SECHS UND EINS

Die Würfel zeigten eine Sechs und eine Eins. Die höchste Zahl, die ein Würfel anzeigen kann, und die niedrigste. Eine passende Beurteilung für Freundlichs Leben. Von den tiefen Abgründen des Schreckens zu den Höhen des Triumphs. Und zurück.

Sechs und eins ergaben sieben. Freundlich war sieben Jahre alt gewesen, als er sein erstes Verbrechen begangen hatte. Aber erst sechs Jahre später wurde er zum ersten Mal geschnappt und auch zum ersten Mal verurteilt. Sie schrieben seinen Namen zum ersten Mal in das große Buch, und er verdiente sich die ersten Tage in der Sicherheit. Er hatte gestohlen, das wusste er, obwohl er sich kaum daran erinnerte, was er geklaut hatte. Und schon gar nicht, weshalb. Seine Eltern hatten hart gearbeitet, um ihm alles zu geben, was er brauchte. Und trotzdem stahl er. Manche Männer sind vielleicht dazu geboren, Unrecht zu tun. Jedenfalls hatten die Richter das gesagt.

Er suchte die Würfel zusammen, schüttelte sie in seiner Faust und ließ sie dann wieder gegen die Steine kugeln, sah ihnen beim Rollen zu. Immer mit derselben Freude, derselben Anspannung. Würfel können einfach alles sein, bis sie aufhören zu rollen. Er sah ihnen bei ihren Überschlägen zu, Glück, Pech, Möglichkeiten, sein Leben und das des Nordmanns. Alle Leben in der großen Stadt Talins drehten sich mit ihnen.

Sechs und eins.

Freundlich lächelte, jedenfalls ein wenig. Die Wahrscheinlichkeit, noch ein zweites Mal eine Sechs und eine Eins zu würfeln, stand eins zu achtzehn. Unwahrscheinlich, hätten wohl einige gesagt, wenn sie einen Blick in die Zukunft taten. Aber wenn man in die Vergangenheit sah, so wie er jetzt, dann konnte es gar keine anderen Zahlen geben. Was würde kommen? Da gab es stets zahllose Möglichkeiten. Und was war mit dem, was schon passiert war? Geschehen, verhärtet, wie Teig, aus dem Brot geworden war. Da gab es kein Zurück.

»Was sagen die Würfel?«

Freundlich sah auf, während er die Würfel mit der Handkante zusammenschob. Dieser Espe war ein ziemlich großer Kerl, aber ohne diese Schlaksigkeit, die hochgewachsene Männer manchmal an sich haben. Stark. Aber nicht so wie ein Bauer oder ein Arbeiter. Nicht langsam. Er verstand sich auf diese Arbeit. Es gab kleine Hinweise darauf, und Freundlich wusste sie alle zu deuten. In der Sicherheit musste man es verstehen, die Bedrohung zu berechnen, die ein Mann im nächsten Augenblick bedeuten kann. Berechnen und abwehren, ohne auch nur zu blinzeln.

Ein Soldat vielleicht, der in Schlachten gekämpft hatte, nach seinen Narben und seinem Gesichtsausdruck zu urteilen – und nach dem Ausdruck seiner Augen, mit dem er jetzt darauf wartete, eine Gewalttat zu verüben. Er fühlte sich nicht wohl dabei, aber er war bereit. Der würde nicht abhauen oder durchdrehen. Solche Männer waren selten, Männer, die einen kühlen Kopf bewahrten, wenn der Ärger richtig losging. Er hatte eine Narbe am linken Handgelenk, die, wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtete, wie eine Sieben aussah. Sieben war heute eine gute Zahl.

»Würfel sagen gar nichts. Sie sind Würfel.«

»Wieso wirfst du sie dann?«

»Es sind Würfel. Was sollte ich denn sonst mit ihnen machen?«

Freundlich schloss die Augen, drückte die Faust um die Würfel zusammen und führte sie dann an seine Wange, und er spürte ihre warmen, gerundeten Kanten an seiner Handfläche. Welche Zahlen hielten sie nun für ihn bereit, welche Zahlen warteten als Nächste darauf, freigelassen zu werden? Wieder sechs und eins? Ein Funke Aufregung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein drittes Mal sechs und eins geworfen wurden, lag bei dreihundertvierundzwanzig zu eins. Dreihundertvierundzwanzig war die Zahl der Zellen in der Sicherheit gewesen. Ein gutes Omen.

»Sie sind da«, flüsterte der Nordmann.

Sie waren zu viert. Drei Männer und eine Hure. Freundlich hörte das leise Klingeln ihrer Nachtglocke in der kühlen Luft, und einer der Männer lachte. Sie waren betrunken, formlose Umrisse, die durch die dunkle Gasse stolperten. Die Würfel würden warten müssen.

