DAS FELL DES LÖWEN
Vieles hatte sich verändert, seit Monza das letzte Mal nach Fontezarmo hinaufgeritten war und dabei mit ihrem Bruder gelacht hatte. Kaum zu glauben, dass das nur ein Jahr zurücklag. Das schwärzeste, verrückteste, blutigste Jahr ihres Lebens – eines Lebens, in dem es an Schwärze, Verrücktheit und Blut bisher nicht gemangelt hatte. Ein Jahr, das sie von einer Toten zur Herzogin gemacht hatte, das sie aber durchaus genauso schnell wieder in die andere Richtung stoßen konnte.
Die Dämmerung, die nun heraufzog, war die des Abends und nicht des Morgens, die Sonne versank hinter ihnen im Westen, als sie den gewundenen Weg entlangritten. Auf seiner einen Seite hatten die Männer überall dort, wo der Boden einigermaßen eben war, Zelte aufgestellt. Sie saßen in kleinen Grüppchen beim flackernden Licht der Lagerfeuer, aßen, tranken, flickten ihre Stiefel oder polierten ihre Rüstungen, und sie starrten Monza mit leeren Gesichtern an, als sie vorüberritt.
Vor einem Jahr hatte sie keine Ehrengarde gehabt, und jetzt folgte ihr auf Schritt und Tritt ein Dutzend handverlesener Soldaten Rogonts so eifrig wie ein Rudel junger Hunde. Es wunderte sie beinahe, dass sie bisher noch nicht versucht hatten, sie bis auf die Latrine zu begleiten. Der kommende König wollte um jeden Preis verhindern, dass sie noch einmal einen Berghang hinuntergeworfen wurde. Jedenfalls nicht bevor sie die Möglichkeit gehabt hatte, ihm auf den Thron zu helfen. Vor zwölf Monaten war es noch Orso gewesen, für den sie die Krone hatte sichern wollen, und Rogont war sein bitterster Feind gewesen. Für eine Frau, die gern an dem festhielt, wofür sie sich einmal entschieden hatte, hatte sie in den letzten vier Jahreszeiten einige Wendungen hinter sich gebracht.
Damals war Benna bei ihr gewesen, jetzt hatte sie Espe. Das hieß, kaum ein Gespräch und schon gar kein Lachen. Sein Gesicht war ein harter, schwarzer Schemen, in dem das blinde Auge funkelnd den letzten Schimmer des verlöschenden Lichts auffing. Sie wusste, dass er damit nichts sehen konnte, aber trotzdem hatte sie dauernd das Gefühl, dass es auf sie gerichtet war. Obwohl er kaum etwas sagte, hörte sie dennoch die ganze Zeit über: Es hätte dich treffen sollen.
Auf dem Gipfel brannten Feuer. Lichtflecken auf den Berghängen, ein gelbes Glühen hinter den Mauern und Türmen, die sich schwarz davor abhoben. Rauchfahnen hingen am tiefen Abendhimmel. Die Straße machte eine weitere Biegung und endete dann vor einer Barrikade, die aus drei umgekippten Wagen errichtet worden war. Victus saß auf einem Feldstuhl, wärmte sich die Hände an einem Lagerfeuer, und die Sammlung gestohlener Ketten um seinen Hals schimmerte. Er grinste, als sie ihr Pferd zügelte, und ließ sich zu einem lächerlich übertriebenen Salut hinreißen.
»Die Großherzogin von Talins in unserem erbärmlichen Lager! Euer Exzellenz, Sie sehen uns beschämt. Hätte ich mehr Zeit gehabt, mich auf Ihren königlichen Besuch vorzubereiten, dann hätten wir den ganzen Dreck noch irgendwie beiseitegeräumt.« Damit öffnete er die Arme, als wolle er sie um das Meer aus aufgewühltem Schlamm, nacktem Fels und den Bruchstücken von Kisten und Wagen schlingen, das sich über den Berghang erstreckte.
