WISSENSCHAFT UND MAGIE
Espe zügelte sein Pferd oben auf der Anhöhe. Das Land vor ihnen fiel ab, ein Durcheinander dunkler Felder, zwischen denen hier und da ein geduckter Hof oder ein Dorf lagen oder eine Ansammlung nackter Bäume. Weniger als ein Dutzend Meilen entfernt erstreckte sich der Horizont des schwarzen Meeres, eine geschwungene, breite Bucht, und an ihrem Rand die bleichen Umrisse einer Stadt. Winzige Türmchen drängten sich auf drei Hügeln über den kühlen Fluten unter einem eisengrauen Himmel aneinander.
»Westport«, sagte Freundlich, dann schnalzte er mit der Zunge und trieb sein Pferd weiter an.
Je näher sie dem verdammten Ort kamen, desto mehr Sorgen machte sich Espe. Und desto wundgerittener, kälter und gelangweilter wurde er. Er warf Murcatto einen finsteren Blick zu, die allein voranritt, die Kapuze über den Kopf gezogen, eine schwarze Gestalt in einer schwarzen Landschaft. Die Pferde trabten mit klapperndem Hufschlag dahin und schnaubten. Ein paar Krähen krächzten von den kahlen Feldern. Aber niemand sprach.
Sie waren auf dem Weg hierher eine grimmige Reisegruppe gewesen. Aber schließlich verfolgten sie auch einen grimmigen Zweck. Espe fragte sich, was sein Vater wohl davon gehalten hätte. Rasselkopf, der sich an den alten Bräuchen festklammerte wie eine Muschel an einem Boot und der immer versuchte, den richtigen Weg zu finden. Einen Mann, dem man niemals begegnet war, für Geld zu töten, schien dieser Vorstellung kaum zu entsprechen, ganz gleich, wie man die Sache drehte.
Plötzlich war helles Lachen zu hören. Day, die auf dem Karren neben Morveer eingezwängt saß und einen halb aufgegessenen Apfel in der Hand hielt. Espe hatte eine Weile kein Lachen mehr gehört, und deshalb zog es ihn an wie die Motte das Licht.
»Was ist denn so lustig?«, fragte er und verzog das Gesicht schon vorab zu einem Grinsen, um bei dem Witz mitlachen zu können.
Sie beugte sich zu ihm hinüber, von den Bewegungen des Karrens hin und her geschüttelt. »Ich habe mich gefragt, ob du dich, als du wie eine umgeworfene Schildkröte vom Stuhl gefallen bist, wohl beschmutzt hast.«
»Ich war der Meinung, das hättest du wahrscheinlich«, erklärte Morveer, »aber ich habe bezweifelt, dass es vom Geruch her einen Unterschied gemacht hätte.«
Espes Lächeln gefror. Er erinnerte sich, wie er in diesem Obstgarten gesessen und finstere Blicke über den Tisch geschickt hatte, in dem Versuch, gefährlich auszusehen. Dann war ihm komisch geworden und schwindlig. Er hatte versucht, die Hand zum Kopf zu führen, und dabei festgestellt, dass das nicht mehr ging. Als er versucht hatte, etwas deswegen zu sagen, hatte er gemerkt, dass auch das nicht mehr möglich gewesen war. Und schließlich war die Welt aus den Angeln gekippt. An viel mehr erinnerte er sich nicht.
