DER KÖNIG DER GIFTE

»Meister?«, ertönte Days hohe Stimme. »Sind Sie wach?« Morveer stieß einen angespannten Seufzer aus. »Der gnädige Schlaf hat mich aus seiner sanften Umarmung entlassen … hinein in die eisigen Arme einer gefühllosen Welt.«

»Was?«

Er wischte ihre Frage mit einer bitteren Handbewegung weg. »Egal. Meine Worte fallen wie Samen … auf steinernen Boden.«

»Sie haben gesagt, dass ich Sie bei Morgengrauen wecken sollte.«

»Morgengrauen? Oh, du harte Herrin!« Er warf die dünne Decke beiseite und erhob sich mühsam von dem pieksenden Stroh, ein wahrlich bescheidenes Lager für einen Mann seiner beispiellosen Fähigkeiten. Steifbeinig kletterte er die Leiter vom Scheunenboden hinab. Für eine Übernachtung im Heu, das musste er sich eingestehen, zählte er inzwischen zu viele Jahre und war zudem längst von viel zu ausgewähltem Geschmack.

Day hatte den Apparat während der dunklen Stunden aufgebaut und nun, da das erste blutleere Licht des Morgens durch die schmalen Fenster sickerte, auch schon die Brenner angezündet. Die Reagenzien köchelten lebhaft, Dampf entwich gleichmütig in die Luft, Destillate tröpfelten fröhlich in die Sammelkolben. Morveer umrundete den notdürftig hergerichteten Tisch, schlug mit den Knöcheln im Vorbeigehen gegen das Holz und ließ die Gläser klappern und rasseln.

Alles schien genau richtig aufgestellt worden zu sein. Day hatte ihr Geschäft von einem Meister gelernt, vielleicht sogar vom größten Giftmischer im ganzen weiten Weltenrund, wer konnte das schon sagen? Aber selbst der Anblick derart guter Arbeit war nicht geeignet, Morveer aus seiner trübsinnigen Stimmung reißen.

Er blies die Backen auf und seufzte müde. »Niemand versteht mich. Ich bin dazu verdammt, missverstanden zu werden.«

»Sie sind ein sehr komplexer Mensch«, sagte Day.

»Ganz genau! Genau! Du hast es erkannt!« Vielleicht war sie die Einzige, die zu schätzen wusste, dass unter seinem strengen und gebieterischen Äußeren Gefühlsreserven von der Tiefe eines Bergsees schlummerten.

»Ich habe Tee gekocht.« Sie hielt ihm einen eingebeulten Metallbecher hin, aus dem sich Dampf hervorringelte. Sein Magen knurrte unangenehm.

»Nein. Ich bin für deine nette Fürsorge sehr dankbar, aber dennoch nein. Meine Verdauung ist heute Morgen ein wenig in Aufruhr, ein wenig mehr sogar.«

»Hat unsere gurkhisische Besucherin Sie nervös gemacht?«

»Absolut und überhaupt gar nicht«, log er und unterdrückte ein Schaudern bei dem bloßen Gedanken an diese Mitternachtsaugen. »Meine Magenverstimmung hat ihre Ursache in den ständigen Meinungsverschiedenheiten mit unserer Dienstherrin, der berüchtigten Schlächterin von Caprile, der stets widersprechenden Murcatto! Ich finde einfach nicht die richtige Art, mit dieser Frau zurechtzukommen! Ganz gleich, wie herzlich ich ihr gegenüber bin, ganz gleich, wie rein meine Absichten sein mögen, sie nimmt mir alles übel

»Sie ist ein bisschen schwierig, das stimmt.«

»Nach meiner Ansicht ist sie mehr als nur schwierig, nämlich schon deutlich … gehässig«, beendete er lahm den Satz.

»Nun ja, dieser Verrat, der Sturz von der Felswand, der Verlust ihres Bruders und all das …«

»Das sind bestenfalls Erklärungen, keine Entschuldigungen! Wir alle haben schmerzvolle Niederlagen erfahren! Ich muss zugeben, dass ich beinahe versucht bin, sie ihrem unvermeidlichen Schicksal zu überlassen und mir eine neue Anstellung zu suchen.« Er schnaubte vor Lachen, als ihm ein Gedanke kam. »Bei Herzog Orso vielleicht!«

Day sah ruckartig auf. »Sie machen Witze.«

Es hatte tatsächlich nur eine lustige Bemerkung sein sollen, denn Castor Morveer war nicht der Mann, der einen Dienstherrn im Stich ließ, wenn er einmal einen Kontrakt angenommen hatte. Schließlich musste man sich an bestimmte Verhaltensgrundsätze halten, in seinem Geschäft sogar noch mehr als in anderen Berufen. Aber es amüsierte ihn, diese Idee weiterzuspinnen und die einzelnen Punkte an seinen ausgestreckten Fingern abzuzählen. »Ein Mann, der sich meine Dienste zweifelsohne leisten kann. Ein Mann, der meine Dienste zweifelsohne benötigt. Ein Mann, der bewiesen hat, dass er sich nicht im Geringsten von lästigen moralischen Bedenken aufhalten lässt.«

»Ein Mann, von dem es bekannt ist, dass er seine Leute Felswände hinunterstürzt.«

Morveer tat ihren Einwand ab. »Man sollte nie so dumm sein, einem Menschen zu vertrauen, der einen Giftmischer in seine Dienste nimmt. In dieser Hinsicht ist er nicht schlimmer als jeder anderer Dienstherr auch. Im Grunde ist es wirklich ein Wunder, dass mir dieser Gedanke nicht schon früher gekommen ist!«

»Aber … wir haben seinen Sohn getötet.«

»Pah! Für solche Kleinigkeiten findet sich schon eine Erklärung, wenn zwei Männer feststellen, dass sie einander wirklich brauchen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da kann man sich ja etwas ausdenken. Irgendein elender Sündenbock lässt sich immer finden, dem man die Schuld an der Sache geben kann.«

Sie nickte langsam, den Mund fest zusammengekniffen. »Ein Sündenbock. Natürlich.«

»Ein elender Sündenbock.« Ein verstümmelter Nordmann weniger auf der Welt würde keinen großen Verlust bedeuten. Und auch einen verrückten Sträfling oder ein Luder mit Foltererfahrung würde wohl niemand groß vermissen. Allmählich konnte er sich für die Vorstellung beinahe selbst erwärmen. »Aber dennoch denke ich, im Augenblick sind wir hier an Murcatto und ihre sinnlose Gier nach Rache gebunden. Rache. Du meine Güte, gibt es überhaupt einen Beweggrund, der sinnloser, zerstörerischer oder unbefriedigender wäre?«

»Ich dachte, Beweggründe gingen uns nichts an«, bemerkte Day, »nur der Auftrag und die Bezahlung.«

»Das ist korrekt, meine Liebe, äußerst korrekt; jeder Beweggrund, der unsere Dienste erfordert, ist völlig rein. Wie immer siehst du ganz bis auf den Grund dieser Sache, als sei sie ganz und gar durchsichtig. Was täte ich nur ohne dich?« Lächelnd trat er näher an das Gestell heran. »Wie geht es mit unseren Vorbereitungen voran?«

»Oh, ich weiß, was ich zu tun habe.«

»Gut. Sehr gut. Natürlich weißt du das. Du hast von einem Meister gelernt.«

Sie neigte den Kopf. »Und ich habe mir jede Lektion gut eingeprägt.«

»Wirklich hervorragend.« Er beugte sich vor und schüttelte einen Kolben ein wenig, dann sah er zu, wie die Larync-Essenz langsam in die Retorte tropfte. »Es ist lebenswichtig, ausreichend und für jede Eventualität vorbereitet zu sein. Vorsicht steht natürlich immer an erster Stel… ah!« Irritiert sah er auf seinen Unterarm. Ein kleiner roter Tropfen bildete sich dort und wurde zu einem Blutfleck. »Was …« Day rückte langsam von ihm ab, und ein Ausdruck äußerst seltsamer Intensität lag auf ihrem Gesicht. Sie hielt eine aufgesteckte Nadel in der Hand.

»Sie brauchen jemanden, der die Schuld bekommt?«, fauchte sie ihn an. »Ich bin dann wohl der Sündenbock, was? Fick dich doch, du Arschloch!«

 

»Komm schon, komm schon, komm schon.« Der Getreue war schon wieder pinkeln, stand neben seinem Pferd, drehte Espe den Rücken zu und bewegte die Knie ein wenig. »Komm schon, komm schon. Das ist das verdammte Alter, das sich jetzt bei mir bemerkbar macht, das ist alles.«

»Das oder deine dunklen Taten«, meinte Swolle.

»Ich habe nichts so Verwerfliches getan, dass ich diesen Scheiß hier verdient hätte, das steht mal fest. Man hat das Gefühl, man müsste so sehr wie noch nie in seinem Leben, und wenn man dann endlich den Schwanz rausholt, dann steht man eine Ewigkeit im Wind und ah … ah … ah … na endlich, geht doch!« Er lehnte sich leicht zurück und zeigte dabei die große kahle Stelle auf seinem Kopf. Ein kurzes Plätschern, dann noch eins und noch eins, dann bewegte er die Schultern, als würde er die Tropfen abschütteln, und knöpfte sich wieder zu.

»Mehr war nicht?«, fragte Swolle.

»Was geht es dich an?«, fragte der General barsch. »Wolltest du es auf Flaschen ziehen? Das Alter macht sich bei mir bemerkbar, das ist alles.« Leicht vornübergebeugt mühte er sich den Hang hinauf, hielt dabei den schweren roten Mantel mit einer Hand hoch, damit er nicht im Dreck schleifte, und hockte sich schließlich neben Espe. »Also dann. Das ist das Haus?«

»Das ist es.« Der Hof lag am Ende einer offenen Koppel inmitten eines Meers aus grauem Weizen und unter dem grauen Himmel, dessen Wolken allmählich von der wässrigen Morgendämmerung erhellt wurden. Schwaches Licht drang durch die schmalen Fenster der Scheune, aber andere Anzeichen von Leben gab es nicht. Espe rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Bisher hatte er sich kaum jemals in Verrat geübt.

Jedenfalls noch nie in derart offensichtlichem, und das machte ihn nervös.

