DIE RÜCKKEHR

Monza fühlte sich alles andere als wohl.

Ihr taten die Beine weh, ihr Hintern war vom Reiten wund, und ihre Schulter hatte sich schon wieder verkrampft, so dass sie in dem fruchtlosen Bemühen, die Muskeln zu lockern, ständig wie eine schwachsinnige Eule den Kopf zur Seite ruckte. Sobald die eine Quelle verschwitzter Pein kurz verebbte, tat sich eine andere auf, um die Lücke zu füllen. Ihr blöder, abstehender kleiner Finger schien an einer Schnur kalten Schmerzes zu hängen, die sich erbarmungslos mit dem Ellenbogen verband, sobald sie versuchte, die Hand zu benutzen. Die Sonne brannte gnadenlos vom wolkenlosen, blauen Himmel, zwang sie, die Augen zusammenzukneifen, und zerrte an den Kopfschmerzen, die von den Münzen in ihrem Schädel ausgingen. Schweiß kitzelte ihre Kopfhaut, lief ihr den Hals hinunter, fing sich in den Narben, die Gobbas Draht hinterlassen hatte, und ließ sie wie wild jucken. Ihre prickelnde Haut war gereizt, klamm, klebrig. Sie köchelte in ihrer Rüstung wie weggeworfene Innereien in einer Dose.

Rogont hatte sie so eingekleidet, dass sie der Vorstellung eines schlichten Gemüts von der Göttin des Krieges entsprechen mochte: eine unglückliche Verbindung aus schimmerndem Stahl und bestickter Seide, die so bequem war wie eine komplette Rüstung und ungefähr so viel Schutz bot wie ein Nachthemd. Zwar hatte Rogonts persönlicher Rüstungsschmied alles nach Maß gefertigt, aber trotzdem ließ ihr goldgestrählter Brustpanzer wesentlich mehr Platz für ihren Busen, als nötig gewesen wäre. Denn das, so hatte der Große Zauderer behauptet, wollten die Leute sehen.

Menschen säumten die engen Straßen von Talins. Sie drängten sich in den Fenstern und auf den Dächern, nur um einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie schoben sich in beängstigendem Gedränge über die Plätze und durch die Gärten, warfen Blumen, winkten mit Fahnen und schienen voller überbordender Hoffnung zu sein. Sie schrien, grölten, brüllten, kreischten, klatschten, trampelten und heulten, und jeder schien es darauf anzulegen, unbedingt der Erste zu sein, der mit seinem Gejohle ihren Kopf platzen ließ. Musikergruppen hatten sich an den Straßenecken zusammengefunden und spielten kriegerische Weisen, wenn sie näher kam, quäkend und trötend. Wenn sie vorübergeritten war, vermischte sich der letzte Krach mit den schiefen Tönen der nächsten spontan zusammengekommenen Kapelle zu einem kopflosen, mörderischen, patriotischen Dröhnen.

Es war wie bei dem Triumphzug nach dem Sieg bei Föhrengrund, nur war sie jetzt älter und hatte noch weniger für diese Art von Auftritten übrig, ihr Bruder verfaulte in der Erde, statt sich in ihrem Ruhm zu sonnen, und anstelle ihres alten Freundes Orso hatte sie nun ihren alten Feind Rogont im Rücken. Vielleicht lief es in der Geschichte immer auf so etwas hinaus, und man konnte allenfalls darauf hoffen, einen angriffslustigen Drecksack gegen einen anderen auszutauschen.

Sie überquerten die Tränenbrücke, die Münzenbrücke, die Möwenbrücke. Aus Stein gehauene Seevögel starrten böse auf den Zug hinunter, und die braunen Wasser der Etris strömten zäh zwischen den Pfeilern hindurch. Jedes Mal, wenn sie um eine Ecke bog, brandete eine neue Welle Applaus gegen sie. Eine neue Welle Übelkeit. Ihr Herz klopfte. Sie rechnete jeden Augenblick damit, getötet zu werden. Klingen und Pfeile erschienen ihr so viel wahrscheinlicher als Blumen und freundliche Worte, und wesentlich verdienter. Agenten Herzog Orsos oder seiner unionistischen Verbündeten, oder Hunderte andere, die einen Groll gegen sie hegten. Verdammt, wenn sie in einer Menge gestanden und eine Frau in ihrem Aufzug hätte vorüberreiten sehen, sie hätte sie schon allein aus Prinzip getötet. Aber Rogont hatte mit seinen Gerüchten den Boden gut bereitet. Die Menschen in Talins liebten sie. Oder liebten die Vorstellung, die sie von ihr hatten. Oder mussten so tun als ob.

Sie skandierten ihren Namen, den Namen ihres Bruders, die Namen ihrer Siege. Afieri. Caprile. Musselia. Föhrengrund. Das Hohe Ufer. Nun auch die Furten der Sulva. Sie fragte sich, ob die Leute wussten, worüber sie eigentlich jubelten. Orte, an denen sie eine Spur aus Leichen hinter sich zurückgelassen hatte. Cantains Kopf, der über den Toren von Borletta verrottete. Das Messer in Hermons Auge. Gobba, in Stücke gehackt, den die Ratten in der Gosse zu ihren Füßen zerrissen. Mauthis und seine Schreiber mit den vergifteten Hauptbüchern, den vergifteten Fingern, den vergifteten Zungen. Ario und seine abgeschlachteten Saufkumpane bei Cardotti, Ganmark und seine getötete Leibgarde, der Getreue, der vom Mühlrad hing, Foscars aufgeplatzter Kopf auf dem staubigen Boden. Ganze Wagenladungen voller Leichen. Manche bedauerte sie nicht, einige schon. Aber es war nichts dabei, worüber sie hätte jubeln mögen. Sie sah gequält zu den glücklichen Gesichtern in den Fenstern hinauf. Vielleicht war eben das der Unterschied, der zwischen ihr und diesen Leuten bestand.