»Was habt ihr mit mir gemacht?« Er senkte die Stimme. »Zauberei?«
Day prustete vor Lachen ein paar Apfelstückchen durch die Gegend. »Oh, das wird ja immer besser.«
»Und ich hatte noch vermutet, er würde ein wenig erheiternder Reisegefährte sein«, gluckste Morveer. »Zauberei. Du meine Güte. Das ist ja wie in diesen Geschichten.«
»In diesen dicken, umfangreichen, dummen Büchern! Magi und Teufel und all der ganze Kram!« Day kicherte ausgiebig. »Dumme Geschichten für Kinder.«
»Na schön«, sagte Espe. »Ich glaube, ich hab’s kapiert. Ich bin so langsam wie eine verdammte Forelle in Sirup. Also keine Zauberei. Was dann?«
Day lächelte von oben herab. »Wissenschaft.«
Espe konnte dem Klang des Wortes wenig abgewinnen. »Was ist das? Eine andere Art von Magie?«
»Nein, das ist es ganz bestimmt nicht«, erklärte Morveer abfällig. »Wissenschaft ist ein System rationaler Gedanken, dazu geschaffen, um die Welt zu untersuchen und die Gesetze zu benennen, nach denen sie funktioniert. Der Wissenschaftler setzt jene Gesetze ein, um einen Effekt zu erzielen. Einen, der in den Augen eines Wilden durchaus wie Zauberei aussehen kann.« Espe kämpfte mit all den langen styrischen Worten. Für einen Mann, der sich selbst für so schlau hielt, redete Morveer wie ein Narr und schien absichtlich einfache Dinge kompliziert machen zu wollen. »Zauberei hingegen ist ein System aus Lügen und Unsinn, das dazu erdacht wurde, um Idioten zu täuschen.«
»Da hast du natürlich völlig Recht. Ich muss dann wohl das dümmste Arschloch im ganzen Weltenkreis sein, was? Es ist wahrscheinlich ein Wunder, dass ich meinen Drang zum Kacken unter Kontrolle halten kann, ohne ständig an meinen Arsch zu denken.«
»So etwas Ähnliches haben wir auch schon gedacht.«
»Es gibt Zauberei«, brummte Espe. »Ich habe gesehen, wie eine Frau Nebel heraufbeschwor.«
»Tatsächlich? Und wie unterschied sich der von ganz normalem Nebel? War er magisch gefärbt? Grün? Orange?«
Espe sah ihn finster an. »Er hatte eine ganz normale Farbe.«
»Also beschwor eine Frau irgendwas, und dann kam Nebel.« Morveer hob eine Augenbraue und sah seine Assistentin an. »Wirklich ein Wunder.« Sie grinste und schlug ihre Zähne wieder in den Apfel.
»Ich habe einen Mann gesehen, der mit Zeichen bemalt war, und eine Hälfte von ihm war dadurch eisenfest. Das habe ich selbst erfahren, als ich mit einem Speer nach ihm stach. Es hätte ein todbringender Stoß sein müssen, aber er hatte nicht mal einen Kratzer.«
»Oooooh!« Morveer hob beide Hände und bewegte die Finger wie ein Kind, das Geist spielt. »Magische Zeichen! Erst gab es keine Wunde, und dann … gab es keine Wunde? Ich schwöre ab! Die Welt ist randvoll mit Magie.« Wieder kicherte Day.
»Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Nein, mein bezauberter Freund, du meinst, du weißt es. So etwas wie Zauberei gibt es nicht. Ganz sicher nicht hier in Styrien.«
»Nur Verrat«, flötete Day, »und Krieg und Seuchen und Geld, das man verdienen kann.«
»Wieso beehrst du Styrien überhaupt mit deiner Gegenwart?«, fragte Morveer. »Wieso bist du nicht im Norden geblieben, um durch die Zaubernebel zu streifen?«
Espe kratzte sich langsam seitlich am Hals. Es erschien ihm nun ein seltsamer Grund, und er fühlte sich noch mehr wie ein Idiot, als er ihn aussprach. »Ich kam hierher, um ein besserer Mensch zu werden.«
»Angesichts deiner Ausgangslage erscheint mir das nicht weiter schwierig.«
Espe hatte noch immer einen gewissen Stolz, und das Gekicher dieses Dummschwätzers begann langsam an ihm zu nagen. Er hätte ihn gern einfach mit seiner Axt vom Karren gehauen. Aber er versuchte, jetzt andere Wege zu beschreiten, und daher beugte er sich lediglich vor und sagte freundlich, klar und deutlich auf Nordisch: »Ich glaube, du hast den Kopf voller Scheiße, und das wundert nicht weiter, weil dein Gesicht wie ein Arsch aussieht. Ihr kleinen Männer seid doch immer gleich. Ihr versucht dauernd zu beweisen, wie schlau ihr seid, damit ihr auf irgendwas stolz sein könnt. Aber ganz gleich, wie sehr du über mich lachst, ich habe schon gewonnen. Du wirst nie ein großer Kerl sein.« Und dann grinste er über das ganze Gesicht. »Es wird immer ein Traum für dich bleiben, in einem überfüllten Raum über die anderen hinwegsehen zu können.«
Morveer runzelte die Stirn. »Und was sollte das jetzt heißen?«
»Du bist doch der Wissenschaftler. Finde es raus.«
Day prustete wieder vor Lachen, und Morveer warf ihr einen bösen Blick zu. Sie lächelte allerdings immer noch, als sie den Apfelrest bis auf die Kerne abnagte und ihn dann wegwarf. Espe ließ sich zurückfallen und sah, wie die nackten Felder an ihm vorüberglitten, die gepflügte Erde noch halb erstarrt vom morgendlichen Frost. Es ließ ihn an zu Hause denken, und er stieß einen Seufzer aus, der in den grauen Himmel stieg. Diejenigen, mit denen sich Espe in seinem Leben angefreundet hatte, waren alle Kämpfer gewesen. Carls und Namhafte Männer, Kameraden im Kampf, die meisten von ihnen längst wieder zu Schlamm geworden, auf die eine oder die andere Art. Er vermutete, dass Freundlich wohl derjenige war, der hier im tiefsten Styrien am besten in dieses Muster passte, und daher gab er seinem Pferd einen kleinen Stoß in die Flanken und schloss zu dem Sträfling auf.