»Victus. Die reine Verkörperung des Söldnergeistes.« Sie stieg steifbeinig aus dem Sattel, bemüht, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. »Gierig wie eine Ente, tapfer wie eine Taube, treu wie ein Kuckuck.«
»Ich habe mich stets eher mit edleren Vögeln verglichen. Du musst die Pferde hier leider zurücklassen, wir gehen das letzte Stück durch die Gräben hinüber. Herzog Orso ist ein höchst ungnädiger Gastgeber und hat damit angefangen, alle Besucher, die sich zeigen, mit Katapulten zu beschießen.« Er klopfte etwas Staub vom Segeltuchstoff des Stuhls, auf dem er gesessen hatte, dann deutete er mit seiner beringten Hand auf das Sitzmöbel. »Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass ein paar von den Jungs dich hochtragen?«
»Ich gehe zu Fuß.«
Er sah sie mit spöttischer Verachtung an. »Und dabei wirst du sicher eine tolle Figur machen, davon bin ich überzeugt. Aber du hättest dich ja jetzt zum Zeichen deiner hohen Stellung auch in Seide kleiden können.«
»Kleider machen keine Leute, Victus.« Sie warf seinen vielen Juwelen nun selbst einen Blick spöttischer Verachtung zu. »Ein Stück Scheiße bleibt ein Stück Scheiße, egal, wie viel Gold man darauf häuft.«
»Oh, wie wir dich doch vermisst haben, Murcatto. Dann folge uns am besten.«
»Wartet hier«, herrschte sie Rogonts Leibwächter an. Dass diese Kerle die ganze Zeit hinter ihr herschlichen, ließ sie schwach erscheinen. Es sah so aus, als brauchte sie ihren Schutz.
Der Feldwebel wand sich. »Seine Exzellenz war höchst …«
»Scheiß auf seine Exzellenz. Wartet hier.«
Mit Espe an der Seite schritt sie einige knarrende Stufen hinab; sie bestanden aus alten Kisten, die in den Berghang gesetzt worden waren. Die Gräben sahen nicht viel anders aus als jene, die sie vor Jahren bei Muris gesehen hatte – Wälle aus festgestampfter Erde, die von kleineren und größeren Latten und Pfählen gestützt wurden, mit demselben Geruch von Krankheit, Schimmel, feuchter Erde und Langeweile. Die Gräben, in denen sie sechs Monate lang überwiegend gelebt hatten, wie Ratten in Abflusskanälen. Wo sie Grabenfuß bekam und Benna so schlimmen Durchfall hatte, dass er ein Viertel seines Körpergewichts und seinen gesamten Humor eingebüßt hatte. Sie entdeckte sogar ein paar bekannte Gesichter, als sie sich durch die Gräben, Tunnel und ausgehobenen Löcher mühten – Altgediente, die seit Jahren für die Tausend Klingen kämpften. Sie nickte ihnen jetzt genauso zu wie damals, als sie die Truppe noch befehligte, und sie nickten zurück.
»Du bist sicher, dass Orso da drin ist?«, rief sie Victus zu.
»Oh, wir sind ganz sicher. Cosca hat am ersten Tag mit ihm gesprochen.«
Monza fand diese Nachricht wenig beruhigend. Wenn Cosca anfing, mit dem Feind zu reden, dann endete es gewöhnlich damit, dass er erheblich reicher zur anderen Seite überlief. »Was hatten diese beiden Arschlöcher sich denn zu sagen?«
»Frag Cosca.«
»Das mach ich.«
»Wir haben den Palast umzingelt, keine Sorge. Gräben auf drei Seiten.« Victus klopfte auf die Erde. »Auf eins kannst du dich bei einem Söldner immer verlassen, dass er sich nämlich ein verdammt gutes Loch buddeln wird, um sich darin zu verstecken. Und unten im Wald, am Fuß der Felswand, haben wir Posten aufgestellt.« Jenes Wäldchen, in dem Monza inmitten der Abfälle und völlig zu Brei geschlagen liegen geblieben war und gestöhnt hatte wie die Toten in der Hölle. »Und eine ausgesuchte Sammlung der besten Soldaten Styriens lauert in etwas größerer Entfernung. Osprianer, Sipanier, Affoianer, und zwar nicht wenig. Die alle ein Interesse daran haben, dass unser alter Auftraggeber den Löffel abgibt. Hier kommt keine Ratte heraus, ohne dass wir das mitbekommen. Aber wenn Orso hätte abhauen wollen, dann hätte er das schon vor Wochen tun können. Hat er aber nicht. Du kennst ihn doch besser als alle anderen, oder? Glaubst du, dass er jetzt versucht zu fliehen?«
»Nein«, musste sie zugeben. Eher würde er sterben, und das passte ihr gut. »Wie sieht es aus, kommen wir hinein?«
»Wer auch immer diese Scheißfestung erbaut hat, er wusste, was er tat. Das Gelände rund um den Inneren Hof ist viel zu steil, um irgendwas zu versuchen.«
