Epilog

 

Caroline saß auf einer Holzschaukel auf der vorderen Veranda ihres Hauses im Westen Massachusetts’ und sah zu, wie ihre dreijährige Tochter in einem Berg aus goldenen und gelben Blättern spielte. Auf ihrem Schoß lag ein altes Buch, ein Geschenk von Janie nach ihrer Rückkehr aus England vor vier Jahren. Der Ledereinband war rissig und trocken, und sie dachte zerknirscht, daß sie es eigentlich nicht anfassen sollte. Es gehört in ein Museum, dachte sie jedesmal, wenn sie es zur Hand nahm.

Aber ich kann es einfach nicht hergeben, dachte sie dann immer. Auch nach vier Jahren ist es noch zu frisch.

Wieder blätterte sie die Seiten um und begann ganz am Anfang. Sechshundert Jahre, dachte sie; unglaublich, daß es zu seiner Vollendung so lange brauchte. Sie bewunderte die feine europäische Handschrift des ersten Schreibers, jetzt auf der vergilbten Seite kaum noch sichtbar. Es gab eine Zeit, dachte sie, als wir noch nicht einfach in einen Computer sprachen und dann darauf warteten, daß die gedruckte Seite erschien, makellos in Grammatik und Orthographie. Früher einmal schrieben die Leute auf Seiten aus Papier mit Federn, die in eine Lösung aus Kohle und verdünntem Pech getaucht wurden, und ihre Finger wurden schwarz davon, ihre Handgelenke schmerzten vom Bilden der Buchstaben. Dieser Mann schrieb, als wüßte er, daß er eines Tages nach seinem Werk beurteilt werden würde.

Sie blätterte durch die gesammelte Weisheit von sechshundert Jahren. Die Gesichter und Worte hatten sich ihr nach zahllosen Wiederholungen unauslöschlich eingeprägt. Auf der allerletzten Seite befand sich ein Ausschnitt aus der Londoner Times, ein Artikel, der veröffentlicht worden war, während sie sich in Brighton erholte. Daneben klebte die Reproduktion eines Computerbildes von ihrem eigenen Gesicht; sie hatten sie nicht beim Namen genannt, aber sie wußten es. Es war ihr eigenes Gesicht, und sie wußte sehr genau, warum sie gesucht wurde.

Das Zeitungspapier war leicht zerknittert; sie dachte bei sich, daß sie nachlässig gewesen sein mußte, als sie das Buch das letzte Mal zugeklappt hatte, und schwor sich, daß das nicht wieder vorkommen würde. Museum, dachte sie wieder einmal. Bevor es zu spät ist.

Sie las den Artikel zum hundertsten Mal.

Beamte von Biopol versuchen den Aufenthaltsort der hier abgebildeten Frau festzustellen. Sie wird beschrieben als ungefähr einsdreiundsechzig groß mit hellrotem Haar. Sie hat entweder blaue oder grüne Augen und ziemlich helle Haut. Möglicherweise hat sie auffallende Sommersprossen ...

Das mit den Sommersprossen gefiel ihr. Wenn die wüßten . dachte sie. Sie las weiter.

... insbesondere im Gesicht, und aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie normalgewichtig. Man nimmt an, daß sie ausländische Staatsbürgerin ist, vermutlich Amerikanerin, und mit einem begrenzten Visum reist. Wer sachdienliche Informationen über die flüchtige Person geben kann, wird gebeten, sich mit Lieutenant Michael Rosow von der West-End-Abteilung von Biopol in Verbindung zu setzen. Weiter wird mitgeteilt, daß man sich der Frau unter keinen Umständen nähern sollte, denn sie wird verdächtigt, Trägerin der Ursache einer potentiell tödlichen Infektionskrankheit zu sein. Niemand von Biopol war bereit, die besagte Krankheit beim Namen zu nennen; der Pressesprecher hat lediglich erklärt, der ungenannte Zustand könne »sehr schwerwiegender Natur« sein.

Vertreter des Gesundheitsministeriums haben es inzwischen abgelehnt, ein unbestätigtes Gerücht zu kommentieren, es handele sich um einen Ausbruch der Beulenpest, von der man lange annahm, sie sei in London ausgerottet, unter Mitgliedern eines speziellen Clans von Marginalen, und es seien Schritte unternommen worden, deren Ausbreitung zu kontrollieren. In den letzten Wochen hat es sechs bestätigte Todesfälle außerhalb der Population der Marginalen durch eine pestähnliche Krankheit oder ein entsprechendes Syndrom gegeben; eines der Opfer war ein prominenter Londoner Gastwirt. Beamte von Biopol haben die Resultate ihrer Ermittlungen über diese Todesfälle nicht bekanntgegeben; es hieß, die amtliche Todesursache aller sechs Opfer müsse erst noch bestimmt werden, und jeder offizielle Kommentar zu dem angeblichen Ausbruch wäre voreilig und könne möglicherweise zu Unruhen führen.

Angeblicher Ausbruch, so ein Quatsch, dachte sie und schloß das Buch. Ich war dort. Von »angeblich« konnte keine Rede sein. Sie legte das Buch auf die hölzerne Sitzfläche der Schaukel und schaute auf ihre vernarbten Finger. Beim Gedanken, wie nahe sie daran gewesen war, sie zu verlieren, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das lange rote Haar; sie mochte es, wie kühl es sich anfühlte, und dachte wieder einmal: Ich sollte es abschneiden. Aber sie verwarf diesen Gedanken, denn ihr Mann liebte es. Grund genug, es lang zu lassen, dachte sie.

Die Sonne ging unter; alles war in herbstliches Gold getaucht. Sie rief nach dem kleinen Mädchen in dem Blätterhaufen, und ein roter Lockenkopf voll kleiner Zweige tauchte daraus auf.

»Sarah Jane Rosow!« rief Caroline. »Komm her!«

Das Kind hüpfte über den Rasen, sprang die Stufen zur Veranda hinauf und kletterte auf den Schoß seiner Mutter.

Caroline küßte die Stirn ihrer Tochter, umarmte sie, nahm dann das Buch auf den Schoß und schlug es auf. »Mama möchte dir eine Geschichte erzählen .«