24

 

Sarin trug die hölzerne Schachtel mit alten Gegenständen zum Bett. Er setzte sich auf einen Stuhl und balancierte die Schachtel vorsichtig auf dem Schoß. Mit Rücksicht auf sein hohes Alter und seine Zerbrechlichkeit hob er den Deckel sehr langsam und behutsam ab und legte ihn neben seinem Stuhl auf den Boden. Die Schachtel enthielt eine seltsame Ansammlung von Gegenständen, ein scheinbar wahlloses Sammelsurium kleiner Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten. Sarin nahm eines nach dem anderen heraus und legte sie auf den Nachttisch. Während er ihn ablegte, murmelte er den Namen jedes Gegenstandes vor sich hin, wobei er die auswendig gelernte Liste sorgsam in der richtigen Reihenfolge aufsagte, denn der zuletzt herausgenommene Gegenstand mußte als erster benutzt werden. Er hatte das im Laufe der Vorbereitungen auf diese Nacht viele Male geübt. Als alle Gegenstände am richtigen Platz lagen, betrachtete er sie und überzeugte sich davon, daß er bei der Inszenierung dessen, was er geübt hatte, alles richtig gemacht hatte. »Und nun das Buch«, sagte er zu Carolines schlafender Gestalt. Er stand von seinem Stuhl neben dem Bett auf, der leise knarzte, als er sich von dem Rohrsitz erhob - und schlurfte steif ins Nebenzimmer; er fand den alten Band genau da, wo er ihn gelassen hatte, und trug ihn ins Schlafzimmer. Er hatte die richtige Seite mit der gleichen Feder markiert, die auch seine Mutter zu benutzen pflegte, und achtete darauf, sie nicht herauszuziehen. Er legte das Buch auf den Bettrand und schlug es an der richtigen Stelle auf.

Er las langsam, denn das Kerzenlicht war schwach, und seine Augen hatten sich ihm noch nicht ganz angepaßt. Er hätte sich keine solche Mühe zu geben brauchen, denn er hatte die Anweisungen so gut wie auswendig gelernt, und das Vorlesen war nur noch eine Wiederholung dessen, was er bereits eingeübt hatte. Er wußte, daß er aus Angst so vorsichtig vorging, denn wenn er einmal angefangen hatte, konnte er nicht mehr innehalten. Hör auf, Zeit zu vergeuden, sagte er sich; schau, daß du vorankommst.

»Zuerst die Bänder«, murmelte er zu seiner eigenen Sicherheit. Sie waren mit einem dünnen Zwirnsfaden zusammengebunden. Er löste den Knoten im Zwirn, und die Bänder fielen bündelweise auf die Bettdecke. Sie waren modrig und rochen nach Schimmel, aber der Stoff, aus dem sie vor so langer Zeit hergestellt worden waren, war noch heil und zerfiel nicht, als er die Bänder berührte. Er steckte die Bänder überall an Carolines Nachthemd und die Bettwäsche und lehnte sich dann zurück, um sein Werk anerkennend zu betrachten. Ein Schritt ist vollendet, dachte er. Laut sagte er zu dem Hund: »Komm und schau, Kumpel. Die junge Dame sieht ganz festlich aus. Eines Tages wird sie wieder ein hübsches Mädchen sein, meinst du nicht?«

Doch der Hund erschien nicht an der Seite seines Herrn, wie Sarin erwartet hatte. Vermutlich schläft er, dachte der alte Mann; er hat sich angestrengt, genau wie ich. Am besten lasse ich ihn ausruhen. Er kehrte zu seinen Aufgaben zurück.

Um eine leere Walnußschale war ein weißes Band gebunden; er hatte es selbst erst am Vortag verknotet. Jetzt fummelten seine steifen Finger unbeholfen an dem kleinen Knoten herum, und er fragte sich, wie er ihn so fest hatte anziehen können. Doch nach einigem Ziehen und Zerren löste er sich; der Mann hielt die Nußschale dicht über Carolines Brust, teilte die beiden Hälften und legte sie auf die Bettdecke. Eine kleine schwarze Spinne krabbelte heraus und machte sich eilig davon.