»Das hätte ich dir sagen können. Nördlich vom Äußeren Hof haben wir die beste Möglichkeit zum Angriff, und dann müssen wir die innere Mauer von dort aus angehen.«
»Haben wir auch schon gedacht, aber es gibt eine kleine Kluft zwischen Denken und Handeln, vor allem, wenn hohe Mauern zu überwinden sind. Noch hatten wir kein Glück.« Victus kletterte auf eine Kiste und winkte sie zu sich. Zwischen zwei Schutzwänden aus Weidengeflecht und hinter einer Reihe angespitzter Pfähle, die aus dem aufgewühlten Abhang ragten, konnte sie die nächstgelegene Ecke der Festung sehen. Einer der Türme brannte, das spitze Dach war eingefallen und bestand nur noch aus einem Gerüst nackter, von Flammen umzüngelter Balken. Die Aussparungen der Zinnen ragten rot und gelb vor dem schwarzen Rauch auf, der in den dunklen, blauen Himmel quoll. »Wir haben den Turm da in Brand gesteckt«, erklärte Victus und zeigte stolz darauf. »Mit einem Katapult.«
»Wunderschön. Dann können wir ja alle nach Hause gehen.«
»Ist doch immerhin schon etwas, oder?« Er führte sie durch eine lange Aushebung, die nach Feuchtigkeit und Schweiß roch; auf beiden Seiten lagen Männer auf Holzgerüsten und schliefen. »Kriege werden nicht durch eine einzige große Aktion gewonnen«, deklamierte er wie ein schlechter Schauspieler. »Sondern durch viele kleine Gelegenheiten. Hast du uns das nicht immer gesagt? Von wem ist das noch? Stalicus?«
»Stolicus, du Dämlack.«
»Irgend so ’n toter Drecksack. Egal, Cosca hat jedenfalls einen Plan, aber den soll er dir selbst erzählen. Du weißt doch, der alte Knacker genießt so einen Auftritt.« In einer Senke im Fels, in der sich vier Gräben trafen, hielt Victus an; ein Dach aus sanft flatternder Leinwand überspannte die Kreuzung, die von einer einzigen, flackernden Fackel erhellt war. »Der Generalhauptmann hat gesagt, er würde hierherkommen. Kannst es dir hier bequem machen, während du wartest.« Im Dreck vielleicht. »Es sei denn, es läge noch was anderes an, Euer Exzellenz?«
»Eins noch.« Er zuckte überrascht zusammen, als ihre Spucke sich sanft über seinem Auge verteilte. »Das ist von Benna, du verräterischer kleiner Wichser.«
Victus wischte sich das Gesicht ab, und sein Blick kroch verstohlen zu Espe, dann wieder zu ihr. »Ich habe nichts getan, was du nicht auch getan hättest. Und schon gar nichts, was dein Bruder nicht auch getan hätte, das steht mal fest. Nichts, was ihr beide nicht auch Cosca angetan hättet, und dem hast du mehr geschuldet als ich dir …«
»Deswegen wischst du dir ja auch nur das Gesicht, anstatt deine Eingeweide daran zu hindern, aus der Bauchdecke zu kriechen.«
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, ob du dir das vielleicht auch selbst zuzuschreiben hattest? Großer Ehrgeiz birgt große Gefahr. Ich habe mich nur von der Strömung treiben lassen …«
Espe trat plötzlich einen Schritt vor. »Dann lass dich mal von ihr wegtreiben, bevor dir jemand die Kehle durchschneidet.« Monza stellte fest, dass er ein Messer in seiner großen Faust hielt. Das Messer, das sie ihm an jenem Tag gegeben hatte, da sie sich das erste Mal begegnet waren.
»Oha, schon gut, Dicker.« Victus hob die Handflächen, und seine Ringe glitzerten. »Ich bin schon weg, keine Sorge.« Mit großer Geste wandte er sich um und stolzierte in die Nacht. »Ihr zwei müsst euch ein bisschen mehr Gelassenheit zulegen«, sagte er noch und wackelte mit dem Zeigefinger über seiner Schulter. »Hat doch keinen Zweck, sich über jede Kleinigkeit gleich aufzuregen. Das führt nur dazu, dass Blut fließt, glaubt mir!«
Das fiel Monza nicht weiter schwer. Alles, was sie anfasste, endete damit, dass Blut floss. Ihr wurde klar, dass sie mit Espe allein war, ein Zustand, den sie in den letzten Wochen vermieden hatte wie die Pest. Sie wusste, dass sie etwas sagen, dass sie den Versuch unternehmen sollte, sich mit ihm wieder auszusöhnen. Sie hatten ihre Probleme gehabt, aber zumindest war er wirklich ihr Gefolgsmann und nicht der Rogonts. Es war gut möglich, dass sie in den nächsten Tagen jemanden brauchen würde, der ihr das Leben rettete, und er war kein Ungeheuer, ganz gleich, wie er aussah.