Vielleicht mochten sie Leichen, solange es nicht ihre eigenen waren.

Über die Schulter sah sie zu ihren sogenannten Verbündeten, aber auch dieser Anblick war nicht angetan, ihre Stimmung zu heben. Großherzog Rogont, der auf die Krönung zum König wartete, der Menge aus einem Knäuel aufmerksamer Leibwächter zulächelnd, ein Mann, dessen Liebe genau so lange währen würde, wie Monza ihm nützlich war. Espe mit seinem schimmernden Stahlauge, ein Mann, der sich unter ihrer liebevollen Berührung von einem liebenswerten Optimisten in einen verstümmelten Mörder verwandelt hatte. Cosca winkte zurück – der unzuverlässigste Verbündete und der unberechenbarste Feind der Welt, und was von beidem er für sie sein würde, das wusste sie immer noch nicht. Freundlich … wer ahnte schon, was sich hinter diesen toten Augen verbarg?

Weiter hinten ritten die anderen überlebenden Anführer des Achterbunds. Oder Neunerbunds. Lirozio von Puranti mit prächtig gesträubtem Schnurrbart, der nach einem winzigen Augenblick, den er zu Orso gehalten hatte, wieselflink wieder in Rogonts Lager gewechselt war. Gräfin Cotarda, wie immer gut bewacht von ihrem Onkel, der sich ganz in ihrer Nähe hielt. Patine, der Erste Bürger von Nicante, mit seiner kaiserlichen Attitüde und der zerlumpten Bettlerkleidung, der zwar dankend abgelehnt hatte, als es darum ging, sich an der Schlacht an den Furten zu beteiligen, der aber nur zu gern bei der Siegesfeier dabei war. Sogar Städte, die Monza auf Orsos Betreiben hin geplündert hatte, hatten Vertreter geschickt – Bürger von Musselia und Etrea, eine Nichte von Herzog Cantain mit schlauem Blick, die unerwartet Herzogin von Borletta geworden und ganz offenbar nicht unzufrieden mit der Wendung der Ereignisse war.

Menschen, die sie schon so lange für ihre Feinde hielt, dass es ihr schwerfiel, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Den anderen ging es, nach ihren Gesichtern zu urteilen, genauso. Sie war die Spinne, die sie in ihrer Speisekammer ertragen mussten, damit es dort keine Fliegen gab. Aber wenn die Fliegen einmal alle tot sind, wer will dann schon eine Spinne im Salat?

Sie wandte sich um, die schweißnassen Schultern prickelten, und sie versuchte, den Blick nach vorn zu richten. Die Parade zog die endlose Hafenbucht entlang, die Möwen segelten, kreisten, stießen Schreie aus. Die ganze Zeit über hatte sie den verdorbenen Salzgeruch von Talins in der Nase. Vorbei an den Werften; die halbfertigen Rümpfe zweier großer Kriegsschiffe lagen auf ihren Rollen wie die Skelette zweier an den Strand getriebener Wale. Vorbei an den Reepschlägern und Segelmachern, den Holzlagern und Drechslern, den Blechschmieden und Kettenmachern. Vorbei an dem riesigen, stinkenden Fischmarkt, dessen abblätternde Verkaufsbuden leer, die Gänge still waren – vermutlich zum ersten Mal, seit die Menschen zuletzt nach dem Sieg von Föhrengrund auf die Straßen geströmt und wild und fröhlich gefeiert hatten.

Hinter den vielfarbigen menschlichen Flecken waren die Gebäude mit Plakaten übersät, wie es in Talins seit der Erfindung der Druckerpressen gang und gäbe war. Alte Siege, Warnungen, Hetzkampagnen, patriotisches Gedöns – eins wurde immer wieder über das andere geklebt. Auf den neuesten Bogen war das Gesicht einer Frau zu sehen, streng, skrupellos, von kalter Schönheit. Monza drehte sich der Magen um, als sie erkannte, dass sie das sein sollte. Unter dem Bild standen in großen Buchstaben die Worte Kraft, Mut, Ruhm. Orso hatte ihr einmal gesagt, wenn man eine Lüge in die Wahrheit verwandeln wollte, dann musste man sie nur laut genug herausschreien. Und hier sah sie ihr selbstgerechtes Gesicht, wieder und wieder ausgefranst und eselsohrig auf die salzfleckigen Wände geklebt. An der Seite der nächsten bröckelnden Fassade fanden sich andere Plakate, schlecht gezeichnet und verschwommen gedruckt, auf denen sie ungelenk den Degen in die Höhe reckte, während die Zeile darunter verkündete: Niemals aufgeben, niemals zurückweichen, niemals vergeben. Auf die Ziegelwand über dem Papier hatte jemand mit tropfender roter Farbe in mannshohen Buchstaben ein einziges Wort geschrieben:

Rache.

Monza schluckte und fühlte sich noch unbehaglicher denn je. Vorbei an den endlosen Hafenanlagen, vor denen auf den Wellen der großen Bucht Fischkutter, Vergnügungsjachten und Kauffahrer aller Größen und Bauweisen aus den verschiedensten Ländern des Weltenrunds schaukelten. Aus der Entfernung wirkte die Takelung der Schiffe wie Spinnennetze, in die zahllose Seeleute aufgeentert waren, um zu sehen, wie die Schlange von Talins die Stadt für sich einnahm.

Genau, wie Orso gefürchtet hatte.

 

Cosca fühlte sich pudelwohl.