Sarin sah zu, wie das Tier unter den Bettdecken verschwand, und dachte daran, wieviel schwerer es gewesen war, es in die Nußschale zu praktizieren.

Er war ungeheuer erleichtert gewesen, als er die beiden Hälften sicher um die Spinne hatte schließen können. »Das war ein lebhaftes kleines Ding, was, Kumpel?« sagte Sarin zu dem Hund.

Er erwartete ein zustimmendes Jaulen, aber alles blieb still. Wieder schaute er sich im Zimmer um und hoffte, das Tier zu sehen. Schläft noch immer, dachte er. Wirklich ein sehr langer Schlaf.

Zweiter Schritt vollbracht, dachte er. Er legte die leere Nußschale zusammen mit dem Band wieder in die Schachtel. Nur für den Fall, daß sie noch einmal gebraucht wird ... Er flüsterte ein kurzes Gebet, dies möge nicht der Fall sein. Lieber Gott, laß sie nicht gebraucht werden, laß es hier zu Ende sein .

Er brach ein paar Krumen von einer Brotkruste ab, die so trocken war, daß sie bei seiner Berührung beinahe zerfiel. »Drei Krumen von einem Brotlaib, der am letzten Karfreitag gebacken wurde ...«, sagte er und drückte die Brotkrumen an Carolines Lippen. Es spielte keine Rolle, ob sie sie schluckte, das wußte er; es reichte, sie ihr darzubieten. Dritter Schritt vollendet ...

Und nun der vierte. Er nahm einen kleinen Kupferring und steckte ihn an einen ihrer Finger. Ein Ring aus von Aussätzigen erbettelten Pennies ...

Was wohl die andere fernhielt? Hatte sie seine Botschaft nicht erhalten? Er stand von dem Stuhl auf und ging in den Wohnraum der Hütte. Nachdem er den Vorhang von dem kleinen Fenster gezogen hatte, schaute er nach draußen in das Dunkel der Nacht und fragte sich, wann endlich die Scheinwerfer um die Ecke kommen und langsam in seine Einfahrt einbiegen würde.

»Ich kann es selbst tun, weißt du?« sagte er laut und fast trotzig. »Schließlich habe ich richtig geübt ... nicht wahr, Kumpel?«

In der Hütte blieb es still. Er rief laut nach dem Hund, aber das Tier erschien nicht. Er ging zur Tür und öffnete sie, weil er dachte, er hätte den Hund vielleicht draußen gelassen; das war denkbar angesichts seiner Eile, aber er konnte sich einfach nicht erinnern. Er pfiff in die stille Nacht und wartete. Endlich schloß er die Tür wieder, verwirrt und besorgt. Er ging zu der Stelle, wo der Hund gewöhnlich lag, einer alten, abgenutzten Decke, die das Tier mit den Zähnen stets anders anordnete, ehe es sich niederließ. Jeden Abend pflegte es sich rituell dreimal über der zerknitterten Decke zu drehen und mit dem Schwanz zu wedeln, ehe es sich lächelnd niederließ und den Kopf auf die Vorderpfoten legte. Doch die Decke war leer bis auf ein paar einzelne Hundehaare und dem leichten Hundegeruch, den sie vor allem an feuchten Tagen verströmte. Sarin sah sich rasch im restlichen Raum um, fand aber keine Spur von dem Tier.

»Du mußt doch hier drin sein«, sagte er laut. Und obwohl es in der kleinen Hütte schwer war, irgend etwas zu verstecken, fing Sarin an, Dinge zu verschieben und vom Boden aufzuheben und seinen Hund zu suchen. Das fiel ihm schwer, und er war nicht an diese Arbeit gewöhnt. Nach wenigen Minuten war er sehr müde. Verzweifelt ging er ins Schlafzimmer zurück; er konnte die Pflege der jungen Frau nicht zu lange aufschieben.

Unter dem Bett schaute das Schwanzende des Hundes heraus.

»Da bist du ja!« sagte Sarin erleichtert. »Was hat dich denn so erschreckt, alter Freund? Komm jetzt heraus.«

Der Hund rührte sich nicht. Sarin pfiff leise, ein Signal, von dem er wußte, daß es den Hund auch aus dem allertiefsten Schlaf weckte. Er wartete darauf, den Kopf mit den gespitzten Ohren auftauchen zu sehen, doch das Tier bewegte sich nicht.