»Sieht doch ganz friedlich aus.« Der Getreue ließ die Hand langsam über seine weißen Bartstoppeln gleiten. »Swolle, du nimmst dir ein Dutzend Männer und verziehst dich außer Sicht in das kleine Wäldchen dort hinten, du übernimmst die Flanke. Wenn sie uns sehen und flüchten wollen, kannst du ihnen den Rest geben.«

»In Ordnung, General. Schlicht und einfach, was?«

»Es gibt nichts Schlimmeres, als zu ausführlich zu planen. Je mehr man im Kopf behalten muss, desto größer ist die Möglichkeit, dass was danebengeht. Ich muss dir ja wohl nicht sagen, dass du die Sache auf keinen Fall versauen solltest, oder, Swolle?«

»Ich? Auf keinen Fall, General. Wir verschanzen uns in den Bäumen, und wenn jemand auf uns zugerannt kommt, dann greifen wir an. Genau wie am Hohen Ufer.«

»Nur mit dem Unterschied, dass Murcatto jetzt auf der anderen Seite ist, klar?«

»Klar. Diese verdammte, bösartige Schlampe.«

»Na, na«, brummte der Getreue. »Zeig mal ein wenig mehr Respekt. Du warst damals gern bereit, sie zu bejubeln, als sie dir Siege geschenkt hat, da solltest du auch jetzt ein wenig Achtung für sie übrighaben. Es ist eine Schande, dass es zu all dem kommen musste. Sonst nichts. Das heißt nicht, dass man keinen Respekt haben sollte.«

»In Ordnung. Entschuldigung.« Swolle hielt kurz inne. »Wäre es nicht besser, wenn wir versuchten, uns zu Fuß dort hinzuschleichen? Ich meine, wir können ja wohl schlecht ins Bauernhaus hineinreiten, oder?«

Der Getreue warf ihm einen langen Blick zu. »Hat man vielleicht einen neuen Generalhauptmann gewählt, als ich gerade nicht da war, und ist dabei auf dich gekommen?«

»Nein, natürlich nicht, ich dachte nur …«

»Anschleichen ist nicht mein Stil, Swolle. Und da ich weiß, wie oft du dich wäschst, wäre es äußerst wahrscheinlich, dass Murcatto dich verdammt noch mal riechen würde, bevor wir auch nur auf hundert Schritte herangekommen und bereit zum Angriff wären. Nein, wir reiten hinunter und ersparen meinen Knien den langen Weg. Wir können immer noch absteigen, wenn wir die Gebäude in Augenschein genommen haben. Und falls sie ein paar Überraschungen für uns bereithält, dann begegne ich denen lieber im Sattel.« Er warf Espe einen Seitenblick zu. »Siehst du da ein Problem, mein Junge?«

»Ich nicht.« Nach dem, was Espe bisher gesehen hatte, hielt er den Getreuen für einen dieser Männer, die einen guten Stellvertreter, aber keinen guten Häuptling abgaben. Viel Mumm, aber keine Fantasie. Es sah ganz so aus, als hätte er sich über die Jahre an eine Vorgehensweise gewöhnt und wandte sie nun überall an, ob sie sich nun für die bevorstehende Aufgabe eignete oder nicht. Aber er hütete sich, so etwas zu äußern. Starke Anführer sind gelegentlich erfreut, wenn jemand ihnen eine bessere Idee vorschlägt, schwache sind es nie. »Wie sieht’s denn aus, bekomme ich jetzt meine Axt zurück?«

Der Getreue grinste. »Na klar. Sobald ich Murcattos Leiche gesehen habe. Und jetzt los.« Beinahe fiel er über seinen Mantel, als er sich zu den Pferden umwandte, zerrte den Stoff verärgert hoch und warf ihn sich über die Schulter. »Verdammtes Ding. Ich wusste, ich hätte mir einen kürzeren besorgen sollen.«

Espe warf einen letzten Blick auf das Gehöft, als er ihm folgte, und schüttelte den Kopf. Es gab nichts Schlimmeres, als zu ausführlich zu planen, das stimmte. Aber fast ebenso schlimm war es, zu wenig zu planen.

 

Morveer blinzelte. »Aber …« Er machte einen langsamen Schritt auf Day zu. Sein Knöchel gab nach, und er rutschte seitlich gegen den Tisch, warf einen Flakon um und verschüttete den zischenden Inhalt über das Holz. Mit einer Hand griff er sich an die Kehle, und seine Haut lief rot an und brannte. Ihm war bereits klar, was sie getan hatte, und die Erkenntnis fuhr ihm wie Eis durch die Adern. Er wusste, was nun kommen musste. »Der König …«, röchelte er, »der Gifte?«

»Was sonst? Vorsicht steht immer an erster Stelle.«

Er verzog das Gesicht vor Schmerz, der weniger durch den winzigen Stich auf seinem Arm verursacht wurde, sondern vielmehr durch die weit größere Wunde bitteren Verrats tief in seinem Innern. Er hustete, fiel vornüber auf die Knie, streckte die Hand zitternd nach oben. »Aber …«

