TALINS
»Rache ist ein Gericht,
das man kalt verzehrt.«
PIERRE CHODERLOS DE LACLOS
Rogont von Ospria erschien zu spät am Schlachtfeld von Föhrengrund, aber Salier von Visserine verließ sich zu sehr auf seine zahlenmäßige Überlegenheit und war zu stolz, um den Rückzug anzutreten. Zumal der Feind von einer Frau befehligt wurde. Er kämpfte, er verlor, musste sich schließlich doch zurückziehen und ließ die Stadt Caprile schutzlos zurück. Um die sichere Erstürmung mit Feuer und Schwert zu vermeiden, öffneten die Bürger der Stadt die Tore für die Schlange von Talins und hofften auf Erbarmen.
Monza ritt in die Stadt, ließ aber den Großteil ihrer Männer draußen. Orso hatte sich mit den Baoliten verbündet und sie überzeugt, unter ihren ausgefransten Standarten an der Seite der Tausend Klingen zu kämpfen. Harte Kämpfer, die allerdings einen sehr blutigen Ruf genossen. Monza hatte ebenfalls einen sehr blutigen Ruf, und gerade deswegen vertraute sie den Baoliten noch weniger.
»Ich liebe dich.«
»Sicher tust du das.«
»Ich liebe dich, aber lass die Baoliten nicht in die Stadt, Benna.«
»Du kannst mir vertrauen.«
»Ich vertraue dir. Lass die Baoliten nicht in die Stadt.«
Als die Sonne unterging, ritt sie drei Stunden zurück zum Schlachtfeld bei Föhrengrund mit seinen verwesenden Toten, um mit Herzog Orso zu speisen und seine Pläne für den Abschluss des Feldzugs In Erfahrung zu bringen.
»Gnade gegenüber den Bürgern von Caprile, wenn sie sich mir vollständig ergeben, Entschädigungszahlungen leisten und mich als ihren rechtmäßigen Regenten anerkennen.«
»Gnade, Euer Exzellenz?«
»Sie wissen doch, was das ist, oder?« Sie wusste, was es war. Sie hatte nur nicht erwartet, dass er es wusste. »Ich will ihr Land, nicht ihr Leben. Tote können nicht gehorchen. Sie haben hier einen ruhmreichen Sieg errungen. Sie sollen einen großen Triumphzug durch die Straßen von Talins bekommen.«
Das würde zumindest Benna gefallen. »Euer Exzellenz, Sie sind zu gütig.«
»Ha. Da würden Ihnen wohl die wenigsten zustimmen.«
Sie lachte, als sie im kühlen Morgengrauen zurückritt, und der Getreue lachte neben ihr. Sie sprachen darüber, wie fruchtbar der Boden hier an den Ufern der Capra war, und betrachteten den guten Weizen, der im Wind wogte.
Dann sah sie den Rauch über der Stadt, und sie wusste Bescheid.
Die Straßen waren voller Toter. Männer, Frauen, Kinder, junge und Alte. Die Vögel pickten an ihnen. Die Fliegen summten. Ein verwirrter Hund humpelte neben ihren Pferden her. Kein anderes lebendes Wesen zeigte sich. Leere Fenster klafften, leere Eingänge gähnten. Noch immer brannten Feuer, ganze Häuserreihen waren nur noch Asche und schwankende Kamine.
Noch am Abend eine gedeihende Stadt, jetzt, am Morgen, war Caprile die Wirklichkeit gewordene Hölle.
Offenbar hatte Benna nicht zugehört. Die Baoliten hatten angefangen, aber der Rest der Tausend Klingen – betrunken, wütend und voller Angst, selbst nicht genug von der leichten Beute abzubekommen – hatte sofort mitgemacht. Dunkelheit und dunkle Gesellschaft machte es auch für halbwegs anständige Männer leicht, sich wie Tiere aufzuführen, und es gab nur wenige halbwegs anständige Männer unter dem Abschaum, den Monza befehligte. Die Bande der Zivilisation fesseln nicht so stark, wie zivilisierte Menschen gern glauben wollen. Sie können sich so schnell auflösen wie Rauch im Wind.
Monza sprang von ihrem Pferd und spie Herzog Orsos gutes Frühstück auf das trümmerübersäte Pflaster.
»Es ist nicht deine Schuld», sagte der Getreue, der ihr eine große Hand auf die Schulter legte.
Sie schüttelte sie ab. »Das weiß ich.« Aber ihr rebellierender Magen sagte ihr etwas anderes.
»Wir leben in den Blutigen Jahren, Monza. Wir sind nun einmal so.«
Die Stufen des Hauses empor, das sie bezogen hatten, die Zunge rau vor Kotze. Benna lag fest schlafend im Bett, die Spreupfeife nahe bei der Hand. Sie zerrte ihn hoch, und er kreischte auf, als sie ihn schüttelte.
»Lass sie nicht in die Stadt, habe ich dir gesagt!« Und sie schleppte ihn ans Fenster und zwang ihn, auf die Straße mit ihren Blutlachen hinauszublicken.
»Ich habe das nicht gewusst! Ich habe es Victus gesagt … glaube ich …« Er sank zu Boden und weinte, und ihr Zorn verrauchte und hinterließ eine große Leere. Ihre Schuld, dass sie ihm den Befehl übergeben hatte. Sie konnte ihm nicht die Verantwortung zuschieben. Er war ein guter Mann, eine empfindsame Seele, und hätte das nicht ertragen. Sie konnte nichts anderes tun, als sich neben ihn zu knien, ihn in die Arme zu nehmen und ihm beruhigende Worte zuzuflüstern, während vor dem Fenster die Fliegen schwirrten.
»Orso möchte uns zu Ehren einen großen Triumphzug veranstalten …«
Wenig später machten die Gerüchte die Runde. Die Schlange von Talins hatte das Gemetzel an jenem Tag befohlen. Hatte die Baoliten angestachelt und nach mehr geschrien. Die Schlächterin von Caprile nannte man sie nun, und sie konnte es nicht leugnen. Die Leute glaubten viel eher eine grelle Lüge als an eine traurige Verkettung unglücklicher Umstände. Glaubten viel eher daran, die Welt sei böse, als an unglückliche Zufälle, Selbstsucht und Dummheit. Davon abgesehen hatten die Gerüchte auch ihre Vorteile. Sie wurde mehr gefürchtet denn je, und Furcht war nützlich.
In Ospria verurteilte man sie. In Visserine verbrannte man ihr Bild. In Affoia und Nicante winkte demjenigen, der sie töten würde, eine große Summe. An allen Ufern der Blauen See läutete man die Glocken, als man von ihrer schrecklichen Tat erfuhr. Aber in Etrisani wurde gefeiert. In Talins versammelten sich die Leute in den Straßen, riefen ihren Namen und streuten Blütenblätter. In Cesale wurde ihr zu Ehren eine Statue aufgestellt. Eine geschmacklose Figur mit Goldbesatz, der bald schon abblätterte. Sie und Benna, wie sie niemals ausgesehen hatten, auf großen Pferden und kühnen Blickes einer edlen Zukunft zugewandt.
Das war der Unterschied zwischen einem Helden und einem Schurken, einem Soldaten und einem Mörder, einem Sieg und einem Verbrechen. Welche Seite des Flusses man sein Zuhause nannte.