»Espe.« Er wandte sich zu ihr um, das Messer immer noch fest gepackt, und die stählerne Klinge und das stählerne Auge fingen das Licht der Fackel und funkelten mit den Farben des Feuers. »Hör mal …«
»Nein, du hörst mir zu.« Er bleckte die Zähne und trat ihr einen Schritt entgegen.
»Monza! Da bist du ja!« Cosca spazierte aus einem der Gräben, die Arme weit ausgebreitet. »Und in Begleitung meines allerliebsten Nordmanns!« Er übersah das Messer geflissentlich und schüttelte Espe warm die freie Hand, dann zog er Monza an den Schultern an sich und küsste sie auf beide Wangen. »Ich hatte noch nicht die Möglichkeit, dir zu deiner Rede zu gratulieren. Auf einem Bauernhof geboren. Ein schönes Bild. Bescheiden. Und dann der Hinweis auf den Frieden. Aus deinem Mund? Da war selbst ein alter Zyniker wie ich ganz gerührt.«
»Fick dich, alter Mann.« Aber sie war im Stillen froh, dass sie jetzt nicht mehr die schweren Worte über die Lippen bringen musste.
Cosca hob die Brauen. »Wenn man versucht, das Richtige zu sagen …«
»Manche Leute haben für das Richtige nichts übrig«, flüsterte Espe mit seiner Grabesstimme und steckte sein Messer weg. »Hast du das noch nicht kapiert?«
»Jeder Tag, den man erlebt, birgt eine Lehre. Hier entlang, Kameraden! Ein Stück weiter oben werden wir eine schöne Aussicht auf den Angriff haben.«
»Du greifst an? Jetzt?«
»Wir haben es bei Tageslicht probiert. Das hat nicht geklappt.« Allerdings sah es nicht so aus, als würde es bei Dunkelheit besser funktionieren. Der nächste Graben war von Verwundeten flankiert – verzerrte Gesichter, Stöhnen, blutige Verbände. »Wo ist nur mein edler Auftraggeber, Seine Exzellenz Herzog Rogont?«
»In Talins.« Monza spuckte in den Dreck. Davon gab es ringsum genug. »Bereitet sich auf seine Krönung vor.«
»Jetzt schon? Er weiß aber, dass Orso noch lebt und dass er das, so wie es im Augenblick aussieht, noch eine ganze Weile tun wird? Gibt es nicht ein Sprichwort, nach dem man das Fell des Löwen nicht verkaufen soll, bevor man ihn erlegt hat?«
»Habe ich erwähnt. Mehrfach.«
»Wenn ich mir das vorstelle. Die Schlange von Talins, die dem großen Zauderer zu mehr Zurückhaltung rät! Welch herrliche Ironie!«
»Hat jedenfalls nichts genützt. Er hat jeden Tischler, Schneider und Goldschmied in der ganzen Stadt zum Senatsgebäude bestellt und lässt das Haus für die Krönungszeremonie vorbereiten.«
»Ist er sicher, dass ihm das verdammte Ding nicht auf den Kopf fällt?«
»Darauf können wir immerhin noch hoffen«, brummte Espe.
»Es soll wohl den stolzen Schatten von Styriens kaiserlicher Vergangenheit beschwören«, sagte Monza.
