GIFT

Es war ein Nachmittag, wie Morveer ihn besonders liebte. Frisch, vielleicht ein wenig kühl, aber völlig ruhig und makellos klar. Die helle Sonne blitzte durch die nackten schwarzen Äste der Obstbäume, fand seltenes Gold zwischen einem stumpfen Dreibein aus Kupfer, Stangen und Schrauben und schlug unbezahlbare Funken auf dem Gewirr beschlagener Glasbehälter. Es gab nichts Schöneres, als an einem solchen Tag draußen zu arbeiten, und es hatte zudem den Vorteil, dass alle tödlichen Dämpfe verwehten, ohne Schaden anzurichten. Menschen in Morveers Beruf wurden nur allzu oft von ihren eigenen Erzeugnissen dahingerafft, und er hatte nicht die Absicht, selbst diesen Weg zu gehen. Von allem anderen einmal abgesehen, hätte das seinem Ruf einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt.

Morveer lächelte der sich kräuselnden Lampenflamme zu und nickte im Gleichklang mit dem Klappern des Kondensators und der Retorten, lauschte dem beruhigenden Zischen entweichenden Dampfs, dem fleißigen Blubbern und Knacken kochender Reagenzien. Diese Geräusche waren für Morveer wie das Ziehen einer Klinge für den Meisterfechter oder das Klimpern der Münzen für den Meisterkaufmann: Sie kündeten von einer ordentlich verrichteten Arbeit. Daher sah er mit behaglicher Zufriedenheit durch die verzerrende Oberfläche des spitz zulaufenden Sammelkolbens auf Days Gesicht, das vor Konzentration gefurcht war. Es war ganz zweifelsohne ein hübsches Gesicht: herzförmig und von blonden Locken umrahmt. Aber es war hübsch auf eine unauffällige und völlig unbedrohliche Art, die zudem von einer entwaffnenden Aura der Unschuld begleitet wurde. Ein Gesicht, das eine lobende Äußerung heraufbeschwören, aber kaum zu weiteren Kommentaren verleiten würde. Ein Gesicht, das man leicht wieder vergaß. Aufgrund dieses Gesichts hatte sich Morveer in erster Linie für Day entschieden. Er überließ nichts dem Zufall.

Ein kleines Feuchtigkeitsjuwel bildete sich am äußersten Ende des Kondensators. Es zog sich in die Länge, blies sich auf, dann riss es sich endlich los, fiel funkelnd hinab und schlug geräuschlos auf den Boden des Kolbens.

»Hervorragend«, murmelte Morveer.

Weitere Tröpfchen schwollen an und fielen in feierlicher Prozession hinab. Der letzte hing zögerlich am Rand, bis Day mit sanfter Bewegung das Glas schüttelte. Er fiel, stieß zu den anderen und sah für die ganze Welt so aus, als sei er nur ein wenig Wasser am Boden eines Glasbehälters. Kaum genug, um die Lippen eines Menschen zu benetzen.

»Und jetzt vorsichtig, meine Liebe, ganz, ganz, vorsichtig. Dein Leben hängt an einem seidenen Faden. Deins und auch das meine.«

Sie drückte die Zunge gegen ihre Unterlippe, und mit äußerster Aufmerksamkeit löste sie den Kondensator und setzte ihn auf das Tablett. Der Rest des Apparats folgte Stück für Stück. Sie hatte schöne, weiche Hände, Morveers Gehilfin. Flink, aber auch ruhig, und genau so mussten sie auch sein. Sorgsam drückte sie einen Korken auf den Kolben und hielt ihn dann ans Licht. Der Sonnenschein verwandelte die kleine Pfütze darin in flüssige Diamanten, und sie lächelte. Ein unschuldiges, hübsches, dennoch völlig unauffälliges Lächeln. »Es sieht nach nichts Besonderem aus.«

»Das ist ja auch der ganze Sinn und Zweck. Es hat keine Farbe, keinen Geruch, keinen Geschmack. Und dennoch genügt der winzigste, kleinste Tropfen, eingenommen oder auch nur eingeatmet, die kleinste Berührung mit der Haut, um einen Menschen in wenigen Minuten zu töten. Es gibt kein Gegengift, kein Heilmittel, keine Immunität. Das hier … das ist wahrlich der König der Gifte.«

»Der König der Gifte«, hauchte sie angemessen ehrfürchtig.