Er seufzte, wickelte sie vorsichtig in ein weiches Tuch, einmal, zweimal, dreimal, und versenkte sie fest und sicher in der Dunkelheit seiner Innentasche. Er wünschte sich, auch er läge fest und sicher irgendwo in der Dunkelheit, aber die Dinge waren nun einmal anders. Es gab kein Zurück. Er stand auf und wischte sich den Straßendreck von den Knien.

»Wie lautet der Plan?«, fragte Espe.

Freundlich zuckte die Achseln. »Sechs und eins.«

Er zog die Kapuze über den Kopf und ging los, vornübergebeugt, die Hände tief in den Taschen vergraben. Das Licht von einem weit oben gelegenen Fenster fiel auf die Gruppe, als sie sich näherte. Vier groteske Karnevalsmasken, in denen trunkenes Lachen geschrieben stand. Der dicke Kerl in der Mitte hatte ein weiches Gesicht, scharfe kleine Augen und ein gieriges Grinsen. Die bemalte Frau schlingerte auf ihren hohen Schuhen neben ihm her. Der Mann zur Linken, schlank und bärtig, warf ihr ein verächtliches Lächeln zu. Der rechte wischte sich eine Lachträne von seiner grauen Wange.

»Und was kam dann?«, kreischte er durch seine gurgelnden Laute hindurch, viel lauter, als nötig gewesen wäre.

»Was glaubst du denn? Ich hab ihn getreten, bis er sich in die Hosen geschissen hat.« Noch mehr Lachsalven, und das Falsett der Frau setzte einen schwankenden Kontrapunkt zum Bass des Dicken. »Ich hab ihm gesagt, Herzog Orso mag Männer, die ja sagen, du lügender …«

»Gobba?«, fragte Freundlich.

Sein Kopf fuhr herum, und das Lächeln glitt von seinem Gesicht. Freundlich hielt inne. Von der Stelle, wo er mit den Würfeln gespielt hatte, war er nun einundvierzig Schritte entfernt. Sechs und eins waren sieben. Sieben mal sechs war zweiundvierzig. Wenn man den einen abzog …

»Wer bist du?«, knurrte Gobba.

»Sechs und eins.«

»Was?« Der Mann rechts neben Gobba versuchte, Freundlich mit einer trunkenen Geste aus dem Weg zu schieben. »Verpiss dich, du blödes Arsch …«

Das Beil schlug ihm den Kopf bis zur Nasenwurzel entzwei. Noch bevor sein linker Kumpel den Mund aufklappen konnte, war Freundlich schon über die Straße gehastet und hatte ihm das Messer in den Bauch gerammt. Fünf Mal fuhr ihm die lange Klinge in die Gedärme, dann trat Freundlich zurück und schlitzte ihm mit der Rückhand die Kehle auf, trat ihm die Beine weg und kippte ihn aufs Pflaster.

Eine kleine Pause folgte, in der Freundlich ausatmete. Der erste Mann lag mit einer großen Wunde in seinem Schädel da; Spritzer seines Gehirns verklebten seine schielenden Augen. Der andere hatte die fünf Stichwunden abbekommen, und Blut sprudelte aus seiner durchgeschnittenen Kehle.

»Gut«, sagte Freundlich. »Sechs und eins.«

Die Hure begann zu schreien. Ihre gepuderte Wange zierten ein paar Tropfen dunklen Bluts.

»Du bist ein toter Mann!«, brüllte Gobba, stolperte einen Schritt zurück und zog ein schimmerndes Messer aus seinem Gürtel. »Ich bring dich um!« Aber er griff nicht an.

»Wann denn?«, fragte Freundlich. »Morgen?«

»Ich werde …«

Espes Stock krachte von hinten auf Gobbas Schädel. Ein guter Schlag, direkt auf die richtige Stelle. Seine Knie knickten ein, als seien sie aus Papier. Er brach zusammen, die schlaffe Wange klatschte aufs Pflaster, und das Messer fiel dem Bewusstlosen aus der Hand.

»Nicht morgen. Niemals.« Der Schrei der Frau drang abgehackt in die Luft. Freundlich blickte zu ihr hinüber. »Wieso haust du nicht ab?« Sie floh in die Dunkelheit, schwankend auf den hohen Schuhen, und ihr wimmernder Atem hallte durch die Straße, während das Klingeln ihres Nachtglöckchens ihre Flucht begleitete.

Espe betrachtete die beiden bluttriefenden Leichen auf der Straße. Zwei Blutlachen suchten sich ihren Weg durch die Fugen zwischen den Pflastersteinen, berührten sich, vermischten sich, wurden zu einer. »Bei den Toten«, murmelte er in seiner nordischen Muttersprache.

Freundlich zuckte die Achseln. »Willkommen in Styrien.«