RATTEN IM SACK

Cosca kniff die Augen zusammen, als er auf das Dach des Turmes trat. Selbst das Sonnenlicht schien es darauf anzulegen, ihn zu foltern, aber er ging davon aus, dass er das mehr als verdiente. Unter ihm erstreckte sich Visserine, ein Durcheinander aus Backstein- und Fachwerkhäusern, Villen aus cremefarbenem Stein und den großen Kronen allmählich ergrünender Bäume, die dort aufragten, wo sich Parks und breite Prachtstraßen befanden. Überall schimmerten die Fenster, und die Statuen aus farbigem Glas, die auf den Dachkanten der besonders auffälligen Gebäude standen, fingen das Morgenlicht und glitzerten wie Edelsteine. In der Umgebung erhoben sich weitere Türme, Dutzende, einige weitaus höher als der, auf dem er stand, und warfen ihre langen Schatten über das Häusergewirr.

Südlich lag das graublaue Meer, und vom berühmten Glasbläserquartier auf der Insel direkt vor der Stadt erhob sich noch immer der Rauch der Fabriken; darüber kreisten wie kleine Flecken in ruhigem Flug die Seevögel. Im Osten war die Visser wie eine dunkle Schlange zwischen den Gebäuden zu erkennen, und vier Brücken verbanden die beiden Hälften der Stadt. Großherzog Saliers Palast thronte mächtig auf einer Insel inmitten des Stroms. Ein Palast, in dem Cosca viele angenehme Abende verbracht hatte, als Ehrengast des großen Kunstkenners höchstselbst. Zu einer Zeit, da er noch geliebt, gefürchtet, bewundert worden war. Es war so lange her, dass es ihm vorkam, als erinnere er sich an das Leben eines anderen.

Monza stand bewegungslos an der Brustwehr, eingerahmt vom blauen Himmel. Die Klinge ihres Degens und ihr sehniger linker Arm bildeten eine Linie, eine perfekte Gerade, von der Schulter bis zur Degenspitze. Der Stahl leuchtete hell, der Rubin an ihrem Mittelfinger glitzerte blutig, ihre Haut glänzte vor Schweiß. Ihr Hemd klebte an ihrem Körper. Sie ließ den Degen sinken, als er näher kam, während er den Weinkrug hob und einen langen, kühlen Schluck trank.

»Ich hatte mich gefragt, wie lange du durchhalten würdest.«

»Es ist nur Wasser darin, zu meinem großen Leidwesen. Hast du meinen feierlichen Eid nicht gehört, dass ich nie wieder Wein zu mir nehmen werde?«

Sie schnaubte. »Das habe ich schon vorher oft genug gehört, ohne dass es je etwas bedeutet hätte.«

»Ich befinde mich auf dem langen und schmerzhaften Weg der Läuterung.«

»Das habe ich auch schon oft gehört, und das hatte noch weniger zu bedeuten.«

Cosca seufzte. »Was muss ein Mann denn tun, damit man ihn ernst nimmt?«

»Einmal im Leben sein Wort halten?«

»Mein zartes Herz, so oft in der Vergangenheit wurde es schon gebrochen! Kann es diesen neuerlichen Schlag verkraften?« Er trat neben sie und stützte den Fuß auf die Brustwehr. »Ich wurde in Visserine geboren, wie du weißt, nur wenige Straßen von hier entfernt. Eine glückliche Kindheit, aber eine wilde Jugend, voller hässlicher Zwischenfälle. So wie der eine, der mich zwang, aus der Stadt zu fliehen und mein Glück als Söldner zu versuchen.«

»Dein ganzes Leben war voller hässlicher Zwischenfälle.«

»Das ist wohl wahr.« Tatsächlich blickte er auf nur wenige schöne Erlebnisse zurück. Und die meisten davon, erkannte Cosca, als er Monza von der Seite ansah, hatten mit dieser Frau zu tun. Viele der schönsten Augenblicke seines Lebens, aber auch die allerschlimmsten. Er zog scharf die Luft ein und beschattete die Augen mit einer Hand, dann sah er über die graue Linie der Stadtmauer nach Westen zu dem Flickenteppich der Felder vor den Toren. »Noch kein Zeichen von unseren Freunden aus Talins?«