»Bewahre dieses Wissen in deinem Herzen, meine Liebe, und denke daran, dass es nur in einer extremen Notlage verwendet werden darf. Nur gegen die gefährlichsten, misstrauischsten, gerissensten Ziele darf es eingesetzt werden. Nur gegen jene, die über intimes Wissen hinsichtlich der Kunst eines Giftmischers verfügen.«

»Ich verstehe. Vorsicht steht immer an erster Stelle.«

»Sehr gut. Das ist die bedeutendste aller Lehren.« Morveer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und führte die Fingerkuppen zu einem spitzen Turmdach zusammen. »Jetzt kennst du mein größtes Geheimnis. Deine Lehrzeit ist vorbei, aber … ich hoffe, dass du bleiben wirst, als meine Assistentin.«

»Es ist mir eine Ehre, in Ihren Diensten bleiben zu dürfen. Ich habe noch viel zu lernen.«

»So ist es mit uns allen, meine Liebe.« Morveer hob den Kopf, als die Türglocke in der Entfernung läutete. »So ist es mit uns allen

Zwei Gestalten näherten sich dem Haus über den langen Weg, der durch den Obstgarten führte, und Morveer zog sein Fernrohr heraus und studierte die Neuankömmlinge. Ein Mann und eine Frau. Er war sehr groß und wirkte sehr kraftvoll und stark, trug einen fadenscheinigen Mantel und langes, wehendes Haar. Ein Nordmann, nach seiner Erscheinung zu urteilen.

»Ein Wilder«, brummte Morveer unterdrückt. Solche Männer neigten zu Gräueltaten und Aberglauben, und er verachtete sie von Herzen.

Nun richtete er sein Fernrohr auf die Frau, die allerdings sehr wie ein Mann gekleidet war. Sie sah geradewegs zum Haus hinüber, ohne den Blick abzuwenden. Direkt zu ihm, wie es schien. Ein hübsches Gesicht, zweifelsohne, eingerahmt von kohlrabenschwarzem Haar. Aber es war eine harte und beunruhigende Art von Schönheit, die zudem von einer grüblerischen, finsteren Entschlossenheit geprägt war. Ein Gesicht, das gleichzeitig eine Herausforderung und eine Bedrohung aussprach. Ein Gesicht, das man, sobald man es einmal erblickt hatte, nicht so schnell wieder vergaß. Sie konnte es hinsichtlich der Schönheit nicht mit Morveers Mutter aufnehmen, aber wer konnte das schon? Seine Mutter war in ihren hervorragenden Eigenschaften beinahe übermenschlich gewesen. Ihr reines Lächeln, vom Sonnenlicht geküsst, war in Morveers Erinnerung ewiglich eingegraben, als sei es ein …

»Besucher?«, fragte Day.

»Die Murcatto ist da.« Er schnippte mit den Fingern und deutete auf den Tisch. »Räum das alles weg. Mit der größten Sorgfalt, wohlgemerkt! Dann bring uns Wein und Kuchen.«

»Soll irgendwas darin sein?«

»Nur Pflaumen und Aprikosen. Ich möchte meine Gäste willkommen heißen und sie nicht töten.« Jedenfalls nicht, bevor er erfahren hatte, was sie zu sagen hatten.

Während Day hurtig den Tisch abräumte, eine kleine Decke darüberwarf und die Stühle wieder heranrückte, unternahm Morveer einige elementare Vorsichtsmaßnahmen. Dann setzte er sich auf seinem Stuhl in Pose, die auf Hochglanz polierten kniehohen Stiefel vor sich gekreuzt und die Hände über der Brust verschränkt, wie ein Landadeliger, der die Winterluft auf seinem Gut genoss. Hatte er sich das denn nicht verdient?