Cosca schnaubte. »Oder aber das peinliche Scheitern des letzten Versuchs, Styrien zu einen.«
»Auch das habe ich erwähnt. Mehrfach.«
»Hat er überhört?«
»Ich hab mich dran gewöhnt.«
»Tja, die Überheblichkeit! Da ich selbst schon seit langem daran leide, erkenne ich die Symptome sofort.«
»Dann wird dir das hier so richtig gefallen.« Monza konnte das verächtliche Grinsen nicht unterdrücken. »Er lässt tausend weiße Singvögel aus Thond herbeischaffen.«
»Bloß tausend?«
»Offenbar ein Symbol des Friedens. Sie sollen über der Menge aufsteigen, wenn er sich erhebt, um sich als König Styriens an sein Volk zu wenden. Und Bewunderer aus dem ganzen Weltenrund – Grafen, Herzöge, Prinzen und vielleicht sogar der Gott der verdammten Gurkhisen, was weiß ich – werden seiner unglaublich hohen Meinung von sich selbst beipflichten und sich darum reißen, seinen fetten Arsch zu küssen.«
Cosca hob die Brauen. »Spüre ich da eine leichte Abkühlung in den Beziehungen zwischen Talins und Ospria?«
»Kronen haben irgendwas an sich, das Menschen dazu bringt, sich wie Idioten zu benehmen.«
»Man könnte vermuten, auch das hättest du erwähnt?«
»Bis ich Fransen am Mund hatte, aber überraschenderweise wollte er nichts davon hören.«
»Klingt nach einer tollen Veranstaltung. Schade, dass ich nicht dabei sein werde.«
Monza runzelte die Stirn. »Nicht?«
»Ich? Nein, nein, nein. Ich würde nur die Stimmung verderben. Es gibt wohl Bedenken hinsichtlich einer etwas zwielichtigen Absprache bezüglich des Herzogtums von Visserine. Kaum zu glauben, nicht wahr?«
»Unmöglich.«
»Wer könnte schon sagen, wer diese unwahrscheinlichen Gerüchte in die Welt gesetzt hat? Davon abgesehen muss ja auch jemand Herzog Orso Gesellschaft leisten.«
Sie fuhr sich mit der Zunge bitter durch den Mund und spuckte noch einmal aus. »Ich habe gehört, dass ihr euch schon unterhalten habt.«
»Nur ein kleiner Schwatz. Wetter, Wein, Weiber, sein bevorstehender Niedergang, so was halt. Er sagte, er wolle meinen Kopf. Ich antwortete, dass ich sein Interesse zwar verstünde, ihn aber selbst auch ganz nützlich fände. Ich blieb hart, aber doch locker, während er ehrlich gesagt ein wenig verdrossen klang.« Cosca wedelte mit einem langen, ausgestreckten Finger. »Möglicherweise macht ihm die Belagerung ein klein wenig zu schaffen.«
»Also ist kein Seitenwechsel im Busch?«
»Vielleicht wäre das als nächstes Thema auf den Tisch gekommen, aber wir wurden leider von einer Flachbogensalve und einem fehlgeschlagenen Versuch, die Mauern zu stürmen, unterbrochen. Vielleicht kommt das noch einmal zur Sprache, wenn wir wieder einmal Tee miteinander trinken.«
Der Graben verbreiterte sich zu einer Höhlung, die zu einem großen Teil mit Holzplanken abgedeckt war, fast zu niedrig, um aufrecht darunter zu stehen. An der Mauer zur Rechten lehnten einige Leitern und warteten auf Männer, die heraufklettern und sich am Angriff beteiligen sollten. Gut dreimal zwanzig bewaffnete und gerüstete Söldner knieten bereits davor und warteten auf das Zeichen zum Angriff. Cosca ging geduckt zwischen ihren Reihen umher und klopfte ihnen auf die Schultern.
»Ruhm, Jungs, Ruhm und eine ordentliche Stange Geld!«
Ihre missmutigen Gesichter hellten sich auf, und sie zeigten ihre lärmende Zustimmung, indem sie laut mit den Waffen gegen die Schilde, die Helme, die Brustpanzer schlugen.
»General!«
»Der Generalhauptmann!«
»Cosca!«
»Jungs, Jungs!« Er lachte leise, tätschelte ihnen die Arme, schüttelte ihre Hände, deutete schlampige Ehrenbezeugungen an. All das war von ihrer eigenen Art zu befehlen meilenweit entfernt. Sie musste kühl, hart, unnahbar bleiben, sonst hätte man ihr keinen Respekt entgegengebracht. Eine Frau konnte sich den Luxus nicht leisten, mit den Männern freundlich umzugehen. Deswegen hatte sie Benna das Lachen überlassen. Und deswegen war es mit dem Lachen bei ihr im letzten Jahr wohl auch so schlecht bestellt gewesen, seit Orso ihren Bruder hatte töten lassen.