Day trat seine Hand mit der Schuhspitze weg. »Dazu verdammt, missverstanden zu werden?« Ihr Gesicht war verzerrt vor Verachtung. Sogar vor Hass. Die angenehme Maske des Gehorsams war gefallen. »Was glauben Sie, ist an Ihnen überhaupt zu verstehen, Sie eingebildeter Parasit? Sie sind so dünn wie Löschpapier!« Das war der tiefste Schlag von allen – Undank, nach all dem, was er ihr gegeben hatte! Sein Wissen, sein Geld, seine … väterliche Zuneigung! »Ein kleinkindhaftes Selbst im Körper eines Mörders! Unterdrücker und Feigling in einem. Castor Morveer, der größte Giftmischer aller Zeiten? Der größte Langweiler aller Zeiten vielleicht, Sie …«

Er sprang mit vollendeter Gelenkigkeit vor und ritzte ihr dabei mit seinem Skalpell den Knöchel, dann rollte er sich unter den Tisch und stand auf der anderen Seite wieder auf, wo er sie durch den komplizierten Apparat hindurch angrinste, durch die flackernden Flammen der Brenner, die verzerrenden Formen der gebogenen Röhren, die schimmernden Oberflächen von Glas und Metall.

»Ha, ha!«, rief er, völlig bei sich und überhaupt nicht sterbend. »Du und mich vergiften? Der große Castor Morveer, erledigt von seiner Assistentin? Wohl kaum!« Sie starrte auf ihren blutenden Knöchel und blickte ihn dann mit geweiteten Augen an. »Es gibt keinen König der Gifte, du Närrin!«, gackerte er.

»Diese Methode, die ich dir zeigte und die eine Flüssigkeit hervorbringt, die wie Wasser riecht, schmeckt und aussieht? Es ist Wasser! Völlig harmlos! Im Gegensatz zu der Verbindung, mit der ich dich gerade geritzt habe und die genügen sollte, um zwölf Pferde umzubringen!«

Er ließ die Hand in sein Hemd gleiten, suchte mit geschickten Fingerspitzen die richtige Phiole und hielt sie ans Licht. Eine klare Flüssigkeit glitzerte darin. »Das Gegengift.« Sie erbleichte, als sie es sah, tat so, als wolle sie auf einer Seite um den Tisch stürmen, und nahm dann die andere, aber ihre Füße waren ungeschickt, und er konnte ihr mühelos ausweichen. »Höchst würdelos, meine Liebe! Da jagen wir uns gegenseitig um unseren Apparat, in einer Scheune irgendwo in der styrischen Provinz! Wie fürchterlich würdelos!«

»Bitte«, zischte sie. »Bitte, ich … ich …«

»Mach es für uns beide jetzt nicht auch noch peinlich! Du hast deinen wahren Charakter gezeigt, du … du undankbare Harpyie! Du wurdest enttarnt, du betrügerischer Kuckuck

»Ich wollte nur nicht die Schuld für alles bekommen! Murcatto hat gesagt, dass Sie früher oder später zu Orso überlaufen würden! Dass ich dann der Sündenbock sein würde! Murcatto hat gesagt …«

»Murcatto? Du glaubst Murcatto mehr als mir? Dieser degenerierten, spreusüchtigen und blutrünstigen Schlächterin der verdammten Kriegszüge? Oh rühmenswertes Licht, das mich führt! Nenne mich verrückt, dass ich auch nur einer von euch beiden je vertraut habe! Wie es scheint, hattest du recht damit, als du mich mit einem Säugling verglichen hast. Ich bin die unverdorbene Unschuld! Voll unverdienten Erbarmens!« Damit warf er Day die Phiole zu. »Damit man mir nie nachsagen kann«, fuhr er fort, während er zusah, wie Day im Stroh nach dem Fläschchen suchte, »dass ich nicht«, sie hatte es gefunden und riss den Stopfen heraus, »ebenso großzügig, gnädig und vergebungsvoll sei wie jeder andere Giftmischer«, nun trank sie hastig den Inhalt, »auf dem gesamten Weltenrund.«

Day wischte sich den Mund und holte erschauernd Luft. »Wir müssen … reden.«

»Ganz sicher. Aber nicht lange.« Sie blinzelte, dann erfasste ein seltsamer Krampf ihr Gesicht. Genau, wie er berechnet hatte. Er rümpfte die Nase, als er sein Skalpell klappernd auf den Tisch warf. »Die Klinge war nicht vergiftet, aber du hast gerade eine Phiole voller unverdünnter Leopardenblume getrunken.«

Sie brach zusammen, verdrehte die Augen, die Haut färbte sich rosa, dann zuckte sie auf dem Stroh hin und her, und Schaum bildete sich auf ihren Lippen.

Morveer trat vor, beugte sich über sie, bleckte die Zähne und legte ihr einen klauenartigen Finger auf die Brust. »Mich umbringen, ja? Mich vergiften? Castor Morveer?« Die Absätze ihrer Schuhe trommelten einen schnellen Rhythmus auf der festgestampften Erde und ließen kleine Wölkchen Strohstaub aufsteigen. »Ich bin der einzige König der Gifte, du … du kindgesichtige Närrin!« Aus ihrem wilden Zucken wurde ein verkrampftes Zittern, und sie bäumte sich auf, den Rücken unmöglich weit durchgestreckt. »Diese Unverschämtheit! Diese Arroganz! Diese Beleidigung ! Diese, diese, diese …« Er suchte atemlos nach dem richtigen Wort, dann merkte er, dass sie tot war. Ein langes, zähes Schweigen folgte, als sich ihr Leichnam allmählich entspannte.

