26
Janie packte Sarin an den Schultern und schüttelte ihn. »Was meinen Sie damit, daß Caroline nicht tot ist?« Ihre Augen waren ungläubig aufgerissen.
Sarin wich zurück, erschrocken über ihren plötzlich explodierenden Ärger. Er war verwirrt; er war sicher gewesen, daß sie das, was er ihr zu sagen hatte, freuen würde. Er wiederholte sich in der Hoffnung, daß sie nicht so heftig reagieren würde. »Sie ist nicht tot.« Seine eigene Stimme klang weit entfernt, als sei er anderswo. »Da ist etwas, das ich tun sollte, aber ich kann mich nicht erinnern. Ich bin so müde ...«
Doch Janie war schon an Carolines Bett und preßte ihren Kopf auf Carolines Brust.
»Ich höre ihr Herz schlagen!« Janie nahm Carolines fast schwarze Hand in ihre und suchte am Handgelenk nach einem Puls. Er war schwach, aber vorhanden, und schlug mit einer Entschlossenheit, die Janie einem von der Krankheit so mitgenommenen Körper nicht zugetraut hätte.
»Mr. Sarin«, rief Janie, »ich brauche ein paar Sachen. Einige Handtücher, einen Topf mit heißem Wasser, starke Seife und eine scharfe Schere .« Bevor sie ihre Liste beendet hatte, unterbrach er sie. »Das hilft nichts.«
Sie hielt inne. »Was meinen Sie damit? Ich bin Ärztin, ich weiß, wovon ich rede .«
Er sah sie direkt an; Janie merkte, daß er allmählich aus seiner Benommenheit aufwachte. Sie war erstaunt, wie scharf sie seinen stechenden Blