NEUE ANFÄNGE

Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne schien über das Ackerland. Ein blasser Regenbogen bog sich vom grauen Himmel. Monza fragte sich, ob es dort, wo er den Boden berührte, wirklich ein Elfental gab, wie ihr Vater es ihr immer erzählt hatte. Oder ob da nur derselbe Scheiß war wie überall. Sie beugte sich aus dem Sattel und spuckte in den Weizen.

Elfenscheiß vielleicht.

Sie schlug die nasse Kapuze zurück und sah grimmig nach Westen, blickte den Regenwolken nach, die nach Puranti zogen. Falls es doch so etwas wie Gerechtigkeit gab, dann würden sie den Getreuen Carpi und die Tausend Klingen mit einem sintflutartigen Schauer durchweichen. Die Vorreiter des Söldnerheeres waren sicher nicht mehr als einen Tag hinter ihnen. Aber es gab keine Gerechtigkeit, wie Monza sehr wohl wusste. Die Wolken pissten sich dort aus, wo sie gerade wollten.

Der feuchte Winterweizen war mit kleinen Flecken roter Blumen durchzogen, wie Blutspritzer auf dem lohfarbenen Land. Das Getreide war bald reif zur Ernte – nur dass es hier niemanden mehr gab, der diese Ernte einbringen konnte. Rogont tat das, was er am besten konnte. Er war auf dem Rückzug, und die Bauern nahmen alles, was sie tragen konnten, und zogen sich mit ihm zurück nach Ospria. Sie wussten, dass die Tausend Klingen kamen, und sie wussten, dass es nicht gut sein würde, wenn man sie dann noch hier antraf. Es gab keine berüchtigteren Plünderer auf der Welt als jene Männer, die Monza früher einmal befehligt hatte.

Plünderung, hieß es bei Farans, ist Raub in einem so großen Umfang, dass er mehr ist als bloßes Verbrechen und in den Bereich der Politik hineinspielt.

Sie hatte Bennas Ring verloren. Immer wieder stupste sie mit der Daumenspitze an ihren Mittelfinger und war endlos enttäuscht, wenn sie merkte, dass er nicht mehr da war. Ein hübscher Kiesel wie der Rubin hatte nichts daran geändert, dass Benna tot war. Aber es fühlte sich trotzdem so an, als hätte sie nun jenes letzte kleine bisschen von ihm verloren, an das sie sich noch hatte klammern können. Eines jener letzten kleinen Teile ihres Selbst, die es sich noch zu erhalten lohnte.

Allerdings konnte sie von Glück sagen, dass sie in Puranti nicht mehr als diesen Ring verloren hatte. Sie war leichtsinnig gewesen, und beinahe hatte das ihr Ende bedeutet. Sie musste mit dem Rauchen aufhören. Einen neuen Anfang machen. Sie musste einfach, und trotzdem rauchte sie mehr denn je. Jedes Mal, wenn sie aus dem süßen Vergessen erwachte, sagte sie sich, dass es das letzte Mal gewesen war, aber nur wenige Stunden später drang ihr die Verzweiflung wie Schweiß aus jeder Pore. Wellen kranken Verlangens wie eine hereinströmende Flut, die immer höher brandete. Jedes Mal, das sie widerstand, erforderte eine heldenhafte Willensanstrengung, und Monza war keine Heldin, auch wenn die Bevölkerung von Talins sie einst wie eine gefeiert hatte. Sie hatte ihre Pfeife weggeworfen und dann in verschwitzter Panik eine neue gekauft. Sie war sich nicht sicher, wie oft sie den schwindenden Klumpen Spreu ganz unten in der einen oder anderen Packtasche versteckt hatte. Aber sie hatte feststellen müssen, dass es nicht so einfach ist, etwas vor sich selbst zu verstecken.

Man weiß ja immer, wo es ist.

»Mir gefällt diese Gegend gar nicht.« Morveer erhob sich von dem schwankenden Sitz auf dem Wagen und sah über das flache Land. »Es ist genau die richtige Umgebung für einen Hinterhalt.«

»Deswegen sind wir ja hier«, erwiderte Monza schlecht gelaunt. Hecken, kleine Baumgruppen, braune Häuser und Scheunen, einzelne oder mehrere, verteilten sich über die Felder und boten reichlich Verstecke. Kaum etwas bewegte sich. Es gab auch kaum Geräusche, abgesehen von den Krähen, dem Wind, der an der Wagenplane riss, und den ratternden Rädern, die gelegentlich platschend durch Pfützen rollten.

