VERSCHOBENE GEWICHTE
Indem er sich die größte Mühe gab, keine unwillkommene Aufmerksamkeit zu erregen, glitt Morveer in Herzog Orsos großen Audienzsaal und blieb unauffällig hinten an der Wand stehen. Für einen derart großen und beeindruckenden Raum befanden sich erstaunlich wenig Menschen darin. Vielleicht ein Spiegelbild der schwierigen Umstände, in denen sich der große Mann befand. Die Tatsache, dass gerade die wichtigste Schlacht in der styrischen Geschichte für ihn in einer katastrophalen Niederlage geendet hatte, schreckte Besucher möglicherweise ab. Morveer hatte sich allerdings stets von Dienstherren angezogen gefühlt, die sich in besonders kniffliger Lage befanden. Sie pflegten auffallend gut zu zahlen.
Der Großherzog von Talins war zweifelsohne immer noch eine majestätische Erscheinung. Er saß auf einem vergoldeten Sessel auf einem hohen Podest, ganz in Zobel und goldbesetzten Samt gekleidet, und blickte mit königlichem Zorn über die schimmernden Helme eines Dutzends ebenso zorniger Wachmänner hinweg. Er war von zwei Männern flankiert, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Links stand ein untersetzter, rotgesichtiger Alter, der in der Hüfte respektvoll eingeknickt war, eine Haltung, die jedoch ein wenig schmerzhaft aussah. Der Kragen seiner Jacke war mit Goldknöpfen geschlossen und so eng, dass es sicher schon fast unangenehm war, vielleicht sogar mehr als das. Er hatte den schlecht beratenen Versuch unternommen, die unübersehbar drohende Kahlköpfigkeit damit zu überdecken, dass er einige traurige Strähnen seines widerspenstigen grauen Haars extra für diesen Zweck zu enormer Länge gezüchtet und dann quer über den Kopf gestrichen hatte. Orsos Kämmerer. Rechts lehnte ein schlanker, junger Mann in unerwartet lässiger Haltung in staubiger Reisekleidung auf etwas, das ein langer Stock zu sein schien. Sein lockiges Haar war so dicht und hatte so viel Spannkraft, wie Morveer es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. In welcher Beziehung er zu dem Herzog stand, war im Augenblick noch ein leicht beunruhigendes Geheimnis.
Der einzige andere Mensch, mit dem sie sich den Saal teilten, hatte Morveer seine edel gekleidete Rückseite zugewandt, kniete mit einem Bein auf dem lang ausgerollten roten Teppich und hielt seinen Hut in der Hand. Selbst von ganz hinten im Saal war der schimmernde Schweißfilm zu erkennen, der sich über die kahle Stelle auf seinem Kopf zog.
»Welche Hilfe bietet mir mein Schwiegersohn?«, verlangte Orso mit Stentorstimme zu wissen. »Der Hochkönig der Union?«
Die Stimme des Botschafters, denn um genau den handelte es sich, hatte den winselnden Ton eines oft geschlagenen Hundes, der weitere Züchtigungen fürchtet. »Ihr Schwiegersohn schickt Ihnen sein tiefstes Bedauern …«
»Tatsächlich? Aber keine Soldaten! Was soll ich denn wohl damit anfangen? Mit seinem Bedauern auf meine Feinde schießen?«
»Seine Heere sind in unserem unglücklichen Krieg im Norden gebunden, und eine Revolte in der Stadt Rostod hat weitere Probleme aufgeworfen. Die Edelleute üben sich währenddessen in Zurückhaltung. Die Bauern werden wieder unruhig. Die Kaufleute …«