»Sie werden bald kommen. General Ganmark ist kein Mann, der zu spät zu einer Verabredung erscheint.« Sie hielt kurz inne, runzelte dann, wie so oft, die Stirn. »Wann wirst du endlich damit kommen, du hättest es mir ja gleich gesagt?«

»Dir was gesagt?«

»Wegen Orso.«

»Du weißt, was ich dir immer gesagt habe.«

»Traue niemals deinem Dienstherrn.« Eine Lektion, die ihm die Herzogin Sefeline von Ospria beigebracht und für die er teuer bezahlt hatte. »Und nun bekommst du dein Geld von mir.«

Cosca versuchte zu grinsen, obwohl seine aufgesprungenen Lippen dabei schmerzten. »Aber wir sind doch angemessen misstrauisch, was unseren Umgang miteinander angeht.«

»Natürlich. Ich würde dir nicht einmal mein Nachtgeschirr anvertrauen, damit du meine Kacke zum Fluss trägst.«

»Wie schade. Deine Kacke riecht bestimmt nach Rosen.« Er lehnte sich gegen die Brustwehr und blinzelte in die Sonne. »Weißt du noch, wie wir uns früher immer duelliert haben, früh am Morgen? Bevor du zu gut wurdest.«

»Bevor du zu viel gesoffen hast.«

»Nun, betrunken konnte ich ja wohl nicht mehr gegen dich antreten, oder? Kein Mann sollte sich über einen gewissen Punkt hinaus erniedrigen, schon gar nicht vor dem Frühstück. Ist das ein Calvez, den du da trägst?«

Sie hob den Degen, und die Sonnenstrahlen liefen über die Schneide. »Ich hatte ihn für Benna anfertigen lassen.«

»Für Benna? Was, zur Hölle, sollte denn der mit einem Calvez? Ihn als Spieß benutzen und Äpfel dran braten?«

»Er hat nicht einmal das damit gemacht, wie sich dann herausstellte.«

»Ich hatte früher mal einen, weißt du. Ein verdammt guter Degen. Habe ich dann leider beim Kartenspielen verloren. Auch einen Schluck?« Er hielt ihr den Krug hin.

Sie streckte die Hand aus. »Ich könnte …«

»Ha!« Er kippte ihr das Wasser ins Gesicht, und sie schrie überrascht auf, stolperte zurück, und die Tropfen flogen durch die Luft. Er riss den Degen aus der Scheide, und als der Krug aufs Dach prallte, hatte er bereits ausgeholt. Es gelang ihr, den ersten Streich zu parieren, unter dem zweiten duckte sie sich verzweifelt weg, rutschte aus, fiel hin, rollte zur Seite, als Coscas Klinge an Bleischindeln des Daches entlangkratzte, vor dem sie gerade noch gestanden hatte. Sie kam geduckt wieder auf die Beine, den Degen bereit.

»Du wirst weich, Murcatto.« Er lachte leise, als er zur Mitte des Daches tänzelte. »Auf den alten Trick mit dem Wasser im Gesicht wärst du vor zehn Jahren nicht hereingefallen.«

»Ich bin jetzt auch nicht drauf reingefallen, du Idiot.« Sie wischte sich mit der behandschuhten Hand über die Augenbrauen, und Wasser rann von den nassen Haarspitzen, aber sie ließ ihn jetzt nicht mehr aus den Augen. »Hast du noch was anderes auf der Pfanne als den Wassertrick, oder ist das alles, was von deiner Fechtkunst übrig ist?«

Viel mehr war da nicht mehr, wenn er ehrlich war. »Wieso finden wir das nicht einfach heraus?«

Sie sprang vor, und ihre Klingen schlugen federnd aneinander. Das Metall schabte und sang. Sie hatte eine lange Narbe an ihrer nackten rechten Schulter, und eine weitere ringelte sich über ihren Unterarm und verschwand in dem schwarzen Handschuh.