»Haben Sie umsichtig geprüft, ob Sie sich auf Rogont verlassen können?«

»Mit Umsicht gewinnt man keine Schlachten.«

»Nein, damit plant man Morde. Rogont ist selbst für einen Großherzog äußerst wenig vertrauenswürdig, und außerdem ist er ein alter Feind von Ihnen.«

»Ich kann ihm insoweit trauen, dass er das tut, was in seinem eigenen Interesse liegt.« Die Frage ärgerte sie umso mehr, da sie sich ständig genau dieselbe stellte, seit sie Puranti verlassen hatten. »Für ihn liegt kaum ein Risiko darin, den Getreuen Carpi zu töten, aber die Sache würde sich für ihn enorm lohnen, wenn ich ihm anschließend die Tausend Klingen brächte.«

»Es wäre jedoch wohl kaum das erste Mal, dass Sie sich verrechneten. Was, wenn wir hier hängen bleiben, direkt auf dem Weg, den das nachrückende Heer nehmen wird? Sie haben mich dafür angeheuert, um einen Mann nach dem anderen zu töten, und nicht, um ganz allein einen Krieg …«

»Ich habe Sie angeheuert, um einen Mann in Westport zu töten, und Sie haben gleich noch fünfzig weitere umgebracht. Von Ihnen brauche ich mir keine Vorträge über Umsicht anzuhören.«

»Es waren kaum mehr als vierzig, und das hatte seinen Grund vielmehr darin, dass ich zu viel Sorgfalt darauf verwendete, den richtigen Mann zu erwischen, und nicht zu wenig!

Fiel Ihre Metzgerrechnung in Cardottis Haus der Sinnesfreuden vielleicht geringer aus? Oder in Herzog Saliers Palast? Oder in Caprile, wo wir schon davon reden? Bitte entschuldigen Sie, wenn ich wenig Vertrauen in Ihre Fähigkeiten habe, Gewalt nur begrenzt anzuwenden!«

»Das reicht jetzt!«, fauchte sie ihn an. »Sie sind wie eine Ziege, die nie aufhört zu meckern! Tun Sie, wofür ich Sie bezahle, und sonst nichts!«

Morveer zog hart die Zügel an und brachte den Wagen ruckartig zum Stehen. Day kreischte, als sie beinahe ihren Apfel fallen ließ. »Ist das der Dank, den ich für Ihre rechtzeitige Rettung in Visserine bekomme? Nachdem Sie meinen weisen Rat so entschieden überhört hatten?«

Vitari, die es sich zwischen ihren Vorräten hinten auf dem Wagen einigermaßen bequem gemacht hatte, streckte einen langen Arm hoch. »Diese Rettung war ebenso mein Werk wie seins. Mir hat auch noch niemand gedankt.«

Morveer überhörte das. »Vielleicht sollte ich mir einen dankbareren Dienstherrn suchen!«

»Und ich mir vielleicht einen gehorsameren scheiß Giftmischer!«

»Vielleicht …! Aber warten Sie.« Morveer reckte einen Finger in die Höhe und kniff die Augen zusammen. »Warten Sie.« Er spitzte die Lippen und holte tief Luft, hielt sie eine Weile an und atmete dann langsam aus. Und noch einmal. Espe ritt zu ihnen hinüber und sah mit gehobenen Brauen Monza an. Noch ein Atemzug, und Morveers Augen öffneten sich wieder, dann stieß er ein ekelhaft gekünsteltes Glucksen aus. »Vielleicht … sollte ich mich ganz ernsthaft entschuldigen.«