»Scheiße!«, brüllte er. »Verdammte Scheiße!« Die winzige Befriedigung über seinen Sieg verging bereits wieder wie ein unzeitgemäßes Schneetreiben an einem warmen Tag, und ihm folgte die niederschmetternde Enttäuschung über den schmerzenden Verrat und das schlichte Unbehagen angesichts seiner neuen, gehilfenlosen und auftraggeberlosen Situation. Denn Days letzte Worte hatten ihm zweifelsohne bewiesen, dass die Schuld bei Murcatto lag. Dass sie bei all seiner selbstlosen Aufopferung, für die er nie ein Wort des Dankes gehört hatte, Pläne zu seiner Ermordung geschmiedet hatte. Wieso hatte er diese Entwicklung nicht vorhergesehen? Wie hatte er es nicht vorherahnen können, nach all den schmerzhaften Nackenschlägen, die er in seinem Leben bereits hatte einbüßen müssen? Er war einfach ein zu weicher Mensch für dieses harte Land und diese erbarmungslose Zeit. Zu vertrauensselig und zu gemeinschaftssinnig für sein eigenes Wohl. Stets neigte er dazu, die Welt aus seiner eigenen Güte heraus durch die rosarote Brille zu sehen, und war dazu verdammt, immer auch das Beste von anderen zu erwarten.

»Dünn wie Löschpapier, ja? Scheiße! Du … verdammtes Luder !« Er trat voll kindischer Wut gegen Days Leichnam, sein Schuh schlug immer wieder gegen ihren Körper und ließ ihn erbeben. »Eingebildet?« Er kreischte das Wort beinahe. » Ich? Ich bin doch nun wirklich die Bescheidenheit … in … Person!« Plötzlich erkannte er, dass es einem Mann von seiner grenzenlosen Empfindsamkeit schlecht anstand, einen bereits toten Menschen zu treten, zumal einen, der ihm einst so teuer wie eine Tochter gewesen war. Unerwartet wallte melodramatisches Bedauern in ihm auf.

»Es tut mir leid! Es tut mir so leid.« Er kniete sich neben sie, strich ihr sanft das Haar zurück und berührte ihr Gesicht mit bebenden Fingern. Dieses Bild der Unschuld, nun würde sie nie mehr lächeln, nie mehr sprechen. »Es tut mir so leid, aber … aber warum? Ich werde dich immer in Erinnerung behalten, aber – oh … urgh!« Scharfer Uringeruch drang ihm in die Nase. Der Leichnam entleerte sich, eine unvermeidliche Nebenwirkung der enormen Dosis Leopardenblume, die ein Mann mit seiner Erfahrung hätte kommen sehen sollen. Die Pfütze hatte sich bereits unter dem Stroh ausgebreitet und ihm die Knie seiner Hosen durchtränkt. Er erhob sich schwankend und verzog das Gesicht vor Ekel.

»Scheiße! Scheiße!« Voll Wut packte er einen Flakon und schleuderte ihn gegen die Wand, und kleine Glassplitter flogen in alle Richtungen. Noch einmal trat er erzürnt gegen Days Körper, stieß sich die Zehen und humpelte dann mit schnellen Schritten durch die Scheune.

»Murcatto!« Diese böse Hexe hatte seine Gehilfin zum Verrat angestiftet. Die beste und geliebteste Gehilfin, die er je ausgebildet hatte, seit er Aloveo Cray in Ostenhorm leider hatte vorzeitig vergiften müssen. Er wusste, dass er Murcatto in seinem Obstgarten hätte ermorden sollen, aber das Ausmaß, die Bedeutung und die scheinbare Unmöglichkeit des Auftrags, den sie ihm anbot, hatten seine Eitelkeit gekitzelt. »Verdammt sei meine Eitelkeit! Die einzige Schwäche meines Charakters!«

Aber es konnte keine Rache geben. »Nein.« Nichts derart Niederes und Unzivilisiertes, das war nicht Morveers Art. Er war kein Wilder, kein Tier wie die Schlange von Talins und ihresgleichen, sondern ein gebildeter, kultivierter Edelmann von höchsten ethischen Grundsätzen. Er war nun, nach all seiner harten und loyalen Arbeit, ein wenig knapp bei Kasse, und daher würde er nicht auf eigene Rechnung arbeiten können. Er brauchte einen vernünftigen Dienstherrn und ein paar ordentliche und sauber motivierte Morde, aus denen ein ehrlicher Profit herauszuschlagen war.

Und wer würde ihn wohl dafür bezahlen, die Schlächterin von Caprile und ihre barbarischen Schergen zu töten? Die Antwort fiel ihm nicht besonders schwer.

Er stellte sich vor einem Fenster auf und verbeugte sich auf die speichelleckerischste Weise, die ihm möglich war, wobei er nicht einmal auf die schwungvolle Drehung der ausgestreckten Finger verzichtete. »Großherzog Orso, es ist mir eine unver … gleichliche Ehre.« Dann richtete er sich auf und runzelte die Stirn. Auf der Kuppe des langgestreckten Hügels zeichneten sich vor der grauen Morgendämmerung mehrere Dutzend Reiter ab.