Als seine beiden Besucher das Haus erreichten, erhob er sich mit schmeichlerischstem Lächeln. Die Murcatto ging mit der leichten Andeutung eines Hinkens. Sie verbarg es gut, aber in den langen Jahren, die er inzwischen im Geschäft war, hatte Morveer seine Sinne wie ein Rasiermesser geschärft, und ihm entging keine Einzelheit. Sie trug einen Degen an der rechten Hüfte, und es schien ein guter zu sein, aber dem schenkte er weniger Beachtung. Hässliche, unelegante Werkzeuge. Sicher, die Leute von Stand trugen sie, aber nur die Ungehobelten und Heißblütigen ließen sich tatsächlich dazu herab, diese Dinger auch zu gebrauchen. Sie trug einen Handschuh über ihrer Rechten, und das ließ darauf schließen, dass sie etwas zu verbergen hatte, denn die Linke war unbedeckt und wurde von einem blutroten Stein von Daumennagelgröße geziert. Wenn es tatsächlich ein Rubin war, und so schien es zu sein, dann war er von vielversprechend großem Wert.

»Ich bin …«

»Sie sind Monzcarro Murcatto, ehemalige Generalhauptmännin der Tausend Klingen, bis vor kurzem in den Diensten des Herzogs Orso von Talins.« Morveer hielt es für das Beste, die Hand mit dem Handschuh zu meiden, und daher bot er ihr die Linke, die Handfläche emporgestreckt, als Geste zwischen Bescheidenheit und Unterwerfung. »Ein kantesischer Herr, den wir beide kennen, ein gewisser Sajaam, hatte mir Ihren Besuch angekündigt.« Sie schüttelte seine Hand kurz, fest und geschäftsmäßig. »Und Ihr Name, mein Freund?« Morveer lehnte sich salbungsvoll nach vorn und umfasste die große Rechte des Nordmanns mit seinen beiden Händen.

»Caul Espe.«

»Ach ja, ach ja, ich habe immer schon festgestellt, dass Ihre nordischen Namen ja so wunderbar pittoresk sind.«

»Dass sie was sind?«

»Schön.«

»Oh.«

Morveer hielt Espes Hand noch kurz umklammert, dann ließ er sie los. »Bitte nehmen Sie doch Platz.« Er lächelte Murcatto an, als sie sich auf dem Stuhl niederließ und dabei die winzige Andeutung einer schmerzverzerrten Grimasse erkennen ließ. »Ich muss gestehen, ich hätte erwartet, dass Sie viel weniger gut aussehend wären.«

Sie verzog angesichts seiner Bemerkung das Gesicht. »Ich erwartete, Sie würden weniger freundlich sein.«

»Oh, ich kann ausgesprochen unfreundlich sein, wenn es erforderlich ist, das können Sie mir glauben.« Day trat geräuschlos zu ihnen und stellte einen Teller mit süßen Kuchen auf den Tisch, außerdem ein Tablett mit einer Weinflasche und Gläsern. »Aber das ist ja wohl jetzt nicht nötig, nicht wahr? Wein?«

Seine Besucher tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Morveer grinste, als er den Korken aus der Flasche zog und sich ein Glas einschenkte. »Sie beide sind Söldner, aber ich kann doch sicher davon ausgehen, dass Sie nicht jeden, dem Sie begegnen, ausrauben, bedrohen und auslöschen. Ebenso ist es mit mir – ich vergifte nicht jeden, der meinen Weg kreuzt.« Er schlürfte geräuschvoll seinen Wein, als wolle er die Ungefährlichkeit des Unternehmens zusätzlich verdeutlichen. »Wer würde mich dann auch bezahlen? Sie sind hier sicher.«

»Dennoch, nehmen Sie es uns bitte nicht übel, wenn wir verzichten.«

Day griff nach einem Stück Kuchen. »Darf ich …«

»Greif tüchtig zu.« Dann, an Murcatto gewandt: »Sie sind also nicht wegen meines Weines hier.«

»Nein. Ich habe Arbeit für Sie.«

Morveer betrachtete die Haut am Rand seiner Fingernägel. »Den Tod von Großherzog Orso und einigen ausgewählten anderen Personen, nehme ich an.« Sie saß schweigend da, aber es gefiel ihm, weiterzusprechen, als hätte sie eine Erklärung verlangt. »Man braucht wohl kaum überragenden Intellekt, um zu diesem Schluss zu kommen. Orso erklärt, Sie und Ihr Bruder seien von Agenten des Achterbunds ermordet worden. Dann höre ich von unserem gemeinsamen Freund Sajaam, dass Sie längst nicht so verblichen sind, wie überall bekanntgegeben wurde. Da es nun aber kein tränenreiches Wiedersehen mit Orso gegeben hat, keine frohe Verkündung Ihres wundersamen Überlebens, können wir nur davon ausgehen, dass es sich bei den osprianischen Meuchelmördern um … eine Ausgeburt der Fantasie gehandelt hat. Der Herzog von Talins ist bekanntermaßen ein Mann von eifersüchtigem Naturell, und Ihre vielen Siege haben Ihnen beim Volk für den Geschmack Ihres Herrn eine zu große Beliebtheit eingetragen. Komme ich der Sache nahe?«

»Einigermaßen.«

»Dann möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen. Ihr Bruder kann heute offenbar nicht bei uns sein, und wie ich hörte, waren Sie unzertrennlich.« Ihre kalten blauen Augen waren inzwischen absolut eisig. Der Nordmann ragte grimmig und still neben ihr auf. Morveer räusperte sich. Klingen waren möglicherweise unelegante Werkzeuge, aber ein Degen im Bauch tötete einen klugen Mann ebenso gründlich wie einen dummen. »Sie sind sich darüber im Klaren, dass ich der wirklich Beste meines Handwerks bin.«

»Das ist eine Tatsache«, erklärte Day, die ihre Aufmerksamkeit kurz von ihrer Leckerei abwandte. »Ein unbestreitbarer Fakt.«

»Das würden all jene, an denen ich meine Fähigkeiten bereits unter Beweis stellen durfte, sicher gern bezeugen, aber natürlich können sie das nicht.«

Day schüttelte bedauernd den Kopf. »Nicht einer von Ihnen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, erkundigte sich Murcatto.

»Der Beste kostet viel Geld. Mehr, als Sie sich nach dem Verlust Ihres Dienstherrn vielleicht leisten können.«

»Haben Sie von Somenu Hermon gehört?«

»Der Name sagt mir etwas.«

»Mir nicht«, gab Day zu.

Morveer übernahm die Erklärung selbst. »Hermon war ein mittelloser kantesischer Einwanderer, der, wie es heißt, zum reichsten Kaufmann von Musselia aufstieg. Sein luxuriöser Lebensstil war berüchtigt, seine Freigiebigkeit legendär.«

»Und?«

»Leider war er in der Stadt, als die Tausend Klingen im Sold von Großherzog Orso Musselia durch Verrat eroberten. Man hielt die Zahl der Toten gering, aber die Stadt wurde geplündert, und von Hermon hat man nie wieder etwas gehört. Auch nicht von seinem Geld. Allgemein ging man davon aus, dass der Kaufmann, so wie es die Art dieser Leute ist, hinsichtlich seines Reichtums stark übertrieben hatte, und außer seiner grellen und schillernden Ausstaffierung wohl tatsächlich … rein gar nichts besaß.« Morveer nahm einen langsamen Schluck Wein und sah Murcatto über den Rand seines Glases hinweg an. »Aber das wissen andere sicher besser als ich. Die Kommandanten des damaligen Feldzugs waren … wie hießen sie noch gleich? Es waren Bruder und Schwester … wenn ich mich recht erinnere?«

Sie erwiderte seinen Blick starr und gerade, ohne die Augen abzuwenden. »Hermon war wesentlich reicher, als er vorgab zu sein.«