Der alte Mann kniete sich auf den Boden und schob die Hand unter das Bett, um sie dem Hund auf den Rücken zu legen. Er sollte sich heben und senken ... warum hebt und senkt sein Rücken sich nicht? In panischer Angst griff er nach dem Schwanz des Hundes und zog und zerrte daran, bis er den Hund unter dem Bett hervorgeholt hatte. Kleine Staubflocken hafteten an dem reglosen, zottelhaarigen Körper, und ohne daran zu denken, daß es vielleicht Wichtigeres zu tun gab, fing Sarin an, sie abzuzupfen. »Oh, lieber Gott ...«, sagte er. »Bitte, nein . « Er legte die Hand vor das halb geöffnete Maul des Tieres und hoffte, den leisen Atemzug des Tieres auf seiner Handfläche zu spüren. Doch er fühlte nichts.

Irgendwo in der Ferne hörte er ein Telefon läuten; er ignorierte es völlig und blieb bei seinem Hund. Er wußte, wer am anderen Ende der Leitung sein würde; wenn er sich meldete, würde sie eine Erklärung für seine Aufforderung verlangen und niemals glauben, was er ihr zu sagen hatte. Er dachte, sie solle besser einfach kommen, wie er sie gebeten hatte.

Zorn füllte sein Herz und dann schrecklicher Schmerz. Das war niemals Teil des Plans gewesen! Darauf hat mich niemand vorbereitet! Seine Mutter hatte ihm nie gesagt, daß dies geschehen könne. Warum haben sie meinen Hund genommen? Sanft streichelte er das weiche Fell auf dem Kopf des Hundes und wischte sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen. Er hob das Tier auf und drückte es zärtlich an seine Brust. Er lehnte sich ans Fußende des Bettes und blieb dort lange sitzen, weinend und seinen toten Gefährten wiegend, bis er einschlief.

Mehrere Transporter mit neongrünen Blinklichtern blieben gleichzeitig auf dem Platz am Fuß der Brücke stehen. Leute, die aus den Fenstern ihrer Wohnungen zuschauten, ließen rasch die Jalousien herunter, sobald sie erkannten, worum es ging; niemand wollte auffallen, indem er sich zu sehr für die Tätigkeit der Biocops interessierte.

Sie waren binnen Minuten nach dem Anruf der Außenmannschaft auf der Brücke gekommen. Lieutenant Rosow hielt es für einen ziemlichen Glücksfall, daß er so schnell einen Bericht bekommen hatte, die gesuchte Person sei gesehen worden; solche Dinge waren immer Zufall, das wußte er, und es hätte leicht auch ganz anders laufen können. Man hätte sie stunden-, ja tagelang nicht sehen können. Muß Schicksal sein, dachte er. Oder mein gutes Karma.

Die Türen der Transporter flogen auf, und ungefähr dreißig grüne Riesen stiegen aus, jeder mit Sprechfunkausrüstung und geladener chemischer Waffe. Der Fußgängerverkehr auf dem Platz kam zum Erliegen; wer schon auf dem Platz war, als die Transporter kamen, machte sich schnell und vorsichtig davon, und wer noch nicht auf dem Platz war, wagte ihn nicht mehr zu betreten. Nach ein paar Minuten hatte sich die Gruppe in mehrere Teams unterteilt; Lieutenant Rosow sprach schnell mit jedem der Teamleiter, und kurz darauf schwärmten alle Teams in verschiedene Richtungen aus.

Rosow führte sein eigenes Team die schlüpfrige Böschung hinunter unter die Brücke, direkt unterhalb der Stelle, wo der Marginale auf dem Bürgersteig umgefallen war. Der Leichnam war jetzt fort, sauber in einen grünen Leichensack mit Reißverschluß verpackt und in einem Kühlwagen verstaut. Er hinderte niemanden mehr am Weitergehen. Unter der Brücke fanden sie die ärmlichen Besitztümer und Kleidungsstücke einer ganz anderen Art von Gesellschaft als der, in der sich Rosow tagtäglich bewegte. Wie können die so leben? fragte er sich, während er und sein Team die schäbigen Habseligkeiten der Welt unter der Brücke durchforsteten.