»Was?«

»Mir ist klar, dass ich … im Umgang nicht immer einfach bin.« Vitari platzte laut lachend heraus, und Morveer verzog das Gesicht, sprach aber weiter. »Wenn ich Ihnen stets zu widersprechen scheine, dann nur deshalb, weil ich nur das Beste für Sie und Ihre Unternehmungen im Sinn habe. Es war stets einer meiner Fehler, dass ich in meinem Streben nach hervorragenden Leistungen zu kompromisslos bin. Für einen Mann, der notgedrungen Ihr bescheidener Diener sein sollte, gibt es keine wichtigere Eigenschaft als eine gewisse Nachgiebigkeit! Ob ich Sie wohl dazu überreden könnte … mir mit heldenhafter Willensanstrengung noch einmal entgegenzukommen? Damit wir diese unangenehme Situation überwinden?« Er schnalzte mit den Zügeln und ließ den Wagen weiterrollen, wobei er über die Schulter hinweg weiter dünn lächelte. »Ich spüre es! Ein neuer Anfang!«

Monza fing Days Blick ein, als sie, sanft auf dem Bock hin und her schaukelnd, an ihr vorüberfuhr. Das blonde Mädchen hob die Augenbrauen, knabberte den Apfel bis auf den Stiel ab und warf den Rest in das Feld. Vitari schälte sich hinten auf dem Wagen aus ihrem Mantel und streckte sich auf der Plane im Sonnenschein aus. »Die Sonne kommt wieder raus. Ein neuer Anfang.« Sie deutete über das Land und legte sich die Hand aufs Herz. »Und oooooh, ein Regenbogen! Sie wissen doch, man sagt, dass dort, wo er auf die Erde trifft, ein Elfental liegt!«

Monza sah ihnen finster nach. Sie würden eher wirklich auf ein Elfental stoßen, als dass Morveer einen neuen Anfang machte. Sie traute seinem plötzlichen Gehorsam noch weniger als seinem ständigen Gejammer.

»Vielleicht möchte er bloß liebgehabt werden«, ertönte Espes raues Flüstern, als sie weiterritten.

»Als ob die Menschen sich mit einem Schlag verändern könnten, so.« Monza schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern.

»Das ist aber doch die einzige Art und Weise, wie sie sich wirklich ändern, oder?« Sein eines Auge starrte sie an. »Wenn die Dinge um sie herum sich verändern? Männer sind ziemlich zerbrechlich, würd’ ich sagen. Sie verbiegen sich nicht so leicht. Sie zerbrechen dann eher. Und dann finden sie eine neue Form.«

Vielleicht brannte man sie ihnen auch ein. »Wie geht’s deinem Gesicht?«, fragte sie leise.

»Juckt.«

»Hat es wehgetan, die Sache beim Augenmacher?«

»Verglichen mit dem Schmerz, wenn man sich den Zeh stößt oder wenn einem das Auge rausgebrannt wird, war es eher in der Nähe von dem Zeh.«

»Wie die meisten Sachen.«

»Wenn man eine Klippe hinunterstürzt?«

»Ist gar nicht so schlimm, solange man ruhig liegen bleibt. Wenn man versucht aufzustehen, dann fängt es ein bisschen an zu puckern.« Das belohnte er mit einem Grinsen, aber er grinste inzwischen viel weniger als früher. Nach dem, was er durchgemacht hatte, war das nicht besonders verwunderlich. Was er wegen ihr durchgemacht hatte. »Ich glaube … ich sollte mich bei dir dafür bedanken, dass du mir noch einmal das Leben gerettet hast. Das wird langsam zur Gewohnheit.«

»Aber dafür bezahlst du mich doch, oder, Häuptling? Eine wohlgeratene Arbeit ist sich selbst Lohn genug, hat mein Vater immer gesagt. Tatsache ist, dass ich das ganz gut kann. Als Kämpfer bin ich ein Mann, der Respekt einfordert. Bei allem anderen bin ich bloß ein großer, unbeholfener Arsch, der ein Dutzend Jahre mit Krieg verschwendet hat und daraus nichts weiter mitgenommen hat als blutige Träume und ein Auge weniger als die meisten anderen Leute. Aber ich habe noch immer meinen Stolz. Ein Mann muss eben das sein, was er nun mal ist, würd’ ich sagen. Was bleibt ihm sonst? Er kann nur so tun als ob. Und wer würde schon gern die ganze Zeit über so tun, als ob er etwas wäre, das er gar nicht ist?«