»He.« Freundlich sagte kein Wort. Er bewegte nicht einmal den Kopf, um anzuzeigen, dass er ihn gehört hatte. Schweigen breitete sich aus. Angesichts dieser Steinmauer von Gesicht konnte man sich schwer vorstellen, dass der Sträfling eines Tages ein Busenfreund werden würde, mit dem man über gemeinsame Witze lachte. Aber ein Mann brauchte ein wenig Hoffnung, um sich daran festhalten zu können, oder nicht? »Du warst mal Soldat, oder?«
Freundlich schüttelte den Kopf.
»Du hast in Schlachten gekämpft?«
Wieder das Kopfschütteln.
Espe mühte sich weiter voran, als hätte Freundlich Ja gesagt.
Es blieb ihm auch kaum etwas anderes übrig. »Ich war bei einigen dabei. Hab im Nebel mit Bethods Carls nördlich der Cumnur einen Ausfall angeführt. Hab dann mit Rudd Dreibaum bei Dunbrec die Stellung gehalten. Und hab sieben Tage in den Bergen mit dem Hundsmann gekämpft. Sieben verdammt verzweifelte Tage, kann ich dir sagen.«
»Sieben?«, fragte Freundlich, dessen schwere Brauen sich nun interessiert hoben.
»Ja«, seufzte Espe, »sieben.« Die Namen jener Männer und die Orte bedeuteten hier unten niemandem etwas. Er betrachtete einige Planwagen, die ihnen entgegenkamen. Männer mit Stahlhelmen und Flachbogen in den Händen sahen ihn von ihren Sitzen aus grimmig an. »Wo hast du denn dann kämpfen gelernt?«, fragte er, wobei der Hauch von Hoffnung, diesmal ein anständiges Gespräch anzufangen, schnell verflog.
»In der Sicherheit.«
»Hä?«
»Wo sie dich hinstecken, wenn sie dich schnappen, weil du was angestellt hast.«
»Wieso sollte man dich danach in Sicherheit bringen wollen?«
»Sie nennen es nicht die Sicherheit, weil du da drin sicher wärst. Sie nennen es die Sicherheit, weil alle anderen sicher vor dir sind. Sie zählen die Tage, die Monate und Jahre, die sie dich dort behalten wollen. Dann schließen sie dich ein, tief unten, wo das Licht nicht hinkommt, bis die Tage, Monate und Jahre alle vorbeirauschen und die Zahlen alle bis zum Nichts hinuntergezählt sind. Dann sagen sie Danke und lassen dich frei.«
Das erschien Espe eine barbarische Vorgehensweise. »Wenn du im Norden etwas verbrochen hast, dann musst du eine Sühnezahlung leisten, es wieder geraderücken. Oder aber der Häuptling beschließt, dass du gehängt wirst. Vielleicht ritzt man dir auch das Blutkreuz ein, wenn du gemordet hast. Einen Mann in einem Loch einsperren? Das ist doch auch ein Verbrechen!«
Freundlich zuckte die Achseln. »Sie haben Regeln dort, die ihren Sinn haben. Es gibt die rechte Zeit für jede Sache. Die rechten Zahlen auf der großen Uhr. Nicht wie hier draußen.«
»Joh. Stimmt. Zahlen und so.« Espe wünschte, er hätte nie gefragt.