Es war heiß, aber eine kühlende Brise wehte von der schimmernden See herüber, und sein Hut, das neueste Exemplar seiner beständig wachsenden Sammlung, beschattete perfekt seine Augen. Es war gefährlich, denn in einer Menge wie dieser konnte sich mehr als ein eifriger Meuchelmörder verstecken, aber ausnahmsweise war er jetzt gerade von zahlreichen, wesentlich verhassteren Zielen umgeben. Natürlich, ein Schnaps, ein Schnaps, ein Schnaps – die Stimme des Trinkers in seinem Kopf verstummte nie völlig. Aber es war jetzt nicht mehr so sehr ein verzweifelter Schrei, nur noch ein grantiges Brummen, und der Jubel um ihn herum half, es zu überhören.

Abgesehen vom leichten Seetanggeruch in der Luft war es ganz ähnlich wie in Ospria nach seinem berühmten Sieg in der Schlacht der Inseln. Als er ganz vorn in der Kolonne geritten war, sich in den Steigbügeln aufgestellt und den Beifall entgegengenommen, die Hände gehoben und »Aber bitte, nicht doch!« gerufen hatte, obwohl er natürlich »Mehr, mehr!« meinte. Damals war es Großherzogin Sefeline gewesen, Rogonts Tante, die sich im Schein seines Ruhms gesonnt hatte, nur ein paar Tage, bevor sie dann versucht hatte, ihn vergiften zu lassen. Nur ein paar Monate, bevor das Schlachtenglück sich gegen sie gewandt hatte und sie selbst vergiftet worden war. So war es nun einmal in der styrischen Politik. Für einen kurzen Augenblick fragte er sich, wieso er sich damit abgab.

»Die Umgebung ändert sich, die Menschen altern, die Gesichter wechseln, aber der Applaus ist und bleibt derselbe – lebhaft, ansteckend und so überaus kurzlebig.«

»Hm«, knurrte Espe. Mit diesem Laut schien der Nordmann dieser Tage den größten Teil seiner Unterhaltungen zu bestreiten, aber Cosca kam das durchaus entgegen. Trotz seiner gelegentlichen Bemühungen, sich zu verändern, war es ihm immer noch lieber zu reden, als anderen zuzuhören.

»Natürlich habe ich Orso immer schon gehasst, aber sein Sturz bereitet mir trotzdem wenig Freude.« Eine Statue, die den Herzog von Talins in einschüchternder Größe zeigte, war in einer Seitenstraße zu sehen, an der sie gerade vorüberkamen. Orso hatte die Bildhauer seines Landes stets gefördert, solange sie ihn in ihren Werken verewigten. Vor der Statue war ein Gerüst errichtet worden, und jetzt machten sich Männer an dem Gesicht zu schaffen und schlugen die strengen Züge fröhlich mit Hämmern ab. »So schnell macht man den Helden von gestern den Garaus. Genau, wie es mit mir geschah.«

»So wie’s aussieht, bist du aber wieder da.«

»Das ist es doch, was ich meine! Wir alle sind Spielbälle der Gezeiten. Hör doch nur, wie sie Rogont und seine Verbündeten bejubeln, die hier noch vor kurzem als größter Abschaum der ganzen Welt galten.« Er deutete auf die flatternden Plakate, die an einer Mauer in der Nähe klebten und die zeigten, wie Herzog Orso mit dem Gesicht voran in eine Latrine gesteckt wurde. »Wenn man die letzte Schicht Papier dort abzöge, wette ich, dass darunter andere kleben, auf denen jene, die hier gefeiert werden, auf übelste Weise beschimpft werden. Ich erinnere mich an ein Bild, das Rogont zeigte, der auf einen Teller schiss, während Salier das Ergebnis mit einer Gabel in sich hineinschaufelte. Dann gab es noch eins von Herzog Lirozio, auf dem er versuchte, sein Pferd zu besteigen. Und wenn ich ›besteigen‹ sage …«

»He«, knurrte Espe.

»Das Pferd war nicht besonders begeistert. Wenn man noch ein paar Schichten abkratzt, dann findet man sicher welche – wie ich errötend zugeben muss –, die mich als finstersten Schurken im ganzen Weltenrund darstellten, und jetzt …« Cosca warf einigen Damen auf einem Balkon eine extravagante Kusshand zu, und sie lächelten, zeigten auf ihn und sahen ganz so aus, als betrachteten sie ihn als ihren großen Helden.

Der Nordmann zuckte die Achseln. »Die Leute haben hier kein Rückgrat. Sie fallen um, sobald sie ein Windstoß packt.«

»Ich bin weit herumgekommen«, wenn man die Flucht aus einem kriegsgeschüttelten Gebiet in das nächste so bezeichnen konnte, »und meiner Erfahrung nach haben die Leute anderswo auch nicht mehr Rückgrat.« Er schraubte den Verschluss seiner Feldflasche auf. »Die Menschen können hinsichtlich der Welt im Allgemeinen ganz feste Überzeugungen haben, die ihnen dann aber oft gar nicht gelegen kommen, wenn man sie auf das eigene Leben anwenden müsste. Nur wenige Leute lassen sich von ihren Moralvorstellungen an Dingen hindern, die ihnen geraten erscheinen. Oder auch nur vage vorteilhaft. Ein Mensch, der wirklich so sehr an etwas glaubt, dass ihn seine Überzeugung etwas kostet, ist wahrlich ein seltenes und gefährliches Wesen.«

»Es ist ein ganz besonderer Narr, wer den schweren Weg geht, nur weil er der richtige ist.«

Cosca nahm einen langen Schluck aus seiner Flasche, verzog das Gesicht und tippte mit der Zunge gegen seine Vorderzähne. »Es ist ein ganz besonderer Narr, wer überhaupt den richtigen vom falschen Weg unterscheiden kann. Mir persönlich war das nie gegeben.« Er stellte sich in den Steigbügeln auf, riss sich den Hut vom Kopf und schwenkte ihn wild durch die Luft; dabei stieß er einen wilden Jubelschrei aus wie ein Fünfzehnjähriger. Die Menge brüllte begeistert zurück. Als sei er ein Mann, den man bejubeln konnte. Und gar nicht Nicomo Cosca.