Gute Frage. Glücklicherweise hatten sie eine Hügelkuppe erklommen, und es blieb ihr erspart, über eine Antwort nachdenken zu müssen. Die Überreste einer kaiserlichen Straße erstreckten sich vor ihnen in einer pfeilgeraden, braunen Linie quer durch die Felder. Acht Jahrhunderte alt, zählte sie trotzdem noch zu den besten Straßen Styriens. Ein trauriges Zeugnis für die nachfolgenden Regierungen. Nicht weit von der Straße entfernt lag ein Gehöft. Ein Steinhaus mit zwei Stockwerken, geschlossenen Fensterläden, einem roten Ziegeldach, das vom Alter schon moosbraun war, und ein kleiner Stall daneben. Eine hüfthohe, mit Flechten bewachsene Trockensteinmauer zog sich um einen schlammigen Hof, ein paar magere Vögel pickten in der Erde. Gegenüber dem Haus stand eine Scheune aus Holz, deren Dach in der Mitte eingesunken war. Eine Wetterfahne in Form einer geflügelten Schlange drehte sich schwach auf dem schiefen Türmchen.

»Da sind wir!«, rief sie, und Vitari hob den Arm, um anzuzeigen, dass man sie gehört hatte.

Ein Bach schlängelte sich an den Gebäuden vorbei und führte zu einer Wassermühle, die eine oder zwei Meilen weit entfernt stand. Der Wind frischte auf, schüttelte die Blätter einer Hecke, ließ den Weizen sanft wogen und trieb die ausgefransten Wolken über den Himmel, deren Schatten über das Land darunter jagten.

Es erinnerte Monza an den Hof, auf dem sie geboren worden war. Sie dachte an Benna, an den Jungen, der durchs Getreide gelaufen war, so dass man nur seinen Scheitel über dem reifenden Korn hatte sehen können, und sie hörte sein helles Lachen. Vor langer Zeit, lange bevor ihr Vater gestorben war. Monza gab sich einen Ruck und machte ein grimmiges Gesicht. Rührseliger, disziplinloser, nostalgischer Scheiß. Sie hatte den Hof gehasst. Das Graben, das Pflügen, den Dreck unter den Fingernägeln. Und wofür? Es gab nur wenige andere Dinge, für die man so hart arbeiten musste, um so wenig herauszubekommen.

Das einzig Vergleichbare, das ihr spontan einfiel, war Rache.

Soweit sich Morveer zurückerinnern konnte, hatte er schon immer ein besonderes Talent dafür besessen, das Falsche zu sagen. Wenn er eigentlich etwas beitragen wollte, hörte er sich so an, als wolle er sich beschweren. Wenn er sich besorgt zeigen wollte, wirkte er beleidigend. Wenn er ganz ernsthaft seine Unterstützung anbieten wollte, warf man ihm vor, andere in ein schlechtes Licht zu rücken. Dabei wollte er nur geschätzt und respektiert werden und dazugehören, aber jeder seiner Versuche, sich als netter Kumpel zu zeigen, machte die Sache gewöhnlich nur noch schlimmer.

Nach dreißig Jahren gescheiterter Beziehungen – einer Mutter, die ihn verlassen hatte, einer Frau, die ihn verlassen hatte, Gehilfen, die ihn verlassen, beraubt oder versucht hatten, ihn zu töten, meist mit Gift, aber bei einer denkwürdigen Gelegenheit auch mit einer Axt – glaubte er inzwischen allmählich, dass er einfach nicht gut mit anderen Menschen zurechtkam. Er hätte ja eigentlich froh sein sollen, dass der ekelhafte Säufer Nicomo Cosca tot war, und tatsächlich war er zu Anfang wirklich erleichtert gewesen. Aber schon bald waren die dunklen Wolken zurückgekehrt und hatten das uralte Fundament leichter Depression erneut errichtet. Er stellte fest, dass er mit seiner schwierigen Dienstherrin schon wieder über jede Einzelheit ihrer Geschäfte stritt.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sich einfach in die Berge zurückgezogen hätte, um als Eremit zu leben, wo er die Gefühle anderer nicht verletzen konnte. Aber die dünne Luft wäre nicht gut für seine zarte Konstitution gewesen. Und daher hatte er sich entschlossen, noch einmal den heroischen Versuch zu unternehmen, ein guter Kamerad zu werden. Den Verfehlungen anderer gegenüber nachgiebiger, großzügiger und gelassener zu bleiben. Den ersten Schritt dazu hatte er unternommen, während seine Gefährten das Gelände nach ersten Zeichen der Tausend Klingen absuchten: Er hatte vorgegeben, Kopfschmerzen zu haben, und die Zeit genutzt, um eine kleine Überraschung vorzubereiten, einen Topf Pilzsuppe nach dem Rezept seiner Mutter. Wahrscheinlich das einzig Greifbare, was sie ihrem einzigen Sohn hinterlassen hatte.