Marginale aber fanden sie nicht. »Sie müssen sich gedacht haben, daß wir kommen«, sagte er zu seinem Team. »Auch gut; wir sollten sie ohnehin häufiger aufscheuchen und dann mit Schläuchen hier herunterkommen.« Mit dem Lauf seines Gewehrs schob er ein paar Gegenstände zur Seite, ohne genau zu wissen, was er eigentlich zu finden hoffte. »Hier gibt es nicht viel zu sehen«, sagte er und gab seinem Team ein Zeichen, die Böschung wieder hinaufzuklettern und zum Hauptplatz zu gehen.

Sie sammelten sich erneut und machten sich in die Richtung auf den Weg, in die man die Frau hatte gehen sehen, obwohl der Beamte, der Rosow Bericht erstattet hatte, gesagt hatte, er wisse nicht genau, ob sie nicht eine Seitenstraße genommen habe. »Sie schien in der Dunkelheit zu verschwinden«, hatte er gesagt, als Rosow ihn befragte. Er hatte einen Einkaufswagen erwähnt. Die Spur wurde allmählich kalt, und sie würden noch mehr Glück brauchen, um die Alte und den mysteriösen Rotschopf in ihrem Karren zu finden.

Er befragte eine Menge Leute, bis endlich jemand zugab, er habe gesehen, wie ein Einkaufswagen den Hügel hinaufgeschoben wurde; keine Frau, sondern ein sehr magerer Mann, berichtete der Zeuge, sicher nicht mal fünfzig Kilo schwer. Aber da war eindeutig jemand in dem Einkaufskarren, jemand mit roten Haaren. Rosow nahm über Funk mit den anderen Suchmannschaften Kontakt auf und berichtete ihnen, daß die gesuchte Person wahrscheinlich inzwischen eine andere sei.

Ein Schwächling von nicht mal hundert Pfund, dachte er traurig bei sich. Und eine schöne junge Frau. Wir werden sie einfach beide abservieren, ohne Fragen zu stellen. Als er die Leiche des toten Wachmannes aus dem Institut untersucht hatte, hatte der arme Mann sich als vollkommen sauber erwiesen, ohne jedes erkennbare Problem, nicht mal ein Pickel. So eine tragische Vergeudung! Aus dem Aussehen seines Magens hatte Rosow geschlossen, daß der Mann hin und wieder an Blähungen litt. Aber Fürze sind nicht ansteckend. Und auch nicht illegal.

Grimmig vollendet er seinen Gedanken: Sie sind noch nicht illegal.

Er führte sein Team den Hügel hinauf, wohin der Zeuge ihn gewiesen hatte; in ihren schweren Anzügen und mit der ganzen Ausrüstung keuchten und schnauften die Biocops, als sie oben angelangt waren. »Wie zum Teufel hat jemand, der angeblich so dürr war, es geschafft, einen Einkaufswagen mit einem Menschen drin diesen Scheißhügel raufzuschieben?« fragte er; als Antwort erhielt er von seinem Team nur schweigendes Achselzucken.

Als sie das Feld erreichten, sah er das offene Tor und fühlte sich davon auf unerklärliche Weise angezogen. Was ist das? fragte er sich. Hier gibt es nichts. Spuren im Schlamm, zwei weit auseinanderstehende, schmale Rillen, die durchaus von einem Einkaufskarren stammen mochten, führten vom Tor weg zur Mitte des Feldes. Doch auf einer kleinen Erhebung schienen sie zu enden und dann wieder umzukehren. Rasch sah er sich in der unmittelbaren Umgebung des Feldes um, entdeckte aber keine Wohnstätten und entschied, daß derjenige, der den Karren geschoben hatte, es hier wahrscheinlich zu holprig gefunden und kehrtgemacht hatte, um einen besseren Weg durch das Feld zu finden. Aber warum sollte jemand dieses Feld überqueren wollen? fragte er sich. Es führt nirgends hin. Ratlos leitete er sein Team wieder zurück und durch das Tor, wo die Spur sich verlor, als der Pfad in die asphaltierte Straße überging.