 

So leise, dass kaum jemand etwas vernommen haben konnte, so sanft, dass die Töne fast nur in seinem Kopf erklangen, summte Schenkt eine Melodie.

»Hier kommt sie!«

Das erwartungsvolle Schweigen wich einem Beifallssturm. Die Menschen tanzten, warfen die Arme in die Höhe, klatschten voller hysterischer Begeisterung. Sie lachten und weinten, und sie feierten, als hätte sich ihr Leben entscheidend verändert, nur weil Monzcarro Murcatto einen gestohlenen Thron erhielt.

Es war eine Strömung, die Schenkt in der Politik des Öfteren festgestellt hatte. Wenn ein neuer Anführer an die Macht gekommen ist, egal, auf welche Weise das geschieht, dann folgt eine kurze Zeit, in der er einfach nichts verkehrt machen kann. Eine goldene Zeit, in der die Menschen von den eigenen Hoffnungen auf Verbesserung geblendet sind. Natürlich hält nichts ewig. Im Laufe der Zeit – in den meisten Fällen alarmierend schnell – wird das fleckenlose Bild des Anführers von den kleinen Enttäuschungen, Niederlagen und Unzulänglichkeiten beeinträchtigt. Nicht lange, und er kann nichts mehr richtig machen. Die Leute schreien nach einem neuen Anführer, damit sie sich wiedergeboren fühlen können. Schon wieder.

Aber nun hoben sie Murcatto mit Jubelgeschrei in den Himmel, so laut, dass sich Schenkt, obwohl er so etwas doch schon ein Dutzend Mal erlebt hatte, beinahe selbst ein wenig Hoffnung zugestand. Vielleicht war dies ein großer Tag, der erste einer großen Ära, und er würde in den Jahren, die kommen würden, noch stolz darauf sein, dass er dabei eine Rolle gespielt hatte. Selbst wenn es eine finstere gewesen war. Manche Männer taugten eben nur für die finsteren Rollen.

»Bei den Schicksalsgöttinnen.« Schylo, die neben ihm stand, verzog voller Verachtung den Mund. »Wie sieht sie denn aus? Wie ein verdammter vergoldeter Kerzenleuchter. Eine grelle Galionsfigur, die man mit Goldfarbe angestrichen hat, um zu verbergen, wie vergammelt sie schon ist.«

»Ich finde, sie sieht gut aus.« Schenkt freute sich, dass sie noch am Leben war und auf ihrem schwarzen Pferd an der Spitze der funkelnden Kolonne ritt. Herzog Orso war möglicherweise schon fast erledigt, und sein Volk bejubelte einen neuen Herrscher, jetzt, da sein Palast in Fontezarmo belagert wurde. Nicht, dass das irgendeinen Unterschied machte. Schenkt hatte seine Aufgabe, und die würde er bis zum Ende ausführen, wie bitter das auch sein würde. So wie immer. Zu manchen Geschichten passte eben nur ein böses Ende.

Murcatto ritt weiter auf ihn zu, die Augen nach vorn gerichtet, einen Ausdruck völliger Entschlossenheit auf dem Gesicht. Schenkt wäre gern vorgetreten, hätte die Menge beiseitegeschoben, gelächelt und ihr seine Hand hingestreckt. Aber es gab zu viele Zuschauer, zu viele Leibwächter. Der Augenblick, an dem er sie begrüßen würde, von Angesicht zu Angesicht, würde schon noch kommen.

Jetzt blieb er stehen, als ihr Pferd vorüberritt, und summte.

 

So viele Menschen. Zu viele, um sie zu zählen. Wenn Freundlich es versuchte, dann bekam er ein seltsames Gefühl. Vitaris Gesicht starrte ihm plötzlich aus der Menge entgegen; neben ihr stand ein hagerer Mann mit kurzem, farblosem Haar und einem ausgewaschenen Lächeln. Freundlich reckte sich in den Steigbügeln, aber ein flatterndes Banner versperrte ihm kurzzeitig die Sicht, und dann waren sie weg. Tausend andere Gesichter in einem unentwirrbaren Durcheinander. Er sah lieber weiter dem Triumphzug zu.

Wenn sie sich in der Sicherheit befunden hätten und Murcatto und Espe Sträflinge gewesen wären, dann hätte Freundlich der Blick auf das Gesicht des Nordmanns genügt, um zu wissen, dass er sie umbringen wollte. Aber sie waren nicht in der Sicherheit, leider, und hier gab es keine Regeln, die Freundlich verstand. Vor allem nicht, wenn Frauen auf den Plan traten, denn sie waren für ihn eine völlig fremde Erscheinung. Vielleicht liebte Espe sie, und dieser hungrig-wütende Blick war ein Zeichen der Liebe. Freundlich wusste, dass sie in Visserine gefickt hatten, schließlich hatte er sie deutlich genug gehört, aber dann hatte er den Eindruck bekommen, dass sie in letzter Zeit vielmehr mit dem Großherzog von Ospria herumgevögelt hatte, und er wusste nicht, welche Bedeutung das haben mochte. Das war das Problem.

Freundlich hatte das mit dem Ficken nie so richtig kapiert, und das mit der Liebe schon gar nicht. Als er nach Talins zurückgekehrt war, hatte Sajaam ihn manchmal zu Huren mitgenommen und ihm gesagt, es sei eine Belohnung. Es war ihm unhöflich erschienen, eine Belohnung abzulehnen, auch wenn er nicht besonders scharf darauf war. Er hatte allerdings meist Schwierigkeiten, überhaupt einen Steifen zu bekommen. Und der größte Genuss, den ihm diese ganze schmierige Sache überhaupt bereitete, bestand auch später darin, die Anzahl der Stöße zu zählen, bevor alles vorüber war.