»Die Kaufleute liegen in ihren Zahlungen zurück. Ich verstehe. Wenn Ausreden Soldaten wären, dann hätte er mir tatsächlich eine mächtige Truppe geschickt.«
»Er ist mit Problemen geschlagen …«
»Er ist geschlagen? Wurden seine Söhne ermordet? Wurden seine Soldaten abgeschlachtet? Liegen seine Hoffnungen in Trümmern?«
Der Botschafter rang die Hände. »Euer Exzellenz, er steht zu sehr unter Druck! Sein Bedauern kennt kein Ende, aber …«
»Aber seine Hilfe kennt keinen Anfang! Hochkönig der Union! Schöne Reden und ein freundliches Lächeln, wenn die Sonne scheint, aber wenn sich der Himmel bezieht, dann sollte man keinen Schutz aus Adua erwarten, wie? Als er in der Klemme saß, kam meine Unterstützung zur rechten Zeit, oder nicht? Als die gurkhisischen Horden vor seinen Toren standen! Aber jetzt, da ich seine Hilfe brauche … vergib mir, Vater, ich stehe zu sehr unter Druck. Aus meinen Augen, Dreckskerl, bevor Sie das Bedauern Ihres Herrn noch die Zunge kostet! Aus meinen Augen, und sagen Sie dem Krüppel, mir sei bewusst, dass er die Hand im Spiel hat! Sagen Sie ihm, dass ich ihm den Preis dafür aus seinem verdrehten Fell prügeln werde!« Das Wutgebrüll des Herzogs übertönte die hastigen Schritte des Botschafters, der sich so schnell rückwärtsbewegte, wie er sich eben traute, sich dabei immer wieder verbeugte und noch mehr schwitzte. »Sagen Sie ihm, ich werde mich rächen!«
Der Botschafter hastete niederkniend an Morveer vorbei, und die Flügeltür wurde mit lautem Hall hinter ihm geschlossen.
»Wer ist das, der sich dort hinten im Saal herumdrückt?« Dass Orsos Stimme plötzlich wieder völlig gelassen klang, war nicht beruhigend. Ganz im Gegenteil.
Morveer schluckte, als er über den blutroten Teppich schritt. In Orsos Augen lag ein höchst einschüchternder, befehlsgewohnter Blick. Er erinnerte Morveer höchst unangenehm an eine Unterredung mit dem Leiter des Waisenhauses, als man ihn wegen der toten Vögel zur Verantwortung gezogen hatte. Seine Ohren brannten vor Scham und Entsetzen, wenn er an dieses Gespräch zurückdachte, noch mehr als seine Beine, wenn er sich an die anschließende Züchtigung erinnerte. Er knickte in der tiefsten und speichelleckerischsten Verbeugung ein, deren Wirkung er leider ein wenig damit ruinierte, dass er sich in seiner Nervosität die Knöchel auf dem Fußboden aufschürfte.
»Es handelt sich um einen gewissen Castor Morveer, Euer Exzellenz«, tönte der Kämmerer, der an seiner Knollennase auf den Genannten hinabsah.
Orso beugte sich vor. »Und was für ein Mann ist dieser Castor Morveer?«
»Ein Giftmischer.«
»Ein Meister … Giftmischer«, berichtigte Morveer. Er konnte sich überaus unterwürfig geben, wenn es nötig war, aber auf seinem vollen Titel wollte er trotzdem bestehen. Hatte er ihn sich nicht verdient, mit Schweiß, Gefahr, tiefen körperlichen und seelischen Wunden, langen Studien, kurzem Erbarmen und vielen, vielen schmerzhaften Rückschlägen?