Beim Zerteilen der Pilze hatte er sich in den Finger geschnitten, dann hatte er sich den Ellenbogen am heißen Herd versengt, und beide Ereignisse hätten beinahe dazu geführt, dass er seinen Neuanfang in einem Anfall unproduktiver Wut über den Haufen geworfen hätte. Aber bis er schließlich hörte, dass die Pferde zum Gehöft zurückkehrten, als gerade die Sonne unterging und sich die Schatten über den Hof draußen legten, hatte er dann doch den Tisch gedeckt, zwei Kerzenstummel verbreiteten ein wohliges Licht, zwei Brotlaibe waren aufgeschnitten, und der Topf mit der Suppe stand bereit und verströmte einen leckeren Geruch.

»Hervorragend.« Es stand außer Frage, dass er wieder in Ehren aufgenommen werden würde.

Doch schon beim Eintreten der Essensgäste schwand sein Optimismus. Sie trampelten ins Haus – im Übrigen, ohne die Stiefel auszuziehen, so dass sie den Dreck von draußen über seinen glänzenden Fußboden verteilten – und betrachteten die von ihm so liebevoll gewienerte Küche, den sorgsam gedeckten Tisch und die unter vielen Mühen gekochte Suppe mit der Begeisterung eines Sträflings, dem man den Richtblock zeigt.

»Was ist das denn?« Murcatto schob die Lippen vor und runzelte die Stirn noch misstrauischer als gewöhnlich.

Morveer tat sein Bestes, um diesen kitzligen Augenblick zu überspielen. »Eine Entschuldigung. Da unser zahlenbesessener Koch nach Talins zurückgereist ist, dachte ich, vielleicht könnte ich die Lücke füllen, die er hinterlassen hat, und das Essen vorbereiten. Ein Rezept meiner Mutter. Setzen Sie sich, bitte setzen Sie sich!« Er wuselte um den Tisch, zog die Stühle zurück, und schließlich fanden alle ihren Platz, wenngleich sie auch immer noch unbehagliche Seitenblicke tauschten.

»Suppe?« Morveer trat mit einem Topf und bereitwillig geschwungener Kelle neben Espe.

»Nicht für mich. Du hast mich letztes Mal … wie hast du noch gesagt …«

»Paralysiert«, half Murcatto.

»Genau. Letztes Mal hast du mich paralysiert.«

»Du vertraust mir nicht?«, fauchte Morveer.

»Das liegt in der Natur der Sache«, erklärte Vitari, die ihn unter ihren rotblonden Brauen hervor ansah. »Sie sind ein Giftmischer.«

»Nach all dem, was wir miteinander durchgemacht haben? Du misstraust mir, wegen einer kleinen Lähmung?« Da unternahm er einen heroischen Versuch, das schlingernde Schiff ihrer Geschäftsbeziehung wieder auf geraden Kiel zu bringen, und niemand wusste das auch nur im Geringsten zu würdigen. »Wenn es meine Absicht gewesen wäre, dich zu vergiften, dann hätte ich dir einfach Schwarzlavendel aufs Kissen gestreut und dich in einen Schlaf fallen lassen, der niemals geendet hätte. Oder ich hätte dir Amerindendornen in die Stiefel gesteckt, Larync auf den Axtgriff geschmiert oder Senfwurzel in die Wasserflasche getan.« Er beugte sich zum Nordmann und packte den Griff der Kelle so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Es gibt abertausend Wege, dich zu töten, ohne dass du auch nur den Hauch eines Verdachts hegen würdest! Dafür würde ich mir doch nicht die Mühe machen, ein ganzes Abendessen zu kochen