Freundlich schien ihn kaum zu hören. »Hier draußen ist der Himmel zu hoch, und jeder Mann tut, was ihm gefällt und wann es ihm gefällt, und es gibt keine rechten Zahlen für irgendwas.« Er warf einen finsteren Blick in Richtung Westport, das immer noch ein bloßer Ring verschwommener Gebäude an einer kalten Bucht war. »Verdammtes scheiß Chaos.«
Sie erreichten das Stadttor gegen Mittag; es hatte sich bereits eine lange Schlange von Menschen gebildet, die Einlass begehrten. Soldaten standen am Tor, stellten Fragen, durchsuchten Packen oder Kisten und stocherten mit den stumpfen Enden ihrer Speere halbherzig in der Ladung eines Karrens.
»Die Ratsherren sind nervös geworden, seit Borletta gefallen ist«, sagte Morveer von seinem Platz. »Sie lassen jeden überprüfen, der in die Stadt hineinwill. Ich werde das Reden übernehmen.« Espe ließ ihn nur zu gern gewähren, da der Dummschwätzer den Klang seiner Stimme ohnehin so sehr zu lieben schien.
»Ihr Name?«, fragte der Wachmann mit unendlich gelangweilten Augen.
»Reevrom«, sagte der Giftmischer mit breitestem Grinsen. »Ein bescheidener Kaufmann aus Puranti. Und dies sind meine Gehilfen …«
»Welche Geschäfte führen Sie nach Westport?«
»Mord.« Unbehagliches Schweigen. »Ich hoffe, einen mörderischen Preis beim Verkauf osprianischer Weine zu erzielen! Ja, ich hoffe wirklich, in Ihrer Stadt mörderisch erfolgreich zu sein.« Morveer lachte über seinen eigenen Witz, und Day neben ihm fiel kichernd mit ein.
»Der Kerl hier sieht nicht so aus wie einer, den wir da drinnen gebrauchen können.« Ein anderer Wächter warf Espe einen finsteren Blick zu.
Morveer gluckste weiter. »Aber nein, wegen dem brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Der Mann ist praktisch völlig zurückgeblieben. Hat den Intellekt eines Kindes. Aber er taugt trotzdem dazu, das eine oder andere Fass zu bewegen. Ich behalte ihn im Grunde vor allem aus Mitleid bei mir. Was bin ich, Day?«
»Sentimental«, sagte das Mädchen.
»Ich habe ein zu großes Herz. Hatte ich immer schon. Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war, wissen Sie, eine wundervolle Frau …«
»Seht mal zu da vorn!«, rief jemand hinter ihnen.
Morveer nahm die Leinenplane, mit der sie den hinteren Teil des Wagens abgedeckt hatten, an einem Zipfel hoch. »Wollen Sie kurz überprüfen, ob …«
»Seh ich vielleicht so aus, wo sich halb Styrien vor meinem Tor staut? Los, weiter.« Der Wachmann machte eine müde Handbewegung. »Weiterziehen.«
Die Zügel schnalzten, der Karren rollte in die Stadt Westport, und Murcatto und Freundlich ritten hinterdrein. Espe kam als Letzter, so wie es seit geraumer Zeit seine Gewohnheit geworden war.
Hinter der Stadtmauer herrschte ein Gedränge wie in einer Schlacht, und es ging dabei kaum weniger furchteinflößend zu. Eine gepflasterte Straße erstreckte sich zwischen hohen Gebäuden, auf beiden Seiten mit nackten Bäumen bepflanzt, und eine Flut von Menschen aller Hautfarben und Größen wälzte sich darüber hinweg. Bleiche Männer in nüchterner Kleidung, schmaläugige Frauen in bunter Seide, schwarzhäutige Männer in weißen Roben, Soldaten und Mietklingen in Kettenhemden und stumpfen Rüstungen. Diener, Arbeiter, Händler, Adelige, reich und arm, herausgeputzt und stinkend, Edle und Bettler. Verdammt viele Bettler. Fußgänger und Reiter schwärmten verschwommen heran und wieder davon, Pferde und Karren und Planwagen, und Frauen mit hoch aufgetürmten Frisuren, verschwenderisch mit Juwelen behängt, wurden auf schwankenden Sänften von jeweils zwei schwitzenden Dienern getragen.