Er deutete mit seinem Degen darauf. »Kämpfst du jetzt mit links? Ich hoffe, du machst das nicht aus Mitleid mit einem alten Mann.«

»Mitleid? Du solltest mich besser kennen.« Er wehrte einen Stoß ab, aber der nächste folgte so schnell, dass er nur knapp aus dem Weg springen konnte und die Klinge ein gezacktes Loch in sein Hemd riss, bevor sie wieder zurückschnellte.

Er hob die Brauen. »Wie gut, dass ich bei meiner letzten Sauftour einiges an Gewicht verloren habe.«

»Du könntest noch mehr verlieren, wenn du mich fragst.« Sie umkreiste ihn, die Zunge zwischen den Zähnen.«

»Versuchst du, die Sonne in den Rücken zu bekommen?«

»Du hättest mir diese dreckigen Tricks gar nicht erst beibringen sollen. Hättest du vielleicht Lust, auch die Linke zu benutzen, damit wir gleiche Bedingungen haben?«

»Und einen Vorteil aufgeben? Du kennst mich ja wohl gut genug, dass ich das niemals täte!« Er deutete einen Schlag nach rechts an, nahm dann die andere Richtung und ließ sie ins Nichts parieren. Sie war schnell, aber nicht annähernd so schnell wie früher mit ihrer rechten Hand. Als sie an ihm vorbeiwollte, trat er ihr auf den Fuß, brachte sie ins Stolpern, und seine Degenspitze hinterließ einen kleinen Kratzer quer über der Narbe auf ihrer Schulter, so dass es wie ein Kreuz aussah.

Sie schielte auf die Wunde, an deren äußerstem Rand sich ein Blutstropfen bildete. »Du alter Drecksack.«

»Eine kleine Erinnerung, damit du immer an mich denkst.« Er wirbelte den Degen herum und ließ ihn mit großer Geste durch die Luft pfeifen. Sie sprang wieder auf ihn zu, und die Klingen schlugen aufeinander, schlugen, schlugen, stachen zu, parierten. Alles ein wenig ungeschickt, als versuchte man mit Handschuhen zu nähen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sie ihre Fechtkunst vor Publikum zur Schau gestellt, aber die Jahre waren nicht gnädig mit ihnen beiden umgesprungen.

»Eine Frage …«, murmelte er, während er die Augen nicht von ihr ließ. »Wieso hast du mich verraten?«

»Mir hingen deine blöden Witze zum Hals raus.«

»Ich verdiente es, verraten zu werden, das ist richtig. Jeder Söldner endet mit einem Messer in der Brust oder im Rücken. Aber von dir?« Er stieß zu und ließ einen Hieb folgen, vor dem sie zurückzuckte. »Nach allem, was ich dir beigebracht hatte? Was ich dir gegeben hatte? Sicherheit, Geld und einen Platz, wo du hingehörst? Ich habe dich wie meine Tochter behandelt!«

»Wohl eher wie deine Mutter. Du hast vergessen, wie oft du so besoffen warst, dass du in deine Kleidung geschissen hast. Ich schuldete dir etwas, aber das hatte seine Grenzen.« Sie umkreiste ihn, suchte nach einer Bresche, und die Spitzen ihrer Degenklingen waren kaum einen Fingerbreit voneinander entfernt. »Ich allein wäre dir vielleicht in die Hölle gefolgt, aber meinen Bruder wollte ich nicht dahin mitnehmen.«

»Wieso nicht? Der hätte sich dort glatt zu Hause gefühlt.«

»Fick dich doch!« Sie legte ihn mit einer Finte herein, veränderte den Stoßwinkel und zwang ihn, mit der Eleganz eines sterbenden Frosches beiseitezuhüpfen. Er hatte vergessen, was für eine schwere Arbeit das Fechten war. Seine Lungen brannten bereits, und Schultern, Unterarm, Handgelenk und Hand schmerzten wie verrückt. »Wenn ich es nicht gewesen wäre, hätten die anderen Hauptmänner es getan. Sesaria! Victus! Andiche!« Sie stieß jeden der verhassten Namen mit scharfem Klang hervor und schlug gegen den Degen in seiner Hand. »Sie alle konnten dich in Afieri gar nicht schnell genug loswerden!«

»Könnten wir den Namen dieses verdammten Orts vielleicht aus dem Spiel lassen?« Er parierte ihren nächsten Stoß und ging selbst zum Angriff über, dieses Mal beinahe mit seiner alten Spannkraft, und er trieb sie bis an den Rand des Daches. Er musste diesen Kampf beenden, bevor er an Erschöpfung starb. Wieder stieß er zu und bekam ihren Degen mit seinem zu fassen. Sie verlor das Gleichgewicht, und er drängte sie gegen die Brustwehr, zwang sie, sich rücklings immer weiter über die Zinnen zu beugen, und die Körbe der Waffen schabten aneinander, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zoll voneinander entfernt waren und die tief unter ihnen liegende Straße hinter ihrem Kopf ins Blickfeld rückte. Er fühlte ihren keuchenden Atem auf seiner Wange. Für einen kurzen Augenblick hätte er sie beinahe geküsst und sie gleichzeitig beinahe vom Dach geworfen. Vielleicht tat er nur deswegen weder das eine noch das andere, weil er sich nicht entscheiden konnte.

»Du warst mit der rechten Hand besser«, zischte er.

»Du warst vor zehn Jahren besser.« Sie rutschte unter seinem Degen hindurch, und ihr behandschuhter kleiner Finger tauchte aus dem Nichts auf und piekte ihn ins Auge.

»Iiiieeeh«, kreischte er und schlug die freie Hand auf sein Gesicht. Ihr Knie traf beinahe geräuschlos in seine Nüsse und schickte einen Speer aus Schmerz durch seinen Bauch bis in den Hals. »Uuuuffff …« Er stolperte, die Klinge fiel aus seinen zuckenden Fingern, und er krümmte sich atemlos zusammen. »Eine kleine Erinnerung, damit du immer an mich denkst.« Und damit fuhr die schimmernde Spitze von Monzas Degen über seine Wange und hinterließ einen brennenden Kratzer.

»Gah!« Er sank gegen die Bleischindeln. Wieder einmal rutschte er auf Knien. Es war doch nirgendwo so schön wie in einer vertrauten Umgebung …

Durch den tosenden Schmerz hindurch hörte er langsamen Applaus von der Treppe. »Vitari«, stöhnte er und blinzelte zu ihr hinüber, als sie ins Sonnenlicht trat. »Wie kommt es … dass du immer dann auftauchst … wenn ich völlig am Boden bin?«

»Weil ich daran so viel Spaß habe.«

»Ihr Luder wisst gar nicht, was ihr für ein Glück habt … dass ihr nie einen solchen Schmerz fühlen müsst … wie nach einem Tritt in die Nüsse.«

»Versuch’s mal mit Kinderkriegen.«

»Eine nette Einladung … wenn ich in den dazu notwendigen Regionen etwas weniger angeschlagen wäre, würde ich dich da sicherlich beim Wort nehmen.«

Aber wie so oft war sein Witz verschwendet. Vitari hatte ihre Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet, das außerhalb der Brustwehr lag, ebenso wie Monza. Cosca rappelte sich mühevoll und o-beinig wieder auf. Eine lange Kolonne von Reitern hatte einen Hügel westlich der Stadt erklommen, von zwei nahe gelegenen Türmen eingerahmt. Die Staubwolke von den Hufen ihrer Pferde hinterließ einen braunen Fleck am Himmel.

»Sie sind da«, sagte Vitari. Irgendwo hinter ihnen begann eine Glocke zu läuten, und schon bald fielen andere ein.