»Meister also, wie?«, fragte Orso verächtlich. »Und welche großen Berühmtheiten haben Sie vergiftet, um sich diesen Titel zu verdienen?«
Morveer gestattete sich den Hauch eines Lächelns. »Die Großherzogin Sefeline von Ospria, Euer Exzellenz. Graf Binardi von Etrea sowie seine beiden Söhne, obwohl ihr Boot anschließend sank und sie nie gefunden wurden. Ghassan Maz, den Satrap von Kadir, und im Anschluss daran, als weitere Probleme auftauchten, auch seinen Nachfolger, Souvon-yin-Saul. Der alte Lord Ischer von Midderland war einer meiner Toten. Prinz Amrit, der den Thron von Muris geerbt hätte …«
»Soweit ich weiß, starb er eines natürlichen Todes.«
»Was wäre natürlicher für einen mächtigen Mann, als an einer Dosis Leopardenblume zu sterben, die mittels eines herabhängenden Fadens in sein Ohr eingebracht wurde? Dann noch Admiral Brant, der einst die murisische Flotte befehligte, und seine Frau. Auch seinen Schiffsjungen, der bedauerlicherweise Zeuge des betreffenden Vorfalls wurde. Ein junges Leben, das leider nur kurz währte. Ich möchte die wertvolle Zeit Eurer Exzellenz nicht über Gebühr in Anspruch nehmen – die Liste ist wahrlich lang, höchst erlesen und … ausgesprochen tot. Ihre Erlaubnis voraussetzend, möchte ich nur noch den jüngsten Namen hinzusetzen.«
Orso deutete mit einer winzigen Kopfbewegung seine Zustimmung an, und wie Morveer zufrieden feststellte, war der verächtliche Ausdruck aus seinen Zügen gewichen. »Ein gewisser Mauthis, Vorstand der Westport-Filiale des Bankhauses Valint und Balk.«
Das Gesicht des Herzogs war ausdruckslos wie eine Grabplatte. »Wer erteilte Ihnen den Auftrag für diesen letzten Toten?«
»Es zählt zu meinen beruflichen Prinzipen, die Namen meiner Dienstherren niemals zu nennen … aber ich denke, unter diesen außergewöhnlichen Umständen wäre es gerechtfertigt. Ich wurde von keiner anderen angeheuert als von Monzcarro Murcatto, der Schlächterin von Caprile.« Jetzt war er in Schwung gekommen und konnte sich einen abschließenden Schnörkel nicht verkneifen. »Ich glaube, Sie kennen sich.«
»Gewisser … maßen«, flüsterte Orso. Die Dutzend Wachleute des Herzogs rührten sich bedrohlich, als ob die Stimmung ihres Herrn direkt auf sie übergriffe. Morveer wurde sich bewusst, dass er sich vielleicht einen Schritt zu weit vorgewagt hatte, fühlte, dass die Beherrschung über seine Blase nachließ, und musste die Knie leicht zusammenkneifen. »Sie sind in die Räumlichkeiten von Valint und Balk in Westport eingedrungen?«
»In der Tat«, krächzte Morveer.
Orso warf einen Seitenblick auf den Mann mit den Locken. Er hatte verschiedenfarbige Augen, wie Morveer jetzt bemerkte, eines blau, das andere grün. »Ich gratuliere Ihnen zu dieser Leistung. Obwohl sie mir und meinen Partnern beträchtliche Unannehmlichkeiten bereitet hat. Wären Sie wohl so freundlich, mir zu erklären, weshalb ich Sie deswegen nicht töten lassen sollte?«
Morveer versuchte, das mit einem gut gelaunten Kichern beiseitezuwischen, doch in der Kühle des riesigen Saals erstarb sein Lachen langsam. »Ich … äh … ich hatte natürlich keine Ahnung, dass Ihnen dies auch nur das geringste Ungemach bereiten würde. Keine. Es ist ohnehin nur dem bedauerlichen Versagen oder vielmehr dem absichtlichen Übersehen, der willentlichen Unehrlichkeit, gar einer Lüge seitens meiner verfluchten Gehilfin zuzuschreiben, dass ich diese Aufgabe überhaupt annahm. Ich hätte diesem gierigen Luder niemals vertrauen …« Er merkte, dass er sich keinen Gefallen damit tat, wenn er Toten die Schuld gab. Große Männer wollen Lebende, die sie zur Verantwortung ziehen können, die sie dann foltern, hängen, köpfen können. Leichen bieten keinerlei befriedigende Vergeltung. Schnell änderte er seine Strategie. »Ich war lediglich das Werkzeug, Euer Exzellenz. Nur die Waffe. Eine Waffe, die ich Ihnen nun anbiete, damit Ihre Hand sie schwingen kann, so wie Sie es für richtig halten.« Er verneigte sich erneut, diesmal noch tiefer, und die Bauchmuskeln, die er bei dem Aufstieg auf den verdammten Berg von Fontezarmo bereits über Gebühr beansprucht hatte, bebten, als er sich bemühte, dabei nicht vornüberzufallen.
»Sie suchen einen neuen Dienstherrn?«
»Murcatto erwies sich mir gegenüber ebenso verräterisch wie gegenüber Eurer Fürstlichkeit. Diese Frau ist tatsächlich eine Schlange. Nicht zu packen, giftig und … schuppig.« Ein lahmer Abschluss. »Ich hatte Glück, ihren Klauen lebend zu entrinnen, und nun suche ich Wiedergutmachung. Mit aller Macht. Ich werde mich nicht abweisen lassen.«
»Wiedergutmachung wäre für uns alle eine schöne Sache«, raunte der Mann mit den Locken. »Die Nachricht, dass Murcatto überlebt hat, verbreitet sich wie ein Lauffeuer in Talins. Plakate mit ihrem Gesicht darauf hängen an jeder Wand.« Das entsprach den Tatsachen; Morveer hatte sie auf dem Weg durch die Stadt bereits gesehen. »Darauf heißt es, Sie hätten sie ins Herz gestochen, doch sie hätte überlebt, Euer Exzellenz.«
Der Herzog schnaubte. »Wenn ich sie niedergestochen hätte, dann hätte ich nie auf ihr Herz gezielt. Das ist zweifelsohne ihr am wenigsten verletzliches Organ.«
»Es heißt, Sie hätten sie verbrannt, ertränkt, gevierteilt und dann von Ihrem Balkon gestoßen, aber dann sei sie wieder zusammengeflickt worden und zu neuem Leben erwacht. Es heißt, sie hätte an den Furten der Sulva zweihundert Mann umgebracht. Ganz allein sei sie in Ihre Linien gestürmt, und die Männer seien auseinandergestoben wie Spreu vor dem Wind.«
»Das klingt nach Rogonts Mätzchen«, zischte der Herzog durch die zusammengebissenen Zähne. »Dieser Dreckskerl war stets eher ein geborener Schöpfer billiger Fantastereien denn ein Regent! Demnächst werden wir zu hören bekommen, dass Murcatto Flügel gewachsen sind und dass sie den wiederauferstandenen Euz gebar!«
»Das würde mich überhaupt nicht wundern. An jeder Straßenecke hängen Plakate, laut denen sie als Werkzeug des Schicksals gepriesen wird, um Styrien von Ihrer Tyrannei zu befreien!«
»So, bin ich jetzt ein Tyrann?« Der Herzog lachte kurz grimmig auf. »Wie schnell der Wind in der modernen Zeit seine Richtung ändert!«
»Man erzählt sich, sie könne nicht getötet werden.«
»Das … erzählt … man … sich?« Orsos rot geränderte Augen glitten zu Morveer. »Was sagen Sie dazu, Giftmischer?«
»Euer Exzellenz.« Morveer stürzte sich erneut in eine allertiefste Verbeugung. »Ich habe meine erfolgreiche Karriere auf das Prinzip gegründet, dass alles, was lebt, dieses Leben auch verlieren kann. Es ist eher die bemerkenswerte Leichtigkeit des Tötens und nicht die Unmöglichkeit, die mich stets verblüfft hat.«
»Haben Sie Lust, das unter Beweis zu stellen?«
»Euer Exzellenz, ich bitte Sie in aller Bescheidenheit lediglich um die Möglichkeit, das tun zu dürfen.« Morveer knickte erneut zusammen. Er war entschieden der Meinung, dass man sich vor Männern von Orsos Kaliber gar nicht zu oft verbeugen konnte, obwohl er zu der Ansicht kam, dass Menschen mit derart hoher Meinung von sich selbst die Geduld anderer deutlich strapazierten.
»Also hören Sie. Töten Sie Monzcarro Murcatto. Töten Sie Nicomo Cosca. Töten Sie die Gräfin Cotarda von Affoia. Töten Sie Herzog Lirozio von Puranti. Töten Sie den Ersten Bürger Patine von Nicante. Töten Sie Kanzler Sotorius von Sipani. Töten Sie Großherzog Rogont, bevor er gekrönt werden kann. Vielleicht wird mir Styrien nicht gehören, aber ich werde meine Rache nehmen. Darauf können Sie sich verlassen.«
Morveer hatte wärmstens gelächelt, als der Herzog mit seiner Liste begann. Als er am Ende angekommen war, lächelte der Giftmischer nicht mehr, es sei denn, man hätte das verkrampfte Grinsen so bezeichnen wollen, das er mit allergrößter Mühe auf seinem bebenden Gesicht behielt. Offenbar war er bei seinem kühnen Spiel bemerkenswert über das Ziel hinausgeschossen. Die Lage erinnerte ihn unvermittelt an seinen Versuch, vieren seiner Peiniger im Waisenhaus ordentliches Unbehagen zu bereiten, indem er Lankam-Salz ins Wasser schüttete, was dann natürlich zum vorzeitigen Tod aller Angestellten und auch der meisten Kinder führte.