Espe hatte schon in Talins gedacht, dass sich dort die seltsamste Vielfalt von Menschen tummelte. Westport war aber noch viel schlimmer. Er sah eine Reihe von Tieren mit langen Hälsen, die man durch das Gedränge führte, mit dünnen Ketten aneinandergebunden, und ihre kleinen Köpfe schwankten in der Höhe traurig von einer Seite zur anderen. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, aber als er sie wieder aufmachte, waren diese Ungeheuer immer noch da, zuckten mit ihren Köpfen über der dahinwogenden Menge und schienen den anderen nicht einmal aufzufallen. Dieser Ort war wie ein Traum, aber keiner von der angenehmen Sorte.
Sie schlugen einen schmaleren Weg ein, der von Läden und Ständen gesäumt war. Verschiedene Gerüche attackierten seine Nase – Fisch, Brot, Polierwichse, Früchte, Öl, Gewürze und noch ein Dutzend mehr, die er nicht einordnen konnte, und sie ließen ihn den Atem anhalten und verursachten ein flaues Gefühl in seinem Magen. Aus dem Nichts hielt ein Junge auf einem vorüberfahrenden Wagen einen Weidenkorb vor Espes Gesicht, und der kleine Affe darin fauchte und spuckte ihn an, so dass er vor Überraschung beinahe aus dem Sattel gefallen wäre. Rufe in einem Dutzend verschiedener Sprachen brandeten an seine Ohren. Dann übertönte sie allmählich eine Art Singsang, lauter und lauter, seltsam und doch schön, der die Härchen auf seinen Armen dazu brachte, sich aufzustellen.
Ein Gebäude mit einer großen Kuppel beherrschte eine Seite eines Platzes, sechs hohe Türmchen ragten von der vorderen Mauer auf, und goldene Spitzen schimmerten auf den Dächern. Von dort erscholl der Gesang. Hunderte von Stimmen, hohe und tiefe, vermischten sich zu einer.
»Es ist ein Tempel.« Murcatto hatte sich zurückfallen lassen, bis sie neben ihm ritt, die Kapuze noch immer über dem Kopf, so dass von ihrem Gesicht wenig mehr sichtbar war als ihr harter Blick.
Wenn Espe ganz ehrlich war, dann hatte er mehr als nur ein bisschen Angst vor ihr. Es war schon schlimm genug, dass er Zeuge geworden war, wie sie einen Mann mit einem Hammer totschlug und dabei so aussah, als ob sie es richtig genoss. Und dann hatte er noch dieses komische Gefühl gehabt, als sie miteinander handelten, als ob sie kurz davor war, ihn zu erstechen. Dann war da diese Hand, die sie stets unter einem Handschuh versteckt hielt. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor Angst vor einer Frau gehabt zu haben, und das machte ihn gleichzeitig beschämt und nervös. Allerdings konnte er auch kaum verhehlen, dass er, mal abgesehen von dem Handschuh und dem Hammer und dem kribbligen Gefühl von Gefahr, durchaus fand, dass sie ziemlich gut aussah. Sie gefiel ihm sogar sehr. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das Gefährliche an ihr nicht sogar ein bisschen aufregender fand, als für ihn gesund war. All das führte dazu, dass er nie wusste, was er in ihrer Gegenwart als Nächstes sagen sollte.