Er versuchte, seine ausgefransten Nerven damit zu beruhigen, dass er die Hufschläge seines Pferdes zählte. Es schien angeraten, peinliche Verwicklungen zu vermeiden, seine Bedenken für sich zu behalten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wenn Espe sie tötete, dann bedeutete Freundlich das schließlich nicht allzu viel. Wahrscheinlich wollten sie jede Menge Leute töten. So war das nun mal, wenn man sich in die erste Reihe drängelte.

 

Espe war kein Ungeheuer. Er hatte einfach nur genug.

Genug davon, wie ein Idiot behandelt zu werden. Genug davon, dass ihm seine guten Absichten immer wieder eins reinwürgten. Genug davon, auf sein Gewissen zu hören. Und sich um die Sorgen anderer zu sorgen. Und vor allem hatte er genug davon, dass seine Narbe juckte. Er verzog das Gesicht, als er mit den Fingernägeln an der alten Wunde kratzte.

Monza hatte recht. Erbarmen und Feigheit waren dasselbe. Gutes Verhalten wurde nicht belohnt. Weder im Norden noch hier, noch sonst wo. Das Leben war eine harte Nummer, und wer sich nahm, was er brauchte, der bekam eben auch etwas. Das Recht war aufseiten der Gewissenlosesten, der Verräterischsten, der Blutigsten, und wenn man sah, wie all diese Narren hier jetzt Monzas Namen riefen, dann war das der beste Beweis. Er sah, wie sie langsam an der Spitze voranritt, auf ihrem schwarzen Pferd, und ihr schwarzes Haar im Wind flatterte. Sie hatte mit allem recht gehabt, mehr oder weniger.

Und er würde sie umbringen, vor allem deswegen, weil sie jemand anderen gefickt hatte.

Er stellte sich vor, wie er sie erstach, aufschlitzte, sie auf zehn verschiedene Arten zerlegte. Er dachte an die Narben auf ihren Rippen und daran, sanft eine Klinge genau dazwischenzurammen. Er dachte an die Narben an ihrem Hals und wie gut seine Hände an dieser Stelle anliegen würden, um sie zu erwürgen. Es würde sicher schön sein, sie noch ein letztes Mal so nah zu fühlen. Seltsam, dass er ihr so oft das Leben gerettet und dabei sein eigenes riskiert hatte, und dass er nun darüber nachdachte, wie er sie am besten töten konnte. Es war, wie ihm der Blutige Neuner einst gesagt hatte – Liebe und Hass sind nur um Messers Schneide voneinander entfernt.

Espe wusste Hunderte von Arten, eine Frau umzubringen, die alle ihren Zweck erfüllten. Das Wo und Wann war es, das ihm Probleme bereitete. Sie war nun ständig wachsam und rechnete in jedem Augenblick mit einem Messer. Nicht von ihm vielleicht, aber von irgendwoher. Es gab viele außer ihm, die auf sie angelegt hatten, daran bestand kein Zweifel. Rogont wusste das, und er war mit ihr so vorsichtig wie ein Geizhals mit seinem Sparstrumpf. Er brauchte sie, um das Volk auf seine Seite zu bringen, und er ließ sie ständig von seinen Männern bewachen. Und so würde Espe warten müssen, bis die Zeit gekommen war. Aber er konnte Geduld haben. Es war, wie Carlot gesagt hatte. Gute Arbeit wird niemals … überhastet ausgeführt.

»Halten Sie sich mehr in ihrer Nähe.«

»Hä?« Kein Geringerer als der große Herzog Rogont, der in seinem toten Winkel aufgetaucht war. Espe musste sich beherrschen, damit er dem Kerl nicht die Faust in sein verächtlich verzogenes, hübsches Gesicht schlug.

»Orso hat hier noch immer Freunde.« Rogonts Augen glitten nervös über die Menge. »Spione. Meuchelmörder. Überall lauern Gefahren.«

»Gefahren? Die machen doch alle einen so glücklichen Eindruck.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Wüsste doch gar nicht, was das ist.« Espe sah so gleichgültig drein, dass Rogont nicht sagen konnte, ob er gerade zum Besten gehalten wurde.

»Näher ran! Sie sollen schließlich ihr Leibwächter sein!«

»Ich weiß, was ich bin.« Damit zeigte Espe Rogont sein breitestes Grinsen. »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen.« Er schlug seinem Pferd die Fersen in die Flanken und trieb es voran. Näher zu Monza, so, wie man ihm befohlen hatte. So nah, dass er sehen konnte, wie fest sie die Muskeln ihrer Kinnpartie anspannte. So nah, dass er beinahe die Axt ziehen und ihr den Schädel hätte spalten können.

»Ich weiß, was ich bin«, flüsterte er. Er war kein Ungeheuer. Er hatte nur die Nase voll.

 

Im Herzen der Stadt, auf dem Platz vor dem alten Senatsgebäude, kam der Zug zum Stehen. Das Dach des mächtigen Hauses war schon vor Jahrhunderten eingefallen, die Marmorstufen waren gesprungen und mit Unkraut bewachsen. Die Abbilder vergessener Götter im Fries des riesenhaften Giebeldreiecks waren zu einem Gewirr von Klecksen verwittert, die lediglich noch einen Rastplatz für zahllose kreischende Möwen darstellten. Die zehn hohen Säulen, die den mächtigen Stein trugen, wirkten beunruhigend krumm und schief, von weißen Streifen Vogelkots geziert und mit den flatternden Überresten alter Plakate beklebt. Aber dennoch stellte dieser Überrest uralter Zeiten die kleineren Gebäude, die in seiner Nähe entstanden waren, mühelos in den Schatten und kündete von der verlorenen Majestät des Neuen Kaiserreichs.

