zu Geld gekommen wären. Sie merkte, dass sie trotz allem lächelte. Die kleine Glasfigur schimmerte immer noch in der Nische über der Tür. Ihr Hausgeist. Sie erinnerte sich daran, wie Benna sie über die Schulter hinweg angelächelt hatte, als er sie mit den Fingerspitzen dorthin geschoben hatte.

Damit er über dich wacht, wenn du schläfst, so wie du immer über mich gewacht hast.

Ihr Lächeln verblasste, und sie ging zum Fenster und zog einen der abblätternden Läden auf. Der Regen hatte einen grauen Schleier über die Stadt geworfen, prasselte nun dicht herab und klatschte auf das Fensterbrett. Ein weit entfernter Blitz beleuchtete das Gewirr nasser Dächer für einen kurzen Augenblick, und die grauen Umrisse der anderen Türme zeichneten sich in der Düsternis ab. Wenig später grollte der Donner missmutig und gedämpft über die Stadt.

»Wo schlafe ich?« Espe stand in der Tür, den Arm gegen den Rahmen gestützt und ein paar Decken über die Schulter geworfen.

»Du?« Sie blickte zu der kleinen Glasfigur über seinem Kopf und dann wieder auf Espes Gesicht. Vielleicht hatte sie vor langer Zeit einmal hohe Ansprüche gehabt, aber damals war auch Benna noch bei ihr gewesen, sie hatte noch beide Hände gehabt und ein Söldnerheer im Rücken. Jetzt hatte sie nichts außer sechs gut bezahlten Außenseitern, einen Degen und viel Geld. Ein General sollte Abstand zu seinen Truppen wahren, und eine gesuchte Frau sollte sich von allen Menschen fernhalten, aber Monza war keine Generalin mehr. Benna war tot, und sie brauchte irgendetwas. Man kann über sein Unglück weinen, oder man kann sich aufraffen und das Beste aus den Dingen machen, so beschissen sie auch sein mögen. Sie schubste den Fensterladen zu, ließ sich mit gequältem Gesicht aufs Bett sinken und stellte die Lampe auf den Boden.

»Du schläfst hier bei mir.«

Seine Brauen hoben sich. »Ja?«

»So ist es, Optimist. Heute Nacht hast du Glück.« Auf die Ellenbogen aufgestützt, lehnte sie sich zurück, und das alte Bettgestell knarrte, als sie ihm einen Fuß hinstreckte. »Jetzt mach die Tür zu und hilf mir, diese scheiß Stiefel auszuziehen.«