»Tempel?«
»Wo die Südländer zu Gott beten.«
»Gott, aha?« Espes Nacken schmerzte, als er mit zusammengekniffenen Augen zu den Türmchen emporblickte, die höher aufragten als die höchsten Bäume in dem Tal, in dem er geboren worden war. Er hatte schon davon gehört, dass es im Süden Leute gab, die glaubten, dass ein Mann im Himmel wohne. Ein Mann, der die ganze Welt gemacht hatte und alles sah. Es war ihm immer ziemlich verrückt vorgekommen, aber nun, da er das hier sah, glaubte Espe beinahe selbst daran. »Wunderschön.«
»Vor ungefähr hundert Jahren, als die Gurkhisen Dawah eroberten, flohen viele Südländer vor ihnen. Manche kamen übers Meer und ließen sich hier nieder, und sie errichteten Tempel zum Dank für ihre Errettung. Westport ist beinahe so sehr ein Teil des Südens, wie es zu Styrien gehört. Aber dann ist es schließlich auch Teil der Union, da die Ratsherren sich irgendwann für eine Seite entscheiden mussten, und sie haben dem Hochkönig den Sieg über die Gurkhisen gebracht. Sie nennen diese Stadt den Kreuzweg der Welt. Jedenfalls alle, die sie nicht bloß ein Lügennest nennen. Es gibt hier Menschen von den Tausendinseln, aus Suljuk und Sikkur, aus Thond und dem Alten Kaiserreich. Sogar Nordmänner.«
»Ach du meine Güte, bloß diese blöden Hunde nicht.«
»Allesamt Wilde. Ich habe gehört, dass sich manche von ihnen das Haar lang wachsen lassen wie Weiber. Aber hier nehmen sie jeden.« Ihr behandschuhter Finger deutete auf eine lange Reihe von Männern, die auf der anderen Seite des Platzes auf kleinen Plattformen standen. Eine verdammt komische Truppe, selbst für diese komische Stadt. Alte und Junge, Große und Kleine, Dicke und Dünne, einige, die seltsame Gewänder oder Kopfbedeckungen trugen, manche halbnackt und bemalt, und einer war dabei, der sich Knochen durch die Gesichtshaut gestochen hatte. Hinter einigen waren Zeichen in den verschiedensten Sprachen zu sehen, und viele trugen Perlen oder Kugeln. Die Männer tanzten und alberten herum, warfen die Arme in die Höhe, starrten zum Himmel hinauf, fielen auf die Knie, weinten, lachten, zürnten, sangen, kreischten, bettelten, und sie überschrien sich in mehr Sprachen, als Espe vermutet hatte, dass es überhaupt gab.
»Was, zur Hölle, sind denn das für Kerle?«, brummte er.
»Heilige Männer. Oder Verrückte, je nachdem, wen man fragt. Unten in Gurkhul muss man so beten, wie der Prophet es vorschreibt. Hier kann jeder Mann anbeten, was ihm gefällt.«
»Sie beten?«
Murcatto zuckte die Achseln. »Sie versuchen wohl eher, alle anderen davon zu überzeugen, dass sie den besten Weg kennen.«
Die Leute hielten an und sahen den Männern zu. Manche nickten beifällig. Andere schüttelten die Köpfe, lachten, brüllten sogar zurück. Wieder andere standen einfach gelangweilt da. Einer der heiligen Männer – oder der Verrückten – schrie Espe an, als der an ihm vorüberritt, aber der Nordmann konnte den Worten keinerlei Sinn entlocken. Der heilige Mann kniete, streckte die Arme aus, die Perlen um seinen Hals rasselten, und die Stimme war vom vielen Rufen rau. Espe sah es in seinen rot geränderten Augen – der Kerl war überzeugt davon, dass dies das Wichtigste war, was er je in seinem Leben tun würde.
»Muss ein schönes Gefühl sein«, überlegte Espe.
»Was denn?«
»Zu denken, dass man alle Antworten kennt …« Er verstummte, als eine Frau an ihm vorüberging, die einen Mann an einer Leine führte. Einen großen, dunklen Mann mit einem Halsband aus schimmerndem Metall, der einen Sack in jeder Hand trug und die Augen auf den Boden gerichtet hielt. »Hast du das gesehen?«
»Im Süden besitzen die meisten Menschen andere oder gehören zu irgendeinem Besitz.«
»Das ist ja ein abartiger Brauch«, brummte Espe. »Ich dachte, du hättest gesagt, diese Stadt gehört zur Union.«
»Und drüben in der Union lieben sie ihre Freiheit, nicht wahr? Man kann einen Menschen dort nicht zum Sklaven machen.« Sie nickte zu einigen weiteren hinüber, die unterwürfig und bescheiden in einer Reihe an ihnen vorübergeführt wurden. »Aber es befreit sie auch niemand, das kann ich dir verraten.«
»Verdammte Unionisten. Diese Ärsche wollen doch nur immer mehr Land. Es sind jetzt noch mehr von ihnen im Norden als früher. In Uffrith wimmelt es vor ihnen, seit der Krieg wieder ausbrach. Und wozu brauchen sie noch mehr Land? Du solltest die Stadt sehen, die sie jetzt schon haben. Daneben ist diese hier das reinste Dorf.«
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Adua?«
»Genau die meine ich.«
»Du bist dort gewesen?«
»Joh. Ich hab dort gegen die Gurkhisen gekämpft. Hat mir dieses Zeichen eingetragen.« Damit zog er seinen Ärmel zurück und offenbarte die Narbe an seinem Handgelenk. Als er Murcatto wieder ansah, stand ein seltsamer Ausdruck in ihrem Gesicht. Man hätte es beinahe Respekt nennen können. Ihm gefiel das. Es war schon eine Weile her, dass andere Leute ihm mit etwas anderem als mit Verachtung begegnet waren.