Espes verbliebenes Auge starrte direkt in seines, und einen winzigen Augenblick lang fragte sich Morveer, ob er nach langen Jahren doch einmal wieder einen Faustschlag ins Gesicht bekommen würde. Dann nahm der Nordmann seinen Löffel, tunkte ihn in die Schüssel, pustete vorsichtig und schlürfte die Suppe. »Schmeckt gut. Pilze, oder?«

»Äh … ja, Pilze.« Morveer hob die Kelle. »Also, will vielleicht noch jemand keine Suppe?«

»Ich!« Die Stimme ertönte aus dem Nichts und wirkte auf Morveer, als hätte man ihm kochendes Wasser ins Ohr gespritzt. Er machte einen Satz zur Seite und kippte dabei den Tiegel um, so dass die heiße Suppe sich über den Tisch und auf Vitaris Schoß ergoss. Sie sprang mit einem lauten Aufschrei hoch, und nasses Besteck schleuderte durch die Gegend. Murcattos Stuhl flog klappernd beiseite, als sie sich hastig erhob und nach ihrem Degen griff. Day ließ eine angebissene Scheibe Brot fallen, als sie erschreckt zur Tür zurückwich. Morveer fuhr herum, den tropfenden Schöpflöffel hilflos in der Faust erhoben …

Eine Gurkhisin stand lächelnd neben ihm, die Arme verschränkt. Ihre Haut war so weich wie die eines Kindes, makellos wie dunkles Glas, und die Augen waren mitternachtsschwarz.

»Halt!«, bellte Murcatto und hob eine Hand. »Halt! Sie ist eine Freundin.«

»Meine Freundin ist sie nicht!« Morveer versuchte immer noch verzweifelt zu begreifen, wie diese Frau überhaupt derart plötzlich hatte auftauchen können. Es war keine Tür in der Nähe, das Fenster war fest geschlossen und verriegelt, der Boden und die Decke unversehrt.

»Sie haben keine Freunde, Giftmischer«, schnurrte sie ihm entgegen. Ihr langer, brauner Mantel stand offen. Ihr Körper schien darunter ganz und gar mit weißen Verbänden umwickelt zu sein.

»Wer sind Sie?«, verlangte Day zu wissen. »Und wo, zur Hölle, sind Sie hergekommen?«

»Man pflegte mich den Ostwind zu nennen.« Die Frau zeigte zwei Reihen überwältigend perfekter, weißer Zähne, während sie mit einem Finger elegante Kreise in die Luft malte. »Aber jetzt nennt man mich Ischri. Ich komme aus dem sonnengebleichten Süden.«

»Sie meinte …«, setzte Morveer an.

»Zauberei«, raunte Espe, der Einzige der Anwesenden, der ruhig sitzen geblieben war. Er hob in aller Seelenruhe seinen Löffel und schlürfte noch etwas Suppe. »Gebt mir mal das Brot, ja?«

»Verdammt sei dein Brot!«, zischte Morveer zurück. »Und deine Zauberei! Wie sind Sie hier hereingekommen?«

»Sie ist eine von denen.« Vitari hielt ein Besteckmesser in der Faust und hatte die Augen zu tödlichen Schlitzen zusammengekniffen, während die Suppe vom Tisch rann und unaufhörlich auf den Boden tropfte. »Eine Verzehrerin.«

Die Gurkhisin fuhr mit einer Fingerspitze durch die Suppenlache und schleckte ihn dann mit der Zunge ab. »Wir alle müssen etwas essen, oder nicht?«

»Ich stehe nur nicht gern auf der Speisekarte.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sehr wählerisch, was meine Nahrung betrifft.«

»Mit Ihrer Sorte hatte ich schon einmal zu tun, in Dagoska.« Morveer verstand nicht ganz, worum es nun ging, und das war ein Gefühl, das er ganz und gar nicht mochte, aber Vitari schien besorgt, und das wiederum ängstigte ihn. Sie war ganz sicher keine Frau, die sich irgendwelchen verstiegenen Ideen hingab. »Was hast du da für Vereinbarungen getroffen, Murcatto?«