 

»Für Ehre und Ruhm, und vor allem, für lohnenswerte Beute!« Gelächter kam auf, als der Getreue seinen Degen zog und ihn in die Luft streckte. »Auf geht’s!« Damit setzte sich die breite Linie der Reiter in Bewegung. Sie blieben locker zusammen, als sie durch den Weizen und auf die Koppel galoppierten; dort mäßigten sie den Schritt ihrer Tiere zu leichtem Trab.

Espe ritt mit ihnen. Er hatte keine andere Wahl, da der Getreue sich stets an seiner Seite hielt. Hätte er sich zurückfallen lassen, hätte das einen sehr schlechten Eindruck gemacht. Er hätte gern seine Axt zur Hand gehabt, aber wenn man auf eine Sache hoffte, dann ergab sich oft genug das genaue Gegenteil. Davon abgesehen erschien es zudem eine recht gute Idee, während des wilden Sturms den Hügel hinab beide Hände an den Zügeln zu halten.

Nun waren sie vielleicht noch hundert Schritt entfernt, und alles sah immer noch höchst friedlich aus. Espe blickte mit gerunzelter Stirn zum Haus, zur niedrigen Einfriedung und zur Scheune hinüber und machte sich bereit. Jetzt schien es doch ein sehr schlechter Plan. Das war schon von Anfang an so gewesen, aber wenn man diesen Plan nun ausführen musste, erschien er noch viel schlechter. Der Boden eilte unter den Hufen seines Pferdes vorbei, der Sattel ruckte unter seinem wunden Hintern, der Wind zupfte an seinem zusammengekniffenen Auge und kitzelte die frischen Narben auf der anderen Seite seines Gesichts, das sich ohne den Verband bitter kalt anfühlte. Der Getreue ritt noch immer neben ihm, hatte sich im Sattel hoch aufgerichtet und ließ seinen Mantel hinter sich herflattern, den Degen immer noch erhoben, und er rief: »Immer standhaft! Immer standhaft!« Zu seiner Linken verschob sich die Linie, Männer mit begierigen Gesichtern und ihre Pferde preschten mal weiter vor, mal nahmen sie sich wieder ein wenig zurück, die Speere in allen möglichen Winkeln höher oder tiefer gerichtet. Espe zog die Füße aus den Steigbügeln.

Dann krachten die Fensterläden des Bauernhauses mit einem Schlag beiseite. Espe sah die Osprianer in den Fenstern, das erste Morgenlicht schimmerte auf ihren Stahlkappen, als eine lange Reihe hinter der kleinen Trockensteinmauer auftauchte, die Flachbogen im Anschlag. Es kommt eine Zeit, in der man bestimmte Dinge einfach tun muss, Scheiß auf die Folgen. Die Brise fuhr ihm wild in die Kehle, als er tief einatmete und die Luft anhielt, dann warf er sich zur Seite und aus dem Sattel. Über den Hufschlag der Pferde, das Klappern von Metall und das Rauschen des Windes hinweg hörte er Monzas lauten Ruf.

Dann kam ihm der Boden entgegen und presste ihm die Zähne zusammen. Er überschlug sich stöhnend ein paar Mal und bekam eine Portion Dreck in den Mund. Die Welt drehte sich, dunkler Himmel und zuckende Erde, fliehende Pferde, stürzende Männer. Hufe schlugen um ihn herum, Dreck flog ihm in die Augen. Er hörte Schreie, und es gelang ihm, zumindest auf alle viere zu kommen. Dann prallte ein Toter mit ausgestreckten Armen gegen Espe und warf ihn wieder auf den Rücken.

 

Morveer rannte zur zweiflügligen Tür der Scheune und schob eine Seite gerade so weit auf, dass er den Kopf hindurchstecken konnte. Gerade noch rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie die osprianischen Soldaten sich hinter der Hofmauer erhoben und eine disziplinierte und tödliche Salve Flachbogenbolzen abschossen.

Auf der grasbewachsenen Koppel stürzten Männer ruckartig aus ihren Sätteln, Pferde brachen zusammen und warfen ihre Reiter ab. Fleisch fiel zu Boden, pflügte durch den nassen Boden, Glieder schlackerten hin und her. Tiere und Menschen brüllten und heulten vor Entsetzen und Wut, Schmerz und Angst. Vielleicht ein Dutzend Reiter war gestürzt, aber die übrigen setzten ohne das kleinste Anzeichen eines Zögerns zum Angriff an, die schimmernden Waffen erhoben, und ihr Kriegsgeheul war ebenso laut wie die Schmerzensschreie ihrer gefallenen Kameraden.