»Euer Exzellenz«, krächzte er, »das ist eine beträchtliche Zahl von Morden.«
»Und ein paar schöne Namen für Ihre kleine Liste, nicht wahr? Der Lohn wird ebenso schön sein, darauf können Sie sich verlassen, nicht wahr, Meister Sulfur?«
Sulfurs verschiedenfarbige Augen hoben sich von seinen Fingernägeln zu Morveers Gesicht. »Das wird er. Sie müssen wissen, ich vertrete das Bankhaus Valint und Balk.«
Morveer zuckte zusammen. »Ah. Ich hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, verstehen Sie …« Wie sehr wünschte er sich nun, Day nicht umgebracht zu haben. Er hätte sie mit viel Geschrei als die eigentliche Schuldige präsentieren können und hätte etwas Greifbares zu bieten gehabt, womit der Herzog seine Kerker hätte schmücken können. Glücklicherweise schien Meister Sulfur nicht auf der Suche nach einem Sündenbock zu sein. Noch nicht.
»Oh, aber Sie waren doch nur die Waffe, wie Sie schon sagten. Wenn Sie in unseren Händen ebenso tödlich sind, dann müssen Sie sich keine Sorgen machen. Und davon abgesehen war Mauthis ein schrecklicher alter Langweiler. Sagen wir, bei Erfolg zahlen wir die Summe von einer Million Waag?«
»Einer … Million?«, hauchte Morveer.
»Alles, was lebt, kann dieses Leben verlieren.« Orso beugte sich vor, die Augen starr auf Morveers Gesicht geheftet. »Und jetzt fangen Sie schon an!«
Die Nacht zog herauf, als sie den Ort erreichten. Lichter brannten hinter den verdreckten Fensterscheiben, Sterne funkelten am samtigen Himmel wie Diamanten auf dem Tuch eines Juwelenhändlers. Schenkt hatte Affoia nie gemocht. Er hatte hier studiert, als junger Mann, bevor er je vor seinem Meister gekniet und bevor er sich geschworen hatte, nie wieder zu knien. Er hatte sich hier verliebt, in eine Frau, die zu reich, zu alt und viel zu schön für ihn war, und hatte sich dabei zu einem winselnden Narren gemacht. Die Straßen waren nicht nur mit alten Säulen und durstigen Palmen flankiert, sondern auch mit den bitteren Resten seiner kindischen Scham, Eifersucht und schreienden Ungerechtigkeit. Seltsam, dass sich die Wunden der Jugend nie wirklich schließen, ganz gleich, welch eine harte Haut man sich im Verlauf des Lebens zulegt. Schenkt mochte Affoia nicht, aber die Spur hatte ihn hierhergeführt. Mehr als hässliche Erinnerungen waren nötig, damit er eine Aufgabe nicht zu Ende brachte.
»Das ist das Haus?« Es lag verborgen in den gewundenen Gässchen des ältesten Viertels der Stadt, weitab von den großen Durchgangsstraßen, wo die Namen der Männer, die sich um öffentliche Ämter bewarben, an die Wände geschmiert standen, ergänzt um ihre großen Fähigkeiten und um andere, weniger schmeichelhafte Worte und Bilder. Ein kleines Gebäude, mit gebogenen Türstürzen und einem eingesunkenen Dach, das sich zwischen ein Lagerhaus und einen klapprigen Schuppen kauerte.
»Das ist das Haus.« Die Stimme des Bettlers war so weich und ekelhaft wie eine verdorbene Frucht.
»Gut.« Schenkt drückte fünf Waag in die schorfige Handfläche des Mannes. »Das ist für dich.« Er schloss die Faust des Mannes um das Geld und hielt sie dann fest. »Kehre nie wieder hierher zurück.« Er beugte sich näher zu ihm, drückte noch fester. »Niemals.«
Er glitt über das Kopfsteinpflaster und über die Mauer kurz vor dem Haus. Sein Herz schlug ungewöhnlich schnell, Schweiß prickelte auf seiner Kopfhaut. Leise kroch er durch den überwachsenen Vorgarten, setzte die alten Stiefel geräuschlos auf die richtigen Stellen zwischen das Unkraut und kam bis ans erleuchtete Fenster. Zögernd, beinahe ängstlich blickte er hindurch. Drei Kinder saßen auf einem abgetretenen Teppich vor einem kleinen Feuer. Zwei Mädchen und ein Junge, allesamt mit demselben hellroten Haar. Sie spielten mit einem grell bemalten Holzpferd auf Rädern. Kletterten darauf, schubsten sich gegenseitig herunter, jagten sich um das Spielzeug herum und kreischten leise vor Begeisterung. Er hockte da, fasziniert, und sah ihnen zu.
Unschuldig. Ungeformt. Voller Möglichkeiten. Bevor sie damit anfingen, Entscheidungen zu treffen, oder bevor Entscheidungen für sie getroffen wurden. Bevor die Türen sich zu schließen begannen und sie nur noch einen einzigen Weg vor sich sahen. Bevor sie knieten, jetzt, in dieser kurzen Zeitspanne, konnten sie alles sein.
»Soso. Was haben wir denn hier?«
Sie kauerte über ihm auf dem niedrigen Dach des Schuppens, den Kopf zur Seite geneigt, und ein Lichtstreifen aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel hart auf ihr Gesicht. Ein Stück hellrotes, stachliges Haar, eine rote Braue, ein zusammengekniffenes Auge, Sommersprossen, ein Mundwinkel, der auf eine finstere Miene schließen ließ.
Schenkt seufzte. »Ich fürchte, du bist mir überlegen.«
Sie glitt von der Mauer, sprang auf den Boden und kam elegant mit gebeugten Knien auf. Ihre Kette rasselte. Dann richtete sie sich auf, groß und schlank, trat einen Schritt auf ihn zu und hob die Hand.
Er atmete langsam, langsam ein.
Jede kleine Einzelheit ihres Gesichts nahm er wahr: Fältchen, Sommersprossen, die kleinen Härchen auf ihrer Oberlippe, die sandfarbenen Augenwimpern, die beim Blinzeln hinunterkrabbelten.
Er hörte, wie ihr Herz schlug, so heftig wie ein Rammbock vor einem Stadttor.
Bumm … bumm … bumm …
Sie umfasste seinen Hinterkopf, und sie küssten sich. Er schlang die Arme um sie, drückte ihren Körper fest an sich, sie vergrub ihre Finger in seinem Haar, ihr Kinn streifte seine Schulter, und herabhängendes Metall stieß leicht von hinten gegen seine Beine. Es war ein langer, zärtlicher, ausdauernder Kuss, der seinen Körper von Kopf bis Fuß kribbeln ließ.
Sie löste sich aus der Umarmung. »Es ist eine ganze Zeit her, Cas.«
»Ich weiß.«
»Zu lange.«
»Ich weiß.«
Sie nickte zum Fenster hinüber. »Sie vermissen dich.«
»Kann ich …«
»Du weißt doch, dass du kannst.«
Sie führte ihn zur Tür, in den kleinen Flur, löste die Kette von ihrem Handgelenk und hängte sie an einen Haken, so dass das kreuzförmige Messer hinunterbaumelte. Das älteste Mädchen kam aus dem Zimmer gestürmt und erstarrte, als sie ihn sah.
»Ich bin’s.« Er näherte sich ihr langsam, seine Stimme klang erstickt. »Ich bin’s.« Die anderen beiden Kinder kamen aus dem Zimmer und spähten hinter ihrer Schwester hervor. Schenkt fürchtete niemanden, aber vor diesen Kindern war er ein Feigling. »Ich habe etwas für euch.« Mit bebenden Fingern griff er in seinen Mantel. »Cas.« Er hielt den geschnitzten Hund empor, und der Junge, der seinen Namen trug, riss ihm das Spielzeug lachend aus der Hand. »Kande.« Er legte den Vogel in die wie eine Schüssel vorgestreckten Hände der Kleinsten, und sie blickte stumm darauf. »Für dich, Tee.« Damit bot er die Katze dem ältesten Mädchen an.