Das Telefon läutete und läutete. Endlich gab Janie die Hoffnung auf und klappte das kleine Handy zu. Entmutigt warf sie es Bruce zu, der es auffing und in die Tasche steckte.

»Da meldet sich niemand«, sagte sie, »aber Caroline muß sich mit ihm in Verbindung gesetzt haben. Es gibt keinen anderen Grund, warum er sonst so eine Nachricht hinterlassen haben sollte.«

»Und was willst du jetzt tun?«

»Ich denke, wir sollten einfach hingehen. Entweder ist er nicht da, oder er meldet sich nicht. Vielleicht hinterläßt er eine Nachricht, die uns anderswohin ruft. Ich weiß nicht. Er ist ein sehr alter Mann.«

»Gut. Das mit dem Portier hast du erledigt?«

Janie nickte.

Bruce vergewisserte sich, daß der Kofferraum richtig geschlossen war; sie stiegen in den Wagen und fuhren los. Die Straßen waren in den frühen

Morgenstunden nahezu verlassen bis auf ein paar Londoner Straßenarbeiter, die ihnen keine Beachtung schenkten, und Bruce kam sehr schnell voran und lenkte den Wagen sicher durch die engen Straßen. Janie versuchte sich unterdessen auszurechnen, in welchem Zustand Caroline sich jetzt befinden mochte.

»Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß sie weniger krank war als Ted«, sagte sie, während sie um eine Ecke bogen. Sie zählte rückwärts und kam zu dem Schluß, daß Ted wahrscheinlich vor drei Tagen gestorben war. Ihre Stimme wurde ängstlicher. »Die Pest wirkt erheblich schneller als viele andere Krankheiten.«

»Aber vergiß nicht«, sagte Bruce, »dein Doktorvater meint, daß es sich um eine alte Mikrobe handelt. Was wir heute sehen, ist vielleicht kein gutes Modell. Wir wissen nicht, was wir finden werden. Reg dich nicht zu sehr auf, solange wir nicht Bescheid wissen. Vielleicht ist sie in besserer Verfassung, als du denkst.«

Ihre Stimme klang beinahe hektisch. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Obwohl ich nie einen akuten Pestfall gesehen habe, glaube ich einfach nicht, daß es weniger scheußlich ist, als wir denken. O Gott, Bruce, was für ein Durcheinander. Sie könnte sogar schon tot sein.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu weinen. »Alles, was mir passiert ist, seit ich dieses dumme Stück Stoff gefunden habe, war schlecht. Alles, nur du nicht.«

Er nahm eine Hand vom Steuer und faßte ihre Hand. Sie lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und schloß die Augen. Er beobachtete die Autos, die ihnen gelegentlich entgegenkamen, als sie die Brücke überquerten, und fragte sich, wie Caroline es geschafft hatte, einen so langen Weg zurückzulegen, oder ob sie ihn überhaupt zurückgelegt hatte.

Als Janie die Augen wieder aufschlug, befanden sie sich auf der hinteren Seite des Feldes. »Wir sind fast da«, sagte sie und rutschte auf ihrem Sitz herum. Sie richtete sich gerader auf und begann, ihm den Weg zu weisen. »Du mußt da hinten herumfahren«, sagte sie und schwenkte hektisch die Hand. »Auf der entgegengesetzten Seite gibt es eine Einfahrt. Wir können ziemlich nah an die Hütte heranfahren.«

Er bog in die Einfahrt und brachte den Wagen mit quietschenden Bremsen so dicht wie möglich beim Gebüsch zum Stehen. Eicheln spritzten unter den Reifen hervor und trafen mit scharfem Ping den Wagenboden. Sie sprangen aus dem Wagen und liefen den Weg hinunter.

Während sie auf die verkrümmten Eichen zurannten, wurden sie von dem gleichen Wind erfaßt, der vorher Sarin angefallen hatte und der gegen ihr

Eindringen zu protestieren schien. Bruce zog seine Jacke enger um sich, und Janie schirmte ihr Gesicht vor fliegenden Zweigen und Blättern ab.