»Hast du im Schatten des Hauses des Schöpfers gestanden?«, fragte sie.
»Der größte Teil der Stadt liegt zu irgendeiner Tageszeit im Schatten von diesem Ding.«
»Wie war es?«
»Dunkler als anderswo. So ist das mit Schatten, nach meiner Erfahrung.«
»Hm.« Es war das erste Mal, dass Espe etwas in ihren Zügen entdeckte, das an ein Lächeln erinnerte, und er fand, dass es ihr gut stand. »Ich habe immer gesagt, dass ich mal hinfahren würde.«
»Nach Adua? Was hindert dich daran?«
»Sechs Männer, die ich töten muss.«
Espe blies die Wangen auf. »Ach ja. Das.« Besorgnis wallte in ihm auf, und er fragte sich erneut, wieso er jemals Ja gesagt hatte. »Ich war mir immer schon selbst der schlimmste Feind«, brummte er.
»Dann bleib bei mir.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Auf die Art wirst du schon bald schlimmere haben. Wir sind da.«
Ihr Ziel wirkte nicht besonders vertrauenerweckend. Ein enges Gässchen, düster wie die Dämmerung. Verfallende Gebäude drängten sich aneinander, mit verrottenden, abblätternden Fensterläden und Mauern, deren Putz von den feuchten Ziegeln bröckelte. Er lenkte sein Pferd hinter dem Wagen her und durchquerte einen düsteren Durchgang, während Murcatto die quietschenden Tore hinter ihnen schloss und den verrosteten Riegel vorschob. Espe band sein Pferd in dem von Unkraut und herabgefallenen Ziegeln bedeckten Innenhof an einen fauligen Pfosten.
»Das ist ja der reinste Palast«, brummte er, als er zu dem Viereck grauen Himmels emporsah. Die Mauern, die es umgaben, waren mit vertrockneten Kletterpflanzen überwuchert, und die Fensterläden hingen schief in ihren Angeln. »Mal gewesen.«
»Ich habe es wegen seiner Lage ausgewählt«, erklärte Murcatto, »nicht wegen der Ausstattung.«
Sie durchquerten einen düsteren Flur, von dem leere Türfüllungen abzweigten, die in leere Räume führten. »Eine Menge Zimmer«, bemerkte Espe.
Freundlich nickte. »Zweiundzwanzig.«
Ihre Stiefel schlugen dumpf auf die knarrende Treppe, als sie sich ins verwohnte Innere des Gebäudes vortasteten.
»Wie werden Sie es anfangen?«, fragte Murcatto Morveer.
»Ich habe schon angefangen. Die ersten Einführungsschreiben wurden bereits versandt. Wir haben eine beträchtliche Einzahlung, die wir morgen früh Valint und Balk anvertrauen wollen. So beträchtlich, dass sie die Anwesenheit des obersten Bankbeamten erfordert. Ich, meine Assistentin und Ihr Leibwächter werden uns in die Bank hineinschleichen, verkleidet als Kaufmann mit seinen Gehilfen. Wir werden uns mit Mauthis treffen … und dann eine Möglichkeit suchen, ihn zu töten.«
»So einfach?«
»Öfter, als man glaubt, liegt der Schlüssel zu solchen Dingen tatsächlich darin, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, sobald sie sich bietet. Aber wenn sich ein solcher Augenblick nicht ergibt, dann werde ich die Grundlagen für unser weiteres … stärker strukturiertes Vorgehen schaffen.«
»Was ist mit uns anderen?«, fragte Espe.