»Reicher?« Morveer zappelte auf seinem Stuhl herum. »Reicher? Ach du liebe Zeit! Vorteil Murcatto! Sehen Sie doch nur, wie ich mich bei der Erwähnung einer derart unendlichen Summe herrlichen Goldes winde! Es würde sicher reichen, um mein mageres Salär zwei Dutzend Mal und mehr zu zahlen, wie ich nicht bezweifle! Nun … meine überwältigende Gier hat mich geradezu …« Er hob die offene Hand und schlug sie hart auf den Tisch. »Gelähmt

Der Nordmann rutschte langsam zur Seite, fiel von seinem Stuhl und schlug auf den unebenen Rasen unter den Obstbäumen. Dort rollte er gemächlich auf den Rücken, die Knie in demselben Winkel in der Luft, wie er zuvor gesessen hatte, der ganze Körper starr wie ein Holzblock, und seine Augen starrten hilflos nach oben.

»Ah«, bemerkte Morveer mit einem Blick über den Tisch. »Vorteil Morveer, würde ich sagen.«

Murcattos Augen glitten zur Seite und dann zurück. Ein kurzes Zucken rann seitlich über ihre Wange. Ihre behandschuhte Hand erbebte leicht auf dem Tisch, dann lag sie still.

»Es hat funktioniert«, raunte Day.

»Du hast doch wohl nicht an mir gezweifelt?« Morveer, der nichts so sehr liebte wie ein aufmerksames Publikum, konnte sich nicht verkneifen zu erklären, wie er es angestellt hatte. »Gelbsaatöl wurde zunächst auf meine Hände aufgetragen.« Er hielt sie in die Höhe, die Finger auseinandergespreizt. »Um zu verhindern, dass das Mittel mich selbst angreift, wohlverstanden. Ich wollte schließlich nicht plötzlich selbst gelähmt sein. Das wäre eine ausgesprochen unangenehme Erfahrung gewesen!« Er kicherte vor sich hin, und Day stimmte in etwas höherer Tonlage mit ein, während sie sich, ein zweites Stück Kuchen zwischen den Zähnen, hinunterbeugte, um den Puls des Nordmanns zu fühlen. »Bei dem aktiven Ingrediens handelte es sich um ein Destillat aus Spinnengift. Ausgesprochen effektiv, selbst bei bloßer Berührung. Da ich seine Hand etwas länger festhielt, hat Ihr Freund eine etwas stärkere Dosis abbekommen. Er kann von Glück sagen, wenn er sich heute noch bewegen kann … wenn ich mich dazu entscheide, ihm das wieder zu ermöglichen, natürlich. Sie jedoch sollten noch des Sprechens mächtig sein.«

»Arschloch«, knurrte Murcatto durch gefrorene Lippen.

»Ich sehe, so ist es.« Er erhob sich, ging um den Tisch herum und drängte sich neben sie. »Ich muss mich wirklich entschuldigen, aber Sie verstehen sicherlich, dass ich, wie Sie es auch waren, auf dem gefährlichen Zenit meines beruflichen Werdegangs angelangt bin. Wir Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Leistungen müssen außerordentliche Vorsichtsmaßnahmen treffen. Nun können wir uns unbehindert von Ihrer Bewegungsfähigkeit mit aller Hingabe über das Thema … Großherzog Orso unterhalten.« Er ließ den Wein durch den Mund strömen und sah einem kleinen Vogel zu, der auf den Ästen herumturnte. Murcatto sagte nichts, aber das störte nicht weiter. Morveer sprach für sie beide.

»Ihnen wurde großes Unrecht zugefügt, das kann ich sehen. Von einem Mann betrogen zu werden, der Ihnen so viel verdankt. Ihr geliebter Bruder wurde getötet und Sie … um so vieles betrogen. Mein eigenes Leben war durchzogen von schmerzhaften Nackenschlägen, das können Sie mir glauben, und von daher habe ich größtes Verständnis für Ihre Lage. Aber die Welt ist voller schrecklicher Dinge, und wir bescheidenen Menschen können sie nur … in sehr kleinem Ausmaß ändern.« Er sah mit gerunzelter Stirn zu Day hinüber, die geräuschvoll kaute.