»Woher kommt dieser Wind? War er auch da, als ihr früher hier gewesen seid?«

»Nein!« kreischte Janie. »Da war nichts dergleichen! Wir sind einfach zwischen den Bäumen durchgegangen.«

Ein weiterer Windstoß fegte durch die Öffnung zwischen den Bäumen und trieb sie zurück. »Das ist fast so, als würde etwas nicht wollen, daß wir da durchgehen!« rief Bruce.

Janie blieb wie gelähmt stehen. »O Gott, ich habe solche Angst!« rief sie; sie stand im Wind, die Jacke eng um sich gezogen, die Augen vor dem umherfliegenden Staub geschlossen.

Bruce drehte sich um, nahm ihren Arm und zog sie weiter. »Komm schon«, rief er über das Heulen des Windes hinweg.

Sie stand einfach zitternd da, während der Wind ihr das Haar ins Gesicht wehte. »Ich kann nicht weiter«, kreischte sie.

Er zog wieder an ihrem Arm, aber sie wehrte sich. Der Wind tobte wütend um sie herum und ließ sie frieren; Janie drehte sich um und wollte weglaufen. Bruce packte ihren Arm und zog sie zurück. Schreiend versuchte er sich verständlich zu machen: »Du hast keine Wahl. Und ich stecke jetzt genauso tief drin wie du. Ich habe dieselbe Angst. Wir müssen das zu Ende bringen.«

Er zog sie weiter in Richtung auf die Hütte. »Bereit?« fragte er.

Sie nickte zögernd und unsicher, aber ihm reichte das. Mit einer ungeheuren Anstrengung sprang er zwischen den Bäumen durch; als sie sie hinter sich hatten, legte sich der Wind vollständig. Zusammen standen sie in der warmen, ruhigen Luft und bürsteten die Blätter und Zweige ab, die wie Disteln an ihren Kleidern und Haaren hafteten. Dann faßten sie sich an den Händen und rannten zusammen auf die Tür der Hütte zu. Ohne anzuklopfen, drückte Janie sie mit einer Hand langsam auf, und sehr vorsichtig und mit eingezogenen Köpfen traten sie ein.

Sie standen in dem kleinen Wohnraum der Hütte und sahen sich schweigend um. Bruce war verblüfft über das, was er vor sich sah. Er spitzte die Lippen und stieß einen leisen, erstaunten Pfiff aus. »Hallo, Mittelalter«, sagte er.

Alles war alt, klein und sehr sorgfältig eingerichtet. Es gab einen steinernen Kamin mit einem Herd aus Schiefer, ein dampfender Kessel hing an einem Haken in der Mitte. Es gab kein elektrisches Licht, nur Laternen und Kerzen. Das einzige Zeichen moderner Zivilisation war ein altes, schwarzes Tischtelefon aus Metall mit einer Wählscheibe.

»Ich fühle mich wie in die Vergangenheit zurückversetzt«, sagte Bruce.

Der Raum war nur schwach erleuchtet, aber Janie bemerkte die auffallenden Veränderungen seit ihrem ersten Besuch sofort. »Das sieht völlig anders aus«, flüsterte sie. »Als ich zum ersten Mal hier war, sah es so aus, als hätte zehn Jahre lang niemand saubergemacht. Jetzt wirkt es wie eine Art Schrein.« Sie suchte mit den Augen nach dem alten Mann, der sie herbeigerufen hatte. »Ich möchte nur wissen, wo Sarin steckt.«

Das weiche Licht vieler Kerzen fiel aus einem kleinen Nebenraum auf einer Seite. »Schau mal da drüben«, sagte Janie und zeigte auf die offene Tür. Wie ein Falter fühlte sie sich instinktiv von dem Licht angezogen und ging ohne Bruce durch den Raum. Er folgte ihr sofort, und dann standen sie beide in der Tür.

Janie gab einen überraschten Laut von sich. Auf dem Bett, mit glänzend rotem Haar, in frischen, mit roten Bögen bestickten Leintüchern, lag der reglose Körper von Caroline Porter.