»Und hier oben ist mein kleines Zuhause in der Fremde.« Sie folgten Cosca eine Leiter hinauf bis zu einem winzigen Verschlag, der aus dicken Baumstämmen errichtet und mit zwei flackernden Laternen beleuchtet war. In einer Wand befand sich eine breite Öffnung, hinter der die untergehende Sonne das letzte Licht auf das dunkle, flache Land im Westen warf. Schmale Fenster blickten in Richtung Festung. Ein Stapel Kisten erhob sich in einer Ecke, der Stuhl des Generalhauptmanns stand in einer anderen. Daneben ein Tisch, auf dem sich ein Durcheinander aus verstreuten Spielkarten, angebissenen Leckereien und Flaschen in verschiedenen Farben und mit verschieden hohem Füllstand türmte. »Wie läuft der Kampf?«
Freundlich saß im Schneidersitz da, die Würfel zwischen den Knien. »Geht voran.«
Monza ging zu einem der schmalen Fenster. Es war nun beinahe schon Nacht, und sie konnte kaum ein Zeichen des Angriffs ausmachen. Vielleicht zeigte ein Aufblitzen auf den winzigen Zinnen eine Bewegung an, vielleicht schimmerte ein wenig Metall im Licht der Feuerstöße, die auf den steinigen Hängen brannten. Aber sie konnte es hören. Entfernte Rufe, leises Schreien, metallenes Klappern wurden unbestimmt vom Wind herangetragen.
Cosca ließ sich auf den abgenutzten Generalhauptmannsstuhl fallen und brachte die Flaschen zum Klappern, als er seine schlammigen Stiefel auf die Tischplatte schob. »Wir vier, wieder vereint! Genau wie in Cardottis Haus der Sinnesfreuden! Wie in Saliers Galerie! Das waren Zeiten, was?«
Das knarrende Wusch eines Katapults war zu hören, und ein brennendes Geschoss zischte über sie hinweg, prallte gegen den großen, vordersten Turm der Festung, verwandelte sich in einen Feuerball und ließ in weiten Bogen Funken davonstieben. Das dumpfe Glühen beleuchtete die Leitern, die gegen das Mauerwerk gelehnt waren und auf denen winzige Figuren herumkletterten; kurz flackerte Stahl auf, dann wurde wieder alles schwarz.
»Bist du sicher, dass das jetzt der beste Augenblick für Späße ist?«, fragte Monza gedämpft.
»Gerade in schweren Zeiten braucht man Aufheiterung. Man zündet doch auch nicht bei helllichtem Tag Kerzen an, oder?«
Espe sah grimmig den Hang bis nach Fontezarmo hinauf. »Glaubst du wirklich, dass ihr diese Mauern überwinden könnt?«
»Die da? Bist du verrückt? Sie zählen zu den stärksten in ganz Styrien.«
»Aber warum …«
»Ist doch schlechter Stil, einfach hier draußen zu hocken und nichts zu tun. Da drin gibt es jede Menge Proviant, Wasser, Waffen und leider auch sehr viel Loyalität. Die können monatelang durchhalten. Monate, in denen Orsos Tochter, die Königin der Union, ihren zögerlichen Gatten vielleicht doch noch überzeugen kann, Hilfe zu schicken.« Monza fragte sich, ob es für diese Frage von Bedeutung war, dass der König erfahren hatte, wie viel lieber seine Gattin mit Frauen ins Bett stieg.
»Und was soll es daran ändern, wenn deine Leute in Scharen von den Mauern fallen?«, fragte Espe.