»Jene, die nötig waren. Sie arbeitet für Rogont.«

Ischri ließ den Kopf so weit zur Seite sinken, dass er beinahe rechtwinklig wegkippte. »Oder vielleicht arbeitet auch er für mich.«

»Mir ist egal, wer der Reiter und wer der Esel ist«, zischte Murcatto, »solange einer von Ihnen beiden mir Männer schickt.«

»Das tut er. Zwei mal zwanzig seiner besten.«

»Rechtzeitig?«

»Wenn die Tausend Klingen nicht früher eintreffen, und das werden sie nicht. Der Großteil ihrer Truppen lagert noch immer sechs Meilen entfernt von hier. Es hat sie aufgehalten, ein Dorf auszuplündern. Dann mussten sie dort alles in Brand stecken. Eine zerstörerische kleine Brut.« Ihr Blick fiel auf Morveer. Die schwarzen Augen machten ihn unnötig nervös. Ihm gefiel es überhaupt nicht, dass sie in Verbände gewickelt war. Und er hätte nur zu gern gewusst, wieso …

»Sie kühlen mich«, sagte sie. Er blinzelte und fragte sich, ob er seine Überlegung laut ausgesprochen hatte. »Hatten Sie nicht.« Nun überfiel ihn eine Gänsehaut bis an die Haarwurzeln. Genau wie damals, als die Aufseherinnen im Waisenhaus seine geheimen Materialien entdeckt und sofort erraten hatten, wozu sie dienten. Er konnte sich der völlig irrationalen Erklärung nicht verschließen, dass diese gurkhisische Teufelin aus irgendeinem Grund seine innersten Gedanken kannte. Dass sie wusste, was er getan hatte, Dinge, von denen er dachte, niemand würde es je herausfinden …

»Ich bin in der Scheune!«, kreischte er mit einer viel schrilleren Stimme, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Unter Schwierigkeiten senkte er sie ein wenig. »Ich muss einiges vorbereiten, wenn wir morgen Gäste haben werden. Komm, Day!«

»Ich esse nur eben auf.« Day hatte sich schnell mit ihrer Besucherin abgefunden und war damit beschäftigt, sich drei Brote auf einmal mit Butter zu beschmieren.

»Ah … ja … ich verstehe.« Er blieb kurz unruhig stehen, merkte aber, dass er nichts damit gewinnen konnte, wenn er wartete, außer die Sache noch peinlicher zu machen. Also schritt er zur Tür.

»Brauchen Sie Ihren Mantel?«, fragte Day.

»Mir ist mehr als warm genug!«

Erst als er aus der Tür des Hauses in die Dunkelheit trat, der Wind kühl über den Weizen fuhr und durch sein Hemd fasste, wurde ihm klar, dass ihm nicht annähernd warm genug sein würde. Aber nun war es zu spät, noch einmal hineinzugehen. Er hätte sich vollends lächerlich gemacht, und das kam absolut nicht in Frage.

»Nicht mit mir.« Er fluchte bitter, während er sich den Weg über den dunklen Hof bahnte, die Arme um den Oberkörper geschlungen und dennoch bereits zitternd. Er hatte sich von einer gurkhisischen Betrügerin mit ein paar einfachen Tricks aus der Ruhe bringen lassen. »Bandagierte Schlampe.« Nun, sie würden es alle noch erleben. »Oh ja.« Er hatte es am Schluss auch den Aufseherinnen im Waisenhaus gezeigt und sich für all die Peitschenhiebe gerächt. »Wir werden ja noch sehen, wer wem die Hiebe verpasst.« Vorsichtig sah er über seine Schulter, ob ihn auch niemand beobachtete. »Zauberei!«, zischte er verächtlich. »Ich werde euch allen noch ein oder zwei Tricks zeigen, die – iiiih!« Sein Stiefel trat in etwas Weiches, und er glitt aus und landete mit dem Hintern in einem Schlammloch. »Bah! Verflucht sei alles bis zu deinem verdammten Arsch!« So viel zu den heldenhaften Bemühungen und den neuen Anfängen.