»Und dort«, sagte Monza. Eine zweite Kolonne erschien. Gleichzeitig zog Rauch über einen Hügel im Norden.

Cosca stand da, während die Sonne langsam den blauen Himmel hinaufstieg, und riskierte zweifelsohne einen heftigen Sonnenbrand auf seiner wachsenden kahlen Stelle auf dem Kopf, während er dem Heer Großherzog Orsos dabei zusah, wie es sich auf den Feldern rund um die Stadt verteilte. Ein Regiment nach dem anderen bezog seine Position, eine sorgfältig berechnete Bogenschussweite von den Stadtmauern entfernt. Eine große Einheit überquerte den Fluss in Richtung Norden und sorgte dafür, dass Visserine vollständig eingeschlossen war. Die Reiterei schirmte die Fußtruppen ab, bis sich die Soldaten in ordentlichen Reihen aufgestellt hatten, und zog sich dann wieder hinter diese Linien zurück. Die Truppen schienen fest entschlossen, alles zu plündern, was sie beim letzten Feldzug vielleicht übersehen haben mochten.

Zelte wurden errichtet, und Wagen, die wie kleine Punkte auf den schlammigen Straßen hinter den Linien erschienen, rückten mit Vorräten heran. Den winzigen Verteidigern auf den Mauern blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sich die Talineser in der Umgebung eingruben, so sauber und ordentlich wie ein riesiges Uhrwerk. Coscas Stil entsprach das nicht, nicht einmal in nüchternem Zustand. Das hier war eher ein Beispiel präzisier Pionierarbeit als genialer Kriegsführung, aber die Disziplin musste man dennoch bewundern.

Er breitete die Arme aus. »Willkommen, ihr alle, zur Belagerung von Visserine!«

Die anderen hatten sich ebenfalls auf dem Dach eingefunden und sahen zu, wie Ganmark die Stadt in die Zange nahm. Monza hatte die linke Hand in die Hüfte gestemmt, während die behandschuhte Rechte lose an ihrer Seite lag, und sie blickte mit düsterer Miene unter ihrem schwarzen Haar hervor. Espe stand auf der anderen Seite neben Cosca, die Brauen vorahnungsvoll zusammengezogen. Freundlich saß nahe der Tür zur Treppe und ließ die Würfel zwischen seinen im Schneidersitz überschlagenen Beinen rollen. Day und Vitari unterhielten sich leise etwas weiter entfernt an der Brüstung. Morveer sah sogar noch übellauniger aus als sonst, falls das überhaupt möglich war.

»Hat denn niemand hier so viel Humor, dass er nicht auch einer kleinen Belagerung gewachsen wäre? Lacht doch mal, Kameraden!« Cosca klopfte Espe herzhaft auf den breiten Rücken. »Man bekommt nicht jeden Tag eine derart gut organisierte Truppe zu sehen! Wir alle sollten Monzas Freund, General Ganmark, zu seiner außergewöhnlichen Geduld und Disziplin beglückwünschen. Vielleicht sollten wir ihm einen Brief schreiben.«

»Lieber General Ganmark.« Monza verzog den Mund, rollte die Zunge ein und spuckte über die Brustwehr. »Mit vielen Grüßen, Monzcarro Murcatto.«

»Eine schlichte Note«, erklärte Morveer, »aber er würde es sicherlich zu schätzen wissen.«

»Ziemlich viele Soldaten da unten«, brummte Espe.

Freundlichs Stimme drang leise zu ihnen hinüber. »Dreizehntausendvierhundert ungefähr.«

»Überwiegend talinesische Einheiten.« Cosca richtete sein Fernglas auf das große Heer. »Ein paar Regimenter von Orsos alten Verbündeten – die Flaggen von Etrisani am rechten Flügel, dort, nahe am Wasser, und ein paar von Cesale in der Mitte. Aber alles reguläre Truppen. Keine Spur von unseren alten Waffenbrüdern, den Tausend Klingen. Eine Schande. Es wäre doch schön, wenn wir alte Freundschaften wiederbeleben könnten, nicht wahr, Monza? Sesaria, Victus, Andiche. Und natürlich der Getreue Carpi.« Alte Freundschaften wiederbeleben … und sich an alten Freunden rächen.