Janie wimmerte auf und hielt sich eine Hand vor den Mund. »O mein Gott, Bruce«, sagte sie und klammerte sich an ihm fest, »wir sind zu spät gekommen.«

Bruce löste sich sanft aus ihrem Griff und trat ohne sie an das Bett. Die Frau, die dort lag, war kaum als Caroline zu erkennen. Ihre Haut war kreidebleich, aber ihr Hals war von einem gräßlichen Halsband aus eitergefüllten, schwärzlichen Schwellungen umgeben. Ihre Lippen waren rissig und bluteten, und ihre Finger, ordentlich um einen Strauß getrockneter Kräuter gefaltet, waren fast purpurn.

Schüchtern kam Janie näher und trat an seine Seite. Als sie sah, wie sehr Caroline entstellt war, begann sie wieder zu weinen. Sie streckte die Arme aus und wollte Carolines reglose Gestalt umarmen, aber Bruce hielt sie zurück.

Was Janie mit ihren Augen sah, war Caroline, aber innerlich sah sie die Leichen ihres Kindes und ihres Mannes vor sich. Sie sind zu schnell gestorben; ich habe keinen von beiden berühren können ... Ihre persönliche Tragödie überwältigte sie mit vernichtender Gewalt, und sie fing an, sich gegen Bruces Griff zu wehren, wollte das Bett erreichen. »Bitte, laß mich; ich möchte sie bloß einmal anfassen«, bat sie.

Bruce hielt sie fester, war aber überrascht, wie stark ihr Widerstand war. »Janie, nein«, sagte er. »Das kannst du nicht; wir sind dem allen schon zu nahe gekommen.« Fast gewaltsam hielt er sie zurück. »Du darfst das nicht riskieren.«

Endlich gab sie nach und ließ sich festhalten; still standen sie im Kerzenlicht und klammerten sich verzweifelt aneinander. Janies alptraumhafte Erinnerung an die Ausbrüche durchflutete sie; sie wehrte sich tapfer dagegen, überlebte das Entsetzen wie damals, indem sie eine Sekunde nach der anderen mit einer Kraft durchstand, die sie nicht als ihre eigene erkannte.

Nichts war zu hören außer Janies leisem Weinen, bis aus der Dunkelheit ein kaum hörbares Stöhnen ertönte. Rasch sah Bruce sich um, sicher, etwas gehört zu haben, einen menschlichen Laut, aber er sah niemanden. Er lauschte noch einen Augenblick gespannt und hörte den Laut wieder; diesmal achtete er auf die Richtung, aus der er kam. Er ließ Janie los und ging zum Fußende des Bettes. Als er den Blick nach unten richtete, erblickte er einen alten Mann, der sich hin und her wiegte und dabei einen reglosen Hund in den Armen hielt. Er berührte Janies Arm und sagte drängend: »Schau! Am Fußende!«

Der Schock brachte Janie wieder in die Gegenwart; sie wischte sich die heißen Tränen aus den Augen und eilte an Sarins Seite.

Sie kauerte sich neben ihm nieder und berührte sanft seine Schulter.

»Mr. Sarin?« sagte sie. Er wiegte sich weiter, ignorierte Janies Versuch, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Mr. Sarin!« sagte sie lauter. »Bitte, Mr. Sarin!«

Er sah sie ausdruckslos, verwirrt und benommen an, doch bald erschien ein schwaches, erkennendes Lächeln auf seinem Gesicht. »Oh, hallo, Miss«, sagte er langsam. Er umfaßte zärtlich den Kopf des Hundes und hob ihn ein wenig an, als wolle er ihr das Tier darbieten. »Schauen Sie. Mein Hund ist gestorben.«

Zögernd streckte sie die Hand aus und berührte den Kopf des Hundes, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Endlich murmelte sie: »Es tut mir schrecklich leid.«

»Das ist schwer, der Tod, wenn man nicht damit rechnet...«

Seine Worte lösten bei Janie eine neue Flut von Tränen aus. »Ich weiß«, schluchzte sie. »Meine Freundin dort .«

Sarin sah sie fragend und noch immer benommen an: »Aber sie ist nicht tot ...«, sagte er.