Cosca zuckte die Achseln. »Es macht die Verteidiger mürbe, gönnt ihnen keine Ruhe, verunsichert sie und lenkt sie von allen anderen Dingen ab, die wir vielleicht noch ausprobieren werden.«
»Ziemlich viele Tote für ein bisschen Ablenkung.«
»Ohne das wäre es keine.«
»Wie bekommst du die Leute dazu, dass sie überhaupt auf die Leitern steigen?«
»Sazines alter Trick.«
»Wie?«
Monza erinnerte sich, wie Sazine allen Neuen das Geld gezeigt hatte, in schimmernden Stapeln sortiert. »Wenn die Mauern fallen, dann bekommt der Erste unserer Männer, der auf der Brustwehr steht, tausend Waag. Die nächsten zehn erhalten noch jeweils hundert.«
»Immer vorausgesetzt, dass sie lange genug überleben, um die Belohnung einzuheimsen«, fügte Cosca hinzu. »Wenn die Aufgabe wirklich unmöglich ist, dann werden sie sich dieses Geld nie verdienen, und wenn doch, dann hat man für zweitausend Waag das Unmögliche geschafft. Dadurch gibt es einen ständigen Strom neuer Freiwilliger auf den Leitern, und es hat zusätzlich den Vorteil, dass man die tapfersten Männer der Kompanie erfolgreich ausmerzt.«
Espe sah nun noch verwirrter aus. »Wieso sollte man das denn wollen?«
»›Tapferkeit ist die Tugend eines toten Mannes‹«, zitierte Monza leise. »›Ein weiser Befehlshaber traut ihr nicht.‹«
»Verturio!« Cosca klopfte sich auf den Schenkel. »Ich liebe einen Autor, der dem Tod ein lustiges Gesicht verleihen kann! Tapfere Männer haben ihren Nutzen, aber sie sind verdammt unberechenbar. Sie machen die Herde nervös. Sie sind eine Gefahr für die Umstehenden.«
»Ganz zu schweigen davon, dass sie eine ernst zu nehmende Konkurrenz für den Befehlshaber darstellen könnten.«
»Von daher ist es am sichersten, sie abzuschöpfen«, erklärte Cosca, der diesen Vorgang mit einer nachlässigen Bewegung seiner Finger illustrierte. »Die etwas Feigeren taugen wesentlich besser als Soldaten.«
Espe schüttelte vor Abscheu den Kopf. »Ihr habt wirklich eine verdammt beschissene Art der Kriegsführung.«
»Man kann Kriege nicht auf nette Weise führen, mein Freund.«
»Du sprachst von einer Ablenkung«, unterbrach Monza sie.
»In der Tat.«
»Wovon?«
Ein lautes Zischen ertönte, und Monza sah im Augenwinkel eine Flamme. Einen kurzen Augenblick später spürte sie, wie die Hitze an ihrer Wange vorbeischoss. Sie fuhr herum, den Calvez schon fast aus der Scheide. Ischri lag ausgestreckt auf den Kisten hinter ihnen, räkelte sich wie eine alte Katze in der Sonne. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und ließ ein langes, dünnes, bandagiertes Bein von den Kisten baumeln.
»Können Sie nicht einfach ganz normal Hallo sagen?«, zischte Monza.
»Was wäre denn daran unterhaltsam?«
»Müssen Sie jede Frage mit einer Gegenfrage beantworten?«
Ischri legte eine Hand auf ihre umwickelte Brust, die schwarzen Augen weit geöffnet. »Wer? Ich?« Sie drehte etwas zwischen ihrem langen Zeigefinger und Daumen, ein kleines schwarzes Körnchen, und schleuderte es dann mit unglaublicher Zielgenauigkeit in die Laterne, die neben Espe stand. Ein Blitz und ein Zischen waren die Folge, das Glas zerplatzte, und Funken sprühten umher. Der Nordmann sprang hastig beiseite, fluchte und bürstete glimmende Funken von seiner Schulter.
»Ein paar von den Männern nennen es inzwischen Gurkhisenzucker.« Cosca leckte sich die Lippen. »Klingt auch für meine Ohren süßer als gurkhisisches Feuer.«
»Zwei Dutzend Fässer«, raunte Ischri, »die wir dem Propheten Khalul verdanken.«
Monza runzelte die Stirn. »Dafür, dass ich ihn nie getroffen habe, hat er uns aber sehr gern.«
»Noch besser.« Die dunkelhäutige Frau glitt schlangengleich von den Kisten; ihr Körper bewegte sich in Wellen voran, als habe er keine Knochen, und sie zog die Arme nach. »Er hasst Ihre Feinde.«
»Es gibt keine bessere Grundlage für ein Bündnis als eine gemeinsame Abneigung.« Cosca sah ihren Verrenkungen mit einem Gesichtsausdruck zu, der auf halbem Weg zwischen Misstrauen und Faszination lag. »Es ist eine kühne neue Zeit, mein Freund. Früher einmal musste man monatelang graben, Tunnel anlegen, Hunderte von Schritten lang, brauchte tonnenweise Holz zum Abstützen, musste dann den Tunnel mit Stroh und Öl vollstopfen, es anzünden und wie die Hölle davonrennen. Die Hälfte der Zeit genügte das nicht einmal, um die Mauern einstürzen zu lassen. So aber muss man nur noch einen Schacht bis unter die Fundamente ausheben, den Zucker hineinfüllen, einen Funken schlagen und …«
»Bumm«, säuselte Ischri, die sich auf die Zehen stellte und bis zu den Fingerspitzen reckte.