Morveer stieß ein leises Wimmern aus, schlug die Tür wieder zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Offener Kampf. Wilde Wut und Zufälligkeit. Spitze Waffen, die sich mit großer Schnelligkeit bewegten. Vergossenes Blut, eingeschlagene Köpfe, aufgerissene weiche Körper, deren Innereien ekelerregend ins Freie quollen. Eine höchst unzivilisierte Verfahrensweise und ganz sicher keine, in der er besonders versiert war. Seine eigenen Eingeweide, die sich dankenswerterweise noch in seinem Bauch befanden, rührten sich mit dem ersten Stich größten Entsetzens und Widerwillens, dann zogen sie sich in einer wesentlich vernünftigeren Welle der Furcht zusammen. Wenn Murcatto gewann, dann gewann die Frau, die ihre tödlichen Absichten ihm gegenüber klar gezeigt hatte. Sie hatte ja nicht einmal davor zurückgeschreckt, den Tod seiner unschuldigen Gehilfin in die Wege zu leiten. Wenn die Tausend Klingen gewannen, nun, dann würde man ihn als Komplizen der Mörder Prinz Arios betrachten. In beiden Fällen war er zweifelsohne dem Tod geweiht.

»Verdammt!«

Hinter der einzigen Tür wurde das Gehöft allmählich zu einem Schlachthof, aber die Fenster waren zu schmal, als dass er sich hätte hindurchquetschen können. Auf dem Heuboden verstecken? Nein, nein, was war er denn, ein Fünfjähriger? Sich neben die arme Day legen und sich totstellen? Was? Sich in Urin ausstrecken? Niemals! Er rannte hastig zum anderen Ende der Scheune und bohrte verzweifelt seine Finger zwischen die Holzbretter, um sich einen Weg hindurchzubahnen. Schließlich fand er eine lose Latte und trat heftig dagegen.

»Brich durch, du verdammtes Holzding! Brich! Brich! Brich!« Auf dem Hof hinter ihm wurde der Lärm tödlicher Kämpfe immer lauter. Etwas krachte seitlich gegen das Gebäude, und er zuckte zusammen, als durch die Wucht des Aufpralls Staub von den Dachsparren rieselte. Wieder wandte er sich der hölzernen Wand zu, wimmerte vor Angst und Hilflosigkeit, und sein Gesicht brannte vor Schweiß. Ein letzter Tritt, und die Latte gab nach. Müdes Tageslicht drängte sich durch zwei Bretter mit rauen Kanten. Er kniete sich hin, wandte den Oberkörper seitwärts, zwängte den Kopf durch die Lücke. Splitter bohrten sich in seine Kopfhaut, und er erhaschte einen Blick auf flaches Land, braunen Weizen und ein kleines Baumgrüppchen in etwa zweihundert Schritt Entfernung. Sicherheit. Er schob einen Arm nach draußen und klammerte sich erfolglos an die verwitterte Außenseite der Scheune. Eine Schulter, die Hälfte seiner Brust, dann steckte er fest.

Es war gelinde gesagt optimistisch gewesen, dass er geglaubt hatte, mühelos durch diesen Spalt schlüpfen zu können. Zehn Jahre zuvor war er so schlank wie eine Weidenrute gewesen und hätte mit der Gelenkigkeit eines Tänzers durch eine nur halb so breite Lücke gepasst. In der Zwischenzeit hatten zu viele Pasteten dafür gesorgt, dass eine solche Tat unmöglich wurde, und ihm dämmerte allmählich die Erkenntnis, dass ihn die vielen Leckereien vielleicht das Leben kosten konnten. Er wand sich, drehte sich hin und her, und hartes Holz bohrte sich in seinen Bauch. Würde man ihn so finden? Würde das die Geschichte sein, die man sich lachend in den kommenden Jahren erzählen würde? Sähe so sein Vermächtnis aus? Der große Castor Morveer, der Tod ohne Gesicht, der meistgefürchtete aller Giftmischer endlich gefasst, eingeklemmt in einen Spalt an der Rückwand einer Scheune, als er gerade fliehen wollte?

»Verdammte Pasteten!«, kreischte er, und mit einer letzten Anstrengung zwängte er sich hindurch. Er biss die Zähne zusammen, als ein querstehender Nagel ihm das halbe Hemd aufriss und ihm eine lange, schmerzhafte Schramme über den Rippen zufügte. »Verdammt noch mal! Scheiße!« Nun zog er die schmerzenden Beine nach. Endlich aus der Umarmung der schlecht zusammengezimmerten Holzwand befreit und über und über mit Splittern bedeckt, rannte er auf die verlockende Sicherheit der Bäume zu. Die hüfthohen Weizenhalme ließen ihn straucheln, schlugen nach ihm, fassten nach seinen Beinen.

Mit wackligen Knien war er gerade einmal fünfzig Schritt weit gekommen, als er der Länge nach hinfiel und mit einem Schrei in das feuchte Getreide stürzte. Fluchend rappelte er sich wieder auf. Der boshafte Weizen hatte sich bei seinem Fall einen seiner Schuhe geschnappt. »Verdammtes Korn!« Gerade wollte er nach der flüchtigen Fußbedeckung tasten, als er ein lautes Trommeln vernahm. Zu seinem ungläubigen Entsetzen entdeckte er, dass ein Dutzend Reiter aus jenen Bäumen hervorpreschte, zwischen die er hatte fliehen wollen, und mit nun wildem Galopp auf ihn zuhielt, die Speere gesenkt.