Sie nahm sie an. »Das sagt niemand mehr zu mir.«
»Es tut mir leid, dass es schon so lange her ist.« Er berührte das Haar des Mädchens, und als es zusammenzuckte, riss er schnell die Hand weg, unangenehm berührt. Er fühlte das Gewicht der Metzgersichel in seinem Mantel, als er sich bewegte, und er richtete sich ruckartig auf und trat einen Schritt zurück. Die drei starrten zu ihm hinauf, die geschnitzten Tiere fest in den kleinen Händen.
»Jetzt aber ins Bett«, sagte Schylo. »Er wird auch morgen noch da sein.« Ihre Augen lagen auf ihm, tiefe Falten über der sommersprossigen Nasenwurzel. »Das bist du doch, oder, Cas?«
»Ja.«
Sie überging den Protest der Kinder und deutete auf die Treppe. »Ins Bett.« Langsam kletterten sie im Gänsemarsch nach oben, eine Stufe nach der anderen, der Junge gähnte, die Jüngste ließ den Kopf hängen, und die Älteste beklagte sich, dass sie nicht müde sei. »Ich komme später hoch und singe euch etwas vor. Wenn ihr bis dahin leise seid, dann wird euer Vater vielleicht sogar bei den tiefen Tönen mitsummen.« Die Kleinste lächelte ihn zwischen den Geländerstreben oben an der Treppe an, bis Schylo ihn ins Wohnzimmer schob und die Tür schloss.
»Sie sind so groß geworden«, raunte er.
»So ist das nun einmal. Wieso bist du hier?«
»Kann ich nicht einfach nur …«
»Du weißt, dass du es kannst, und du weißt, dass du es nicht tust. Wieso bist du …« Sie hatte den Rubin an seinem Zeigefinger entdeckt und runzelte die Stirn. »Das ist Murcattos Ring.«
»Sie hat ihn in Puranti verloren. Dort hätte ich sie beinahe erwischt.«
»Erwischt? Warum?«
Er hielt inne. »Sie ist … in meine Rache verwickelt worden.«
»Du und deine Rache. Hast du nie daran gedacht, dass du vielleicht glücklicher wärst, wenn du sie einfach vergessen würdest?«
»Ein Stein wäre vielleicht glücklicher als Vogel, der sich von der Erde erheben und frei davonfliegen könnte. Ein Stein ist kein Vogel. Hast du für Murcatto gearbeitet?«
»Ja. Und?«
»Wo ist sie?«
»Bist du deswegen hierhergekommen?«
»Deswegen.« Er blickte zur Decke. »Und wegen ihnen.« Er sah ihr in die Augen. »Und wegen dir.«
Sie grinste. Kleine Linien schnitten in die Haut um ihre Augenwinkel. Es überraschte ihn, wie sehr er es liebte, diese Fältchen zu sehen. »Cas, Cas. Dafür, dass du so ein schlauer Hund bist, bist du doch ein dämlicher Drecksack. Du suchst immer an den falschen Orten nach den falschen Dingen. Murcatto ist in Ospria bei Rogont. Sie hat dort bei der Schlacht mitgekämpft. Das weiß doch jeder, der Ohren hat.«
»Ich hatte nichts gehört.«
»Du hörst nicht zu. Sie ist jetzt ganz dicke mit dem großen Zauderer. Ich vermute, dass er sie an Orsos Stelle setzen wird, um sich das Volk von Talins gewogen zu halten, wenn er nach der Krone greift.«
»Dann wird sie ihm folgen. Zurück nach Talins.«
»Genau.«
»Dann werde ich ihnen folgen. Zurück nach Talins.« Schenkt runzelte die Stirn. »Ich hätte die letzten Wochen dort bleiben und einfach auf sie warten können.«
»So ist das nun mal, wenn man ständig irgendwelchen Dingen nachjagt. Es klappt besser, wenn man darauf wartet, dass das, was man will, von selbst zu einem kommt.«
»Ich war sicher, dass du inzwischen einen anderen Mann gefunden haben würdest.«
»Ich habe einige gefunden. Es ist nur keiner hier hängen geblieben.« Sie streckte die Hand zu ihm aus. »Bereit zum Mitsummen?«
»Immer.« Er nahm ihre Hand, und sie führte ihn aus dem Zimmer, durch die Tür und die Treppe hinauf.