»Was denn?«, knurrte sie mit vollem Mund.

»Bitte leise, wenn es denn schon sein muss, ich versuche hier etwas darzulegen.« Sie zuckte die Achseln und leckte sich die Finger mit unnötig lauten Schmatzgeräuschen ab. Morveer seufzte missbilligend. »Die Achtlosigkeit der Jugend. Sie wird noch lernen. Die Zeit läuft für uns alle nur in eine einzige Richtung, nicht wahr, Murcatto?«

»Verschonen Sie mich mit Ihrer verdammten Philosophie«, stieß sie mit starren Lippen hervor.

»Beschränken wir uns dann also auf das Praktische. Mit Ihrer entscheidenden Hilfe ist Orso zum mächtigsten Mann in Styrien aufgestiegen. Ich würde mir niemals anmaßen, Ihren militärischen Sachverstand zu besitzen, aber man muss nicht Stolicus sein, um zu erahnen, dass der Achterbund nach Ihrem ruhmreichen Sieg am Hohen Ufer im letzten Jahr kurz vor dem Zusammenbruch steht. Nur ein Wunder wird Visserine retten, wenn der Sommer kommt. Die Osprianer werden Friedensverhandlungen anstreben oder ausgelöscht werden, je nach Orsos Laune, und Sie wissen besser als alle anderen, dass er stets dazu neigt, Dinge zu zerstören. Zum Ende des nächsten Jahres, eventuelle Unfälle nicht berücksichtigt, wird Styrien doch endlich einen König haben. Ein Ende der blutigen Jahre.« Er leerte sein Glas und schwenkte es mit weit ausholenden Bewegungen. »Frieden und Wohlstand für alle! Und sicher eine bessere Welt? Es sei denn, man ist Söldner, nehme ich an.«

»Oder Giftmischer.«

»Im Gegenteil, wir finden auch zu Friedenszeiten ausreichend Beschäftigung. Aber so oder so, ich will damit sagen, der Mord an Großherzog Orso liegt – einmal ganz davon abgesehen, dass es sich augenscheinlich um ein unmögliches Unterfangen handelt – in niemandes Interesse. Eine solche Tat wird Ihnen Ihren Bruder nicht zurückbringen, ebenso wenig wie Ihre Hand oder Ihre Beine.« Ihr Gesicht gab nichts preis, aber das mochte ausschließlich an der Lähmung liegen. »Der Versuch wird mehr als wahrscheinlich zu Ihrem Tod führen, möglicherweise sogar zu meinem. Damit will ich sagen, dass Sie diese verrückte Idee aufgeben sollten, meine liebe Monzcarro. Sie müssen sich sofort von ihr verabschieden und keinen weiteren Gedanken daran verschwenden.«

Ihre Augen waren so gnadenlos wie zwei Schalen mit Gift. »Nur der Tod wird mich aufhalten. Mein Tod oder Orsos.«

»Egal, zu welchem Preis? Egal, zu welchem Schmerz? Egal, wer bei diesem Unterfangen zu Tode kommt?«

»Egal«, knurrte sie.

»Ich stelle fest, dass mich das Ausmaß Ihrer Entschlossenheit durchaus überzeugt.«

»Es ist alles egal.« Die Worte zischten hart zwischen ihren Lippen hervor.

Morveer strahlte geradezu. »Dann können wir ins Geschäft kommen. Auf dieser Basis, keiner anderen. Worauf lasse ich mich niemals ein, Day?«

»Auf Halbheiten«, antwortete seine Assistentin, die den übrig gebliebenen Kuchen auf dem Teller beäugte.