»Unsere Dienstherrin besitzt offensichtlich ein auffälliges Gesicht und würde sicherlich leicht wiedererkannt werden. Und du«, erklärte Morveer, der abfällig von der Treppe zu ihm heruntersah, »fällst auf wie eine Kuh unter Wölfen und wärst ungefähr genauso nützlich. Du bist viel zu groß und viel zu vernarbt, und deine Kleidung ist zu bäuerlich, als dass du in eine Bank gehörtest. Und was die Haare angeht …«
»Pfiiiiesch«, sagte Day und schüttelte den Kopf.
»Was soll das denn heißen?«
»Genau das, wonach es sich anhört. Du bist einfach viel, viel zu sehr …« Morveer machte eine vage Handbewegung. »Nordmann.«
Murcatto schloss eine abblätternde Tür oberhalb der obersten Treppe auf und öffnete sie mit einem Ruck. Trübes Tageslicht leckte herein, und Espe folgte den anderen blinzelnd in die Sonne.
»Bei den Toten.« Ein Durcheinander aus wild zusammengewürfelten Dächern aller Formen und Neigungswinkel erstreckte sich um sie herum – rote Ziegel, weißes Blei, verrottendes Reet, nackte Dachbalken, die schon mit Moos überwachsen waren, grünes Kupfer mit Dreckstreifen, geflickt mit Leinen und altem Leder. Ein Gewirr aus schiefen Giebeln, Dachstuben, Balken, von denen Unkraut spross, herunterhängenden Dachrinnen und gebogenen Rohren, mit Ketten und durchhängenden Wäscheleinen umwickelt, in jedem Winkel umeinander- und übereinandergebaut, dass es aussah, als ob das ganze Gebilde jeden Augenblick auf die Straße rutschen würde. Rauch quoll aus den zahllosen Schornsteinen und wob einen Dunst, der die Sonne in einen schwitzigen, verschwommenen Fleck verwandelte. Hier und da bohrte sich ein Turm aus dem Chaos, oder eine Kuppel wölbte sich empor, manchmal auch ein Stückchen bloßes Holz, wenn ein paar Bäume den Kampf gegen die Umstände gewonnen und es geschafft hatten, ein paar Äste auszubilden. Das Meer war als grauer Fleck in der Ferne zu sehen, die Masten der Schiffe im Hafen bildeten einen entlegenen Wald, der sich unruhig auf den Wellen schaukelte.
Hier oben schien es, als stieße die Stadt ein lautes Zischen aus. Die Geräusche von Arbeit und Spiel, von Menschen und Tieren, die Rufe der Verkäufer und Käufer, ratternde Räder und klopfende Hämmer, Bruchstücke von Liedern und von Musik, Freude und Verzweiflung vermischten sich wie Eintopf in einem großen Kessel.
Espe drängte sich neben Murcatto an die flechtenüberwachsene Balustrade und sah hinunter. Menschen bewegten sich weit unter ihnen auf einer gepflasterten Straße hin und her, sickerten dort entlang wie Wasser am Grund einer Schlucht. Ein Ungeheuer von Gebäude dräute auf der anderen Seite.
Die Mauer war eine Klippe aus glattgeschliffenem, blassem Stein, und alle zwanzig Schritte erhob sich eine Säule, die Espe mit den Armen nicht hätte umfassen können und die ganz oben von gemeißelten Blättern und Gesichtern gekrönt wurde. Über der ersten Reihe schmaler Fenster, vielleicht von doppelter Manneshöhe, folgte eine weitere, während die Fenster des nächsten Stockwerks wesentlich größer waren, allesamt mit Metallgittern gesichert. Auf dem flachen Dach, das sich etwa auf einer Höhe mit dem Balkon befand, auf dem Espe stand, thronte eine Hecke aus schwarzen Eisendornen wie die Stacheln einer Distel.
Morveer grinste zu dem Bau hinüber. »Meine Damen und Herren, liebe Wilde, ich präsentiere Ihnen die Westport-Filiale … des Bankhauses … von Valint und Balk.«
Espe schüttelte den Kopf. »Das Haus sieht aus wie eine Festung.«
»Wie ein Gefängnis«, brummte Freundlich.
Voller Verachtung erklärte Morveer: »Wie eine Bank.«