»Die Söldner werden nach Osten ziehen.« Monza machte eine Kopfbewegung zum Fluss hinüber. »Und Herzog Rogont und seine Osprianer aufhalten.«

»Ein hübscher Spaß für alle Beteiligten, davon bin ich überzeugt. Aber wir zumindest sind ja nun einmal hier.« Cosca deutete auf die herumwimmelnden Soldaten vor der Stadt. »General Ganmark ist dort drüben, zumindest kann man davon ausgehen. Und der Plan lautet, uns alle in froher Runde wieder zusammenzubringen? Jedenfalls hoffen wir doch alle darauf, dass du einen Plan hast.«

»Ganmark ist ein sehr kultivierter Mann. Er hat eine Vorliebe für Kunst.«

»Und?«, fragte Morveer.

»Niemand besitzt mehr Kunstschätze als Großherzog Salier.«

»Seine Sammlung ist sehr beeindruckend.« Cosca hatte sie bei verschiedenen Gelegenheiten bewundert, oder jedenfalls so getan, während er vor allem Saliers Wein bewunderte.

»Die schönste in ganz Styrien, sagt man.« Monza war zur gegenüberliegenden Brustwehr hinübergegangen und sah nun zu Saliers Palast, der ruhig auf seiner Insel inmitten des Flusses thronte. »Wenn die Stadt fällt, dann wird Ganmark direkt zum Palast eilen, weil er ganz scharf darauf sein wird, all diese unbezahlbaren Werke vor dem Chaos zu schützen.«

»Beziehungsweise versuchen wird, sie für sich zu stehlen«, warf Vitari ein.

Monzas Kinn war noch entschlossener vorgereckt als sonst. »Orso wird darauf drängen, dass die Belagerung schnell zu Ende geht, damit er umso mehr Zeit hat, um Rogont zu erledigen. Er will den Achterbund ein für alle Mal vernichten und den Anspruch auf die Krone erheben, bevor der Winter kommt. Das bedeutet Breschen und Angriffe und Leichen in den Straßen.«

»Großartig!« Cosca klatschte in die Hände. »Straßen mögen ja normalerweise von edlen Bäumen und stattlichen Gebäuden flankiert sein, aber sie wirken einfach unvollständig, wenn nicht ein paar Leichen auf dem Pflaster liegen, nicht wahr?«

»Wir nehmen uns Rüstungen, Uniformen und Waffen von den Toten. Wenn die Stadt fällt – und das wird nicht lange dauern –, werden wir uns als Talineser verkleiden. Wir schleichen uns in den Palast, und während Ganmark sich Saliers unter den Nagel reißen will und nicht aufpasst …«

»Bringen wir den Drecksack um?«, schlug Espe vor.

Es folgte eine Pause. »Ich glaube, dass ich eine winzig kleine Schwachstelle in diesem Plan ausgemacht habe.« Morveers nörgelnder Ton gab Cosca das Gefühl, als triebe jemand Nägel in seinen Hinterkopf. »Großherzog Saliers Palast gehört im Augenblick zu den bestbewachten Orten in Styrien, und wir sind draußen, nicht drinnen. Es ist auch nicht besonders wahrscheinlich, dass wir eine Einladung erhalten werden.«

»Im Gegenteil, ich habe schon eine.« Es erfüllte Cosca mit Genugtuung, dass sie ihn alle anstarrten. »Salier und ich waren vor einigen Jahren recht gut befreundet, als er mich dazu anheuerte, seine Grenzstreitigkeiten mit Puranti zu regeln. Wir aßen einmal die Woche zusammen, und er versicherte mir, ich sei ihm willkommen, wann immer ich in der Stadt sein würde.«