»Ganz genau. Wie viele töten wir?«

»Sechs«, erwiderte Murcatto, »Orso eingeschlossen.«

»Dann liegt mein Salär bei zehntausend Waag für jeden Untergebenen, zahlbar nach erbrachtem Nachweis seines Hinscheidens, und fünfzigtausend für den Herzog von Talins höchstselbst.«

Ihr Gesicht zuckte leicht. »Es zeugt von schlechten Manieren, solche Verhandlungen zu führen, während Ihr Kunde derart hilflos ist.«

»Manieren wären doch geradezu albern, wenn über Mord gesprochen wird. Aber so oder so, ich lasse niemals mit mir handeln.«

»Abgemacht.«

»Ich bin entzückt. Das Gegengift, bitte.«

Day zog den Korken aus einem Glasgefäß, tauchte die Spitze eines dünnen Messers ein wenig in die sirupartige Flüssigkeit auf dem Boden und reichte ihm dann, den Griff voran, die Waffe. Er hielt inne und sah tief in Murcattos kalte blaue Augen.

Vorsicht stand immer an erster Stelle. Diese Frau, die sie die Schlange von Talins nannten, war äußerst gefährlich. Hätte Morveer das nicht schon aufgrund ihres Rufs, ihrer Unterhaltung und angesichts der Aufgabe, mit der sie ihn beauftragen wollte, gewusst, dann hätte er es auch mit einem einzigen Blick erkannt. Er dachte ernsthaft über die Möglichkeit nach, ihr einen tödlichen Stoß zu verpassen, ihren Nordmannfreund in den Fluss zu werfen und die ganze Sache zu vergessen.

Aber stattdessen Großherzog Orso töten, den mächtigsten Mann in Styrien? Den Gang der Geschichte mittels Ausübung seines Handwerks in eine ganz andere Richtung lenken? Damit seine Tat, wenn vielleicht auch nicht sein Name, die Jahrhunderte überdauerte? Gab es eine bessere Krönung seiner Karriere, als schließlich das Unmögliche zu vollbringen? Allein der Gedanke ließ ihn noch breiter lächeln.

Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ich hoffe, ich werde das später nicht bereuen.« Damit ritzte er mit der Messerspitze in Murcattos Handrücken, bis sich ein einziger Tropfen dunklen Blutes auf ihrer Haut bildete.

Binnen weniger Augenblicke zeigte sich schon die Wirkung. Sie verzog das Gesicht, als sie den Kopf langsam zur einen, dann zur anderen Seite streckte und die Gesichtsmuskeln wieder in Bewegung brachte. »Ich bin überrascht«, sagte sie.

»Ach wirklich? Worüber?«

»Ich erwartete einen Meister der Giftmischer.« Sie rieb an der kleinen Stelle auf ihrem Handrücken. »Wer hätte gedacht, dass ich stattdessen so einen kleinen Stecher bekomme.«

Morveer spürte, wie sein Grinsen verblasste. Er brauchte natürlich nur einen kurzen Augenblick, bis er seine Haltung wiedergewonnen hatte, nachdem Days Kichern nach seinem scharfen Blick verstummt war. »Ich hoffe, Ihre kurzzeitige Hilflosigkeit hat kein zu großes Ungemach verursacht. Sie vergeben mir doch, nicht wahr? Wenn wir beide miteinander arbeiten wollen, dann würde ich das nur ungern tun, während ein Schatten auf unserer Beziehung lastet.«

»Natürlich.« Sie ließ die Schultern ein wenig kreisen, während der Anflug eines ganz leichten Lächelns in ihre Mundwinkel kroch. »Ich brauche das, was Sie mir bieten können, und Sie wollen das, was ich habe. Geschäft ist Geschäft.«

»Hervorragend. Ausgezeichnet. Un…vergleichlich.« Morveer zeigte sein gewinnendstes Lächeln.

Aber er glaubte nicht für einen Augenblick daran. Es war eine äußerst tödliche Aufgabe und eine äußerst tödliche Dienstherrin. Monzcarro Murcatto, die berüchtigte Schlächterin von Caprile, war kein Mensch, der als besonders vergebungsvoll galt. Sie hatte ihm nicht vergeben. Nicht einmal annähernd. Von jetzt an galt: Vorsicht stand an erster Stelle, an zweiter und an dritter.