Ihm entwich ein atemloser Aufschrei, und er rutschte mit dem nackten Fuß aus, dann begann er wieder zu dem Spalt zurückzuhumpeln, der ihn bei der ersten Begegnung so gequält hatte. Er schob ein Bein hindurch und wimmerte vor Schmerz, als er sich unabsichtlich die Nüsse an dem Brett quetschte. Sein Rücken prickelte, während das Hufgetrappel lauter wurde. Die Reiter waren nicht mehr als fünfzig Schritt von ihm entfernt, Männer und Tiere mit hell schimmernden Augen und gebleckten Zähnen, die aufgehende Morgensonne fiel auf kriegerisches Metall, Spreu flog von den dreschenden Hufen. Es würde ihm nie gelingen, seinen blutenden Körper rechtzeitig durch die enge Lücke zu zwängen. Würde er nun auch gedroschen werden? Der arme, bescheidene Castor Morveer, der eigentlich immer nur …

Eine Ecke der Scheune explodierte mit einem Schwall heller Flammen, ohne dass dabei ein anderes Geräusch zu hören gewesen wäre als das Krachen und Knirschen berstenden Holzes. Plötzlich war die Luft von herumwirbelnden Trümmerteilchen erfüllt: ein herabfallendes Stück brennenden Dachbalkens, hinweggesprengte Latten, gebogene Nägel, eine aufstiebende Wolke aus Splittern und Funken. Eine breite, rauschende Welle walzte eine Schneise in den Weizen, saugte in ihrer aufwallenden Brandung Staub, Halme, Korn und Glut empor. Zwei nicht gerade kleine Fässer wurden plötzlich sichtbar, wie sie stolz inmitten der niedergemähten Ernte direkt im Weg der Reiter standen. Flammen sprangen aus ihnen empor, und seitlich breitete sich plötzlich schwarze Kohle aus.

Das rechte Fass explodierte mit einem blendenden Blitz, das linke unmittelbar danach. Zwei große Dreckfontänen wurden gen Himmel gewirbelt. Das vorderste Pferd, das bereits zwischen die beiden Behälter geraten war, schien anzuhalten, starr zu werden und dann zusammen mit seinem Reiter zu platzen. Die meisten anderen waren in die immer größer werdende Wolke aus Staub gehüllt und vermutlich zu herumfliegendem Hackfleisch geworden.

Ein Windstoß drückte Morveer gegen die Scheunenwand, riss an seinem zerfetzten Hemd, seinem Haar, seinen Augen. Kurz darauf erreichte der Donner der doppelten Detonation seine Ohren und ließ seine Zähne aufeinanderschlagen. Einige Pferde an den beiden äußeren Seiten der Linie waren beinahe noch in einem Stück und wurden knochenlos flatternd wie die Spielzeuge eines zornigen Kleinkinds durch die Luft geschleudert. Ein Ross war beinahe von innen nach außen gekehrt und hinterließ blutige Narben im Getreidefeld nahe den Bäumen, aus denen die Reiter hervorgeprescht waren.

Erdklumpen prasselten gegen die Bretterwand. Der Staub legte sich langsam wieder. Der feuchte Weizen brannte zögernd an einigen Stellen, an denen sich die Explosion ereignet hatte, und schickte beißenden Rauch gen Himmel. Verkohlte Holzsplitter, geschwärzte Spreu, qualmende Überreste von Menschen und Pferden regneten immer noch herab. Asche trudelte durch die Luft.

Morveer stand in die Lücke der Hinterwand geklemmt da und war von kaltem Staunen erfasst. Gurkhisisches Feuer ganz offenbar – oder vielleicht doch etwas Dunkleres, etwas … Magisches? Als er sich gerade wieder befreit hatte, in den Weizen getaucht war und vorsichtig zwischen den Halmen hervorspähte, trat eine Gestalt aus der rauchenden Ecke der Scheune.

Die Gurkhisin, Ischri. Ein Ärmel und der Saum ihres braunen Mantels brannten heftig. Sie schien plötzlich zu bemerken, dass die Flammen ihr Gesicht umspielten, legte das brennende Kleidungsstück ohne große Eile ab und warf es beiseite, dann stand sie von Kopf bis Fuß in ihre Verbände gewickelt da, unverbrannt und ganz wie der Leichnam einer Wüstenkönigin aus alter Zeit, die man einbalsamiert und für ihr Begräbnis hergerichtet hatte. Mit einem langen Blick sah sie zu den Bäumen hinüber, lächelte dann und schüttelte langsam den Kopf.

Sie sagte etwas Fröhliches auf Kantesisch. Morveer beherrschte diese Sprache nicht besonders gut, aber es klang wie: »Du hast es immer noch drauf, Ischri.« Sie ließ ihre schwarzen Augen dort über den Weizen schweifen, wo sich Morveer verbarg, und er duckte sich mit größter Gewandtheit. Dann wandte sie sich um und verschwand hinter der zerstörten Ecke der Scheune, hinter der sie erschienen war. Nun hörte er sie leise und zufrieden lachen.

»Du hast es immer noch drauf.«

Morveer blieb mit dem überbordenden – aber seiner Meinung nach völlig gerechtfertigten – Wunsch zurück, zu fliehen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Also robbte er auf dem Bauch durch das blutverschmierte Korn. Zoll um Zoll mühte er sich den Bäumen entgegen. Der Atem fuhr stoßweise aus seiner brennenden Brust, und die ganze lange Strecke über prickelte sein Hintern vor Angst.