Das Gesicht des Giftmischers war eine Karikatur der Verachtung. »War das eventuell, bevor Sie sich in einen verkommenen Weinschlauch verwandelt haben?«

Cosca tat den Einwand zwar mit einer achtlosen Handbewegung ab, aber innerlich heftete er diese Beleidigung sorgfältig neben allen anderen ab. »Es war während meiner langen und höchst angenehmen Verwandlung in einen solchen. Als entwickelte sich eine Raupe zu einem wunderschönen Schmetterling. So oder so steht seine Einladung immer noch.«

Vitari sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wie, zur Hölle, willst du sie denn einfordern?«

»Ich denke, ich werde mich an die Wachen vor dem Palasttor wenden und so etwas sagen wie: Ich bin Nicomo Cosca, der berühmte Glücksritter, und ich komme zum Abendessen.«

Betretenes Schweigen folgte, als hätte er ihnen anstelle einer erfolgversprechenden Idee einen Kackhaufen präsentiert.

»Entschuldige, wenn ich das so sage«, meinte Monza leise, »aber ich bezweifle, dass dein Name heute noch ebenso viele Türen öffnet wie früher.«

»Latrinentüren vielleicht.« Morveer schüttelte gehässig den Kopf. Day kicherte leise. Selbst Espe hatte die Mundwinkel zweifelnd verzogen.

»Dann also Vitari und Morveer«, erklärte Monza knapp. »Es wird eure Aufgabe sein, den Palast zu beobachten. Findet heraus, wie wir hineingelangen können.« Die beiden sahen sich mit wenig begeisterten Gesichtern an. »Cosca, du verstehst doch etwas von Uniformen.«

Er seufzte. »Mehr als die meisten Männer. Jeder Dienstherr will dir ja seine eigene verpassen. Ich hatte eine der Stadträte von Westport, ganz aus goldenem Tuch geschnitten und ungefähr so bequem wie ein Bleirohr um den …«

»Etwas weniger Auffälliges würde unseren Absichten mehr entgegenkommen.«

Cosca richtete sich auf und salutierte zackig. »Generalin Murcatto, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um deine Befehle auszuführen!«

»Sei vorsichtig mit dem, was in deinem Alter noch in deiner Macht steht, sonst verrenkst du dir noch was. Nimm Freundlich mit, sobald es mit den Angriffen losgeht.« Der Sträfling zuckte die Achseln und wandte sich wieder seinen Würfeln zu.

»Wir werden die Toten gewissenhaft bis auf die nackten Ärsche ausziehen!« Cosca wandte sich zur Treppe, hielt aber kurz inne, als etwas in der Bucht seine Aufmerksamkeit erregte. »Ah! Herzog Orsos Flotte ist jetzt ebenfalls mit von der Partie.« Gerade eben konnte er die Schiffe am Horizont erkennen, deren weiße Segel das schwarze Kreuz von Talins trugen.

»Noch mehr Besuch für Herzog Salier«, sagte Vitari.

»Er war stets ein höchst aufmerksamer Gastgeber, aber selbst bei ihm bin ich mir nicht sicher, ob er der Aufgabe gewachsen ist, sich um so viele Gäste gleichzeitig zu kümmern. Die Stadt ist ringsum eingeschlossen.« Und Cosca grinste in den Wind.

»Ein Gefängnis«, sagte Freundlich und lächelte beinahe ebenfalls.

»Wir sind so hilflos wie Ratten in einem Sack!«, zischte Morveer. »Sie tun so, als sei das etwas Gutes

»Fünfmal wurde ich belagert, und ich habe die Erfahrung jedes Mal genossen. Die Möglichkeiten werden auf eine wunderbare Weise eingeschränkt, und das hat durchaus etwas Befreiendes.« Cosca zog tief die Luft durch die Nase ein und atmete laut wieder aus. »Wenn das Leben eine Zelle ist, dann gibt es nichts Befreienderes als Gefangenschaft.«