»Ka-wumm«, setzte Cosca hinzu. »So werden offenbar heutzutage Belagerungen durchgeführt, und wer wäre ich denn, dass ich einer solchen Entwicklung entgegentreten wollte …« Er bürstete sich ein wenig Staub von seiner Samtjacke. »Sesaria ist überragend, wenn es um den Bau von Minen geht. Er hat den Glockenturm von Gancetta einstürzen lassen, müsst ihr wissen. Ein bisschen vor dem vereinbarten Zeitpunkt, das muss man zugeben, und ein paar Männer sind dabei umgekommen. Hab ich euch je erzählt, wie …«
»Und wenn du die Mauern zum Einsturz bringst?«, unterbrach ihn Monza.
»Nun, dann werden unsere Männer durch die Bresche stürmen, die überraschten Verteidiger überwältigen, und der Äußere Hof gehört uns. In den Gartenanlagen dort finden wir genug ebenes Gelände, das wir nutzen können, und dort haben wir genug Platz, um unsere zahlenmäßige Überlegenheit einzusetzen. Die innere Mauer sollte sich routinemäßig mit Leitern, Blut und Gier überwinden lassen. Dann stürmen wir den Palast, na ja, und verfahren möglichst auf ganz althergebrachte Art. Ich bekomme meine Beute, und du bekommst …«
»Meine Rache.« Monza betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die gezackten Umrisse der Festung. Irgendwo dort drin war Orso. Nur ein paar Hundert Schritt entfernt. Vielleicht war es die Nacht, das Feuer, die berauschende Mischung aus Dunkelheit und Gefahr – in ihr keimte ein wenig von der Aufregung auf, die sie früher empfunden hatte. Diese wilde Wut, die sie gefühlt hatte, als sie aus dem verfallenen Haus des Knochendiebs geflüchtet und in den Regen gelaufen war. »Wie lange wird es dauern, bis die Mine fertig ist?«
Freundlich sah von seinen Würfeln auf. »Einundzwanzig Tage und sechs Stunden. Wenn sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen.«
»Wie schade.« Ischri schob die Unterlippe vor. »Ich liebe Feuerwerke doch so. Aber ich muss zurück in den Süden.«
»Hast du unsere Gesellschaft schon satt?«, fragte Monza.
»Mein Bruder wurde getötet.« Ihre schwarzen Augen zeigten keinerlei Gefühl. »Von einer Frau, die nach Rache dürstet.«
Monza runzelte die Stirn, unsicher, ob das spöttisch gemeint war oder nicht. »Diese verdammten Weiber finden immer einen Weg, um Schaden anzurichten, nicht wahr?«
»Und immer trifft es die falschen Leute. Mein Bruder ist der Glückliche, er ist bei Gott. Oder zumindest sagt man mir das. Es ist immer die übrige Familie, die leidet. Wir müssen nun umso härter arbeiten.« Sie schwang sich geschmeidig die Leiter hinab und ließ den Kopf zur Seite fallen. Befremdlich weit, bis ihr Kopf auf der obersten Stufe ruhte. »Versuchen Sie, sich nicht umbringen zu lassen. Ich möchte nicht, dass meine harte Arbeit hier umsonst war.«
»Oh ja, die Vergeudung Ihrer Arbeit wird mir die meisten Sorgen bereiten, wenn man mir die Kehle durchschneidet.« Schweigen folgte. Ischri war verschwunden.
»Sieht aus, als würden dir allmählich die tapferen Männer ausgehen«, ertönte Espes krächzende Stimme.
Cosca seufzte. »Wir hatten von Anfang an nicht allzu viele.« Die Überlebenden des Angriffs stolperten im flackernden Licht der Feuer weiter oben den felsigen Hang hinunter. Monza konnte gerade noch erkennen, wie die letzte Leiter umkippte, und vielleicht noch ein oder zwei kleine Punkte, die mit rudernden Armen und Beinen hinabstürzten. »Aber keine Sorge. Sesaria buddelt immer noch. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Styrien vereint sein wird.« Er zog einen kleinen Flachmann aus Metall aus einer Innentasche und schraubte den Verschluss auf. »Oder bis Orso Vernunft annimmt und mir genug anbietet, um wieder einmal die Seiten zu wechseln.«
Sie lachte nicht. Vielleicht sollte sie das auch gar nicht. »Vielleicht solltest du mal versuchen, bei der einen oder anderen Seite zu bleiben.«
»Wieso sollte das überhaupt jemand tun?« Cosca hob sein Fläschchen, nahm einen Schluck und schmatzte zufrieden. »Es ist Krieg. Da gibt es keine richtige Seite.«