Ein Steg aus vernarbten Steinblöcken ragte von den Stufen in das Menschenmeer, das sich auf dem Platz versammelt hatte. An einer Seite stand die verwitterte Statue des Scarpius, viermal mannshoch, eine Figur, die der Welt demonstrativ die Hoffnung hinhielt. Seine ausgestreckte Hand war jedoch schon vor Jahrhunderten am Gelenk abgebrochen, und bisher hatte sich niemand gemüßigt gefühlt, sie zu ersetzen – ein passendes Symbol für die Verhältnisse in Styrien. Vor der Statue, auf den Stufen, vor den Säulen standen grimmige Wächter. Sie trugen das Kreuz von Talins auf ihren Waffenröcken, aber Monza wusste nur zu gut, dass es Rogonts Leute waren. Vielleicht würde Styrien demnächst zu einer großen Familie zusammenwachsen, aber Soldaten in osprianischem Blau wären hier immer noch nicht willkommen gewesen.

Sie glitt aus dem Sattel und schritt durch eine kleine Gasse, die sich in der Menge aufgetan hatte. Die Menschen drängten sich gegen die Wachmänner, riefen ihr Worte zu, bettelten um ihren Segen. Als ob eine Berührung ihrer Hand ihnen irgendetwas gebracht hätte. Bisher hatte das niemandem je etwas Gutes gebracht. Sie hielt die Augen auf den Weg gerichtet, nach vorn, immer nach vorn, und ihr tat der Kiefer weh, weil sie die Zähne so sehr zusammenbiss. Immer noch wartete sie auf die Klinge, den Pfeil, den Bolzen, der ihr ein Ende bereiten würde. Sie hätte dafür getötet, in das süße Vergessen eintauchen zu dürfen, das ihr eine Pfeife geboten hätte, aber sie versuchte, sich zurückzuhalten – sowohl beim Spreu als auch beim Töten.

Scarpius sah auf sie herab, als sie die Stufen hinaufeilte, und der Blick aus seinen flechtenverkrusteten Augenwinkeln schien zu sagen: Konnten sie nichts Besseres finden als diese Schlampe? Hinter ihm ragte das riesenhafte Giebeldreieck auf, und sie fragte sich, ob die hundert Tonnen Stein, die auf den Säulen ruhten, vielleicht ausgerechnet diesen Augenblick wählen würden, um nach vorn zu kippen und die ganze Herrscherriege Styriens auszulöschen, sie eingeschlossen. Ein nicht geringer Teil in ihr hoffte sogar darauf, dass damit dieser schwitzigen, klebrigen Quälerei ein schnelles Ende bereitet würde.

Ein Grüppchen führender Bürger – also die schlauesten und die gierigsten – hatte sich nervös in der Mitte der Plattform eingefunden. Sie schwitzten in ihren höchst erlesenen Kleidern und sahen sie mit dem hungrigen Blick an, die eine Gans auf eine Futterschale werfen mag. Sie verbeugten sich, als Monza und Rogont näher kamen, und ihre Köpfe wippten so einheitlich auf und nieder, dass sie das vermutlich geübt hatten. Gerade dieser Umstand reizte Monza noch mehr als alles andere.

»Erheben Sie sich«, knurrte sie.

Rogont streckte die Hand aus. »Wo ist der Stirnreif?« Er schnippte mit den Fingern. »Der Stirnreif, der Stirnreif!«

Der vorderste Bürger wirkte wie eine Karikatur eines weisen Mannes – Hakennase, schneeweißer Bart und tiefe, knarrende Stimme, dazu ein grüner Filzhut, der wie ein umgedrehter Nachttopf aussah. »Gnädige Frau, ich heiße Rubine und bin dazu ernannt worden, für die Bürger zu sprechen.«

»Ich bin Scavier.« Eine rundliche Frau, deren azurblaues Mieder in seinem Ausschnitt einen erschreckend üppigen Busen präsentierte.

»Und ich bin Grulo.« Ein großer, schlanker Mann, kahl wie ein Ei, der sich zwar nicht direkt vor Scavier drängte, aber zumindest dazu ansetzte.

»Unsere zwei einflussreichsten Kaufleute«, erklärte Rubine.

Rogont zeigte sich wenig beeindruckt. »Und?«

»Und, mit Ihrer Erlaubnis, Euer Exzellenz, wir hatten die Hoffnung, über einige Einzelheiten des Ablaufs noch einmal mit Ihnen sprechen zu können …«

»Ja? Immer raus damit!«

»Was den Titel betrifft, hatten wir gehofft, von einer Adelsbezeichnung Abstand nehmen zu können. Großherzogin schmeckt doch sehr nach Orsos Tyrannei.«

»Wir hofften …«, warf nun Grulo ein, der einen vulgär großen Ring am Finger trug, »auf etwas, in dem sich das Mandat der einfachen Leute widerspiegelt.«

Rogont sah Monza an und verzog das Gesicht, als ob der Ausdruck »einfache Leute« nach Pisse schmeckte. »Mandat?«

»Präsidentin vielleicht?«, schlug Scavier vor. »Erste Bürgerin?«

»Immerhin«, setzte Rubine hinzu, »ist der bisherige Großherzog zumindest rein praktisch gesehen … noch am Leben.«

Rogont knirschte mit den Zähnen. »Er wird in zwei Meilen Entfernung belagert wie eine Ratte in ihrem Loch! Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis über ihn gerichtet werden wird.«

»Aber Sie verstehen sicherlich, dass es Probleme mit der Rechtmäßigkeit geben wird …«

»Rechtmäßigkeit?« Rogont sprach in wuterfülltem Flüsterton. »Ich werde demnächst König von Styrien sein, und ich gehe davon aus, dass die Großherzogin von Talins unter jenen sein wird, die mich krönen! Ich werde König sein, kapiert? Rechtmäßigkeit ist dann etwas, worüber andere sich Gedanken machen können!«

»Aber Euer Exzellenz, es könnte als unangemessen betrachtet werden …«

Zwar hatte man Rogont stets viel zu viel Geduld nachgesagt, aber offenbar hatte er in den letzten Wochen den Großteil davon verloren. »Wie angemessen wäre es wohl, wenn ich Sie zum Beispiel hängen lassen würde? Hier. Jetzt. Zusammen mit allen anderen zögerlichen Dreckskerlen in dieser Stadt. Dann könnten Sie miteinander über die Rechtmäßigkeiten streiten, während Sie baumeln.«

Die Drohung floss für einen langen, unangenehmen Augenblick zwischen ihnen dahin. Monza beugte sich zu Rogont und war sich dabei der vielen Augen, die auf sie gerichtet waren, nur zu bewusst. »Was wir in dieser Lage brauchen, wäre doch wohl ein wenig Einigkeit, oder nicht? Ich habe das Gefühl, dass Hinrichtungen vielleicht die falsche Botschaft vermitteln würden. Lassen Sie uns diese Angelegenheit jetzt einfach über die Bühne bringen, ja? Dann können wir uns alle in einem abgedunkelten Raum ein wenig ausruhen.«

Grulo räusperte sich bemüht. »Natürlich.«

»Eine lange Unterhaltung, um genau an dem Punkt aufzuhören, an dem wir begonnen haben!«, fauchte Rogont. »Geben Sie mir den verdammten Stirnreif!«

Scavier zog einen dünnen, goldenen Reif hervor. Monza wandte sich langsam zu der versammelten Menge um.

»Ihr Bürger Styriens!«, brüllte Rogont hinter ihr. »Vor euch steht die Großherzogin Monzcarro von Talins!« Sie fühlte leichten Druck, als er den Stirnreif auf ihren Kopf schob.

Und so einfach erreichte sie die schwindelnden Höhen der Macht.

Mit leichtem Rascheln knieten alle nieder. Auf dem Platz herrschte Stille, so sehr, dass sie die Vögel auf dem Giebeldreieck über sich flattern und krächzen hören konnte. So sehr, dass sie es klatschen hörte, als rechts von ihr, nicht weit entfernt, Vogeldreck herabfiel und die uralten Steine mit weißen, schwarzen und grauen Flecken besudelte.

»Worauf warten sie alle?«, raunte sie Rogont fragend zu, wobei sie versuchte, die Lippen möglichst wenig zu bewegen.

»Auf eine Rede.«

»Ich?«

»Wer sonst?«

Eine Welle entsetzten Schwindels brandete über sie. Wenn sie die Menge richtig einschätzte, dann war sie ihr fünftausend zu eins überlegen. Aber sie hatte das Gefühl, dass es keinen so guten Eindruck machen würde, wenn ihre erste Amtshandlung als Regentin darin bestand, voller Panik von der Plattform zu fliehen. Also trat sie langsam vor, tat einen der schwersten Schritte, den sie je hatte gehen müssen, versuchte mühsam, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen und Worte hervorzuzaubern, die ihr in dem blitzkurzen Augenblick nicht einfallen wollten. Sie schritt durch Scarpius’ großen Schatten ins Tageslicht, und das Meer von Gesichtern tat sich vor ihr auf, neigte sich ihr entgegen, die weit geöffneten Augen voller Hoffnung. Das vereinzelte Gemurmel verebbte zu nervösem Geflüster und dann zu unheimlicher Stille. Sie öffnete den Mund, wusste aber immer noch nicht, was herauskommen würde.

»Ich war nie jemand, der …« Ihre Stimme war allenfalls ein dünnes Quäken. Sie hustete, um die Kehle frei zu bekommen, spuckte den Rotz über ihre Schulter und erkannte sofort, dass sie das nicht hätte tun sollen. »Ich hatte nie viel übrig für große Reden!« So viel zumindest war offensichtlich. »Bin eher jemand, der gleich rangeht, statt lange drüber zu reden! Na ja, ich wurde auf einem Bauernhof geboren. Wir werden uns als Erstes mit Orso beschäftigen! Dafür sorgen, dass wir den Drecksack loswerden. Dann … na ja … dann sind die Kämpfe vorbei.« Ein seltsames Murmeln ging durch die Menge. Gelächelt wurde nicht direkt, aber viele sahen in die Ferne, mit feuchten Augen, und einige nickten. Sie war überrascht, dass sie selbst ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust spürte. Sie hatte vorher nie darüber nachgedacht, dass sie wollte, dass die Kämpfe zu Ende gingen. Sie hatte kaum jemals etwas anderes kennengelernt.

»Frieden.« Und wieder ging das sehnsüchtige Raunen über den Platz. »Wir werden einen König haben. Ganz Styrien wird in eine Richtung gehen. Die Blutigen Jahre haben dann ein Ende.« Sie dachte an den Wind im Weizen. »Dann können wir vielleicht auch wieder dran denken, was anzubauen. Eine bessere Welt kann ich euch nicht versprechen, denn, na ja, die ist eben so, wie sie ist.« Sie sah verlegen auf ihre Füße und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Ich kann euch aber versprechen, dass ich mein Bestes dafür tun will. Wir wollen versuchen, es so hinzubekommen, dass jeder hat, was er zum Leben braucht, und dann mal sehen, wie weit wir kommen.« Ihr Blick kreuzte den eines alten Mannes, der ihr ergriffen mit Tränen in den Augen und bebenden Lippen lauschte, die Hand an die Brust gedrückt.

»Das ist alles!«, stieß sie kurz angebunden hervor.

 

Jeder normale Mensch hätte sich an einem derart stickig heißen Tag etwas Leichtes angezogen, aber Murcatto, die ja immer alles anders machen musste als alle anderen, hatte sich prompt für eine komplette und auch noch geradezu albern ausgefallene Rüstung entschieden. Morveer blieb von daher nur die Möglichkeit, auf ihr ungeschütztes Gesicht zu zielen. Allerdings bot ein kleineres Ziel eine größere Herausforderung, und darin wiederum lag für einen Scharfschützen seiner überragenden Fähigkeiten auch wesentlich mehr Befriedigung. Er holte tief Luft.

Zu seinem Entsetzen bewegte sie sich im entscheidenden Augenblick, sah auf die Plattform hinunter, und der Pfeil flog um Haaresbreite an ihrem Gesicht vorbei, um von einer der Säulen des alten Senatsgebäudes hinter ihr abzugleiten.

»Verdammt!«, zischte er mit dem Mundstück seines Blasrohrs zwischen den Zähnen, suchte in seiner Tasche nach einem neuen Pfeil, zog dessen Kappe ab und ließ ihn sanft in die Kammer gleiten.

Es war eine Unglückssträhne von jener Art, wie Morveer sie seit seiner Geburt immer wieder einmal hatte erdulden müssen, die nun dafür sorgte, dass Murcatto, gerade als er die Lippen wieder um das Rohr schloss, ihre Rede mit einem nachlässigen »Das ist alles!« beendete. Die Menge brach in wilden Applaus aus, und sein Ellenbogen wurde von einem begeistert klatschenden Bauern beiseitegestoßen, der neben dem Eingang stand, in dem er sich verborgen hielt.

Der tödliche Pfeil flog weit an seinem Ziel vorbei und verschwand in dem wogenden Durcheinander neben der Plattform. Der Mann, dessen wildes Herumgefuchtel dafür gesorgt hatte, dass er danebenschoss, sah sich um, das breite, fettige Gesicht voller Misstrauen. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war er ein Arbeiter, mit Händen wie Kohlenschaufeln, und die Flamme des Intellekts hatte hinter seinen Schweinsäuglein ein nur sehr kleines Feuer angezündet.

»He, was machst du da …«

Dank des verdammten Proletariats war Morveers Versuch nun komplett gescheitert. »Ich bedauere ganz außerordentlich, aber wären Sie wohl so gütig, das hier ganz kurz festzuhalten?«

»Hä?« Der Mann sah verwundert auf das Blasrohr, das ihm plötzlich in die schwieligen Pranken gedrückt worden war. »Ah!« Nun hatte ihn Morveer mit einer präparierten Nadel ins Handgelenk gestochen. »Was, zur Hölle, soll das?«

»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet.« Morveer nahm das Rohr wieder an sich und schob es zusammen mit der Nadel in eine seiner vielen verborgenen Taschen. Die meisten Menschen brauchen lange, bis sie wirklich in Wut geraten, und gewöhnlich geht diesem Zustand ein vorhersehbares Ritual aus gesteigerten Drohungen, Beleidigungen, Drohgebärden, ersten Tätlichkeiten und so weiter voraus. Sofortiges Handeln ist ihnen völlig fremd. Und von daher fing der Ellenbogenschubser auch erst jetzt an, richtig grantig zu werden.

»Hör mal!« Er packte Morveer am Jackenaufschlag. »Hör …« Seine Augen verschleierten sich. Er wankte, blinzelte, dann hing ihm die Zunge heraus. Morveer packte ihn unter den Armen, keuchte unter dem plötzlichen Gewicht des Toten, als der Mann zusammenbrach, und rang ihn zu Boden, wobei es ihn unangenehm im Rücken zwickte.

»Geht’s ihm gut?«, fragte jemand grollend. Morveer hob den Blick und stellte fest, dass ihn ein halbes Dutzend Männer anstarrten, die seinem Opfer nicht ganz unähnlich waren.

»Insgesamt zu viel Bier!«, rief Morveer über den Lärm und setzte ein falsches Kichern hinzu. »Mein Begleiter hier ist leider ziemlich angeheitert!«

»Heiter, hä?«, fragte einer.

»Betrunken!« Morveer beugte sich zu ihnen hinüber. »Er war so überaus stolz, dass nun die große Schlange von Talins zur Herrin unseres Schicksals wird! Sind wir das nicht alle?«

»Joh«, brummte ein anderer, zwar offenbar verwirrt, aber zumindest teilweise beschwichtigt. »Klar. Murcatto!«, beschloss er den Satz etwas lahm, während seine naturtrüben Kameraden bestätigend grunzten.

»In unserer Mitte geboren!«, brüllte wieder ein anderer und schwenkte die Faust.

»Oh, unbedingt. Murcatto! Freiheit! Hoffnung! Erlösung von überbordender Dämlichkeit! So sieht es aus, mein Freund!« Morveer schnaufte, als er sich mit dem großen Mann, jetzt einer großen Leiche, abmühte und ihn in den Schatten des Eingangs zog. Gequält verzog er das Gesicht, als er den schmerzenden Rücken beugte. Und da die anderen ihn nicht mehr beachteten, tauchte er wieder in die Menge, wobei er jedoch vor Wut kochte. Es war unerträglich, dass diese Dummbeutel derart begeistert für eine Frau klatschten, die überhaupt nicht in ihrer Mitte geboren worden war, sondern vielmehr auf einem unkrautbewachsenen Flecken am äußersten Rand von Talins, wo die Grenze höchst beweglich war. Eine gewissenlose, hinterhältige, lügnerische Bäuerin, die einem die Gehilfen abspenstig machte, Massenmord beging und noch dazu die Angewohnheit hatte, sich ausgesprochen lautstark zu paaren, eine Diebin ohne den Hauch eines Gewissens, deren einzige Qualifikation als Befehlshaberin in ihrer mürrischen Art, ein paar Siegen gegen inkompetente Gegner, dem zuvor erwähnten Hang zu schnellem Handeln, einem Sturz von einer Felswand und einem zufällig höchst attraktiven Gesicht bestanden.

Er musste wieder einmal erkennen, wie er es schon so oft getan hatte, dass das Leben für gut aussehende Menschen einfach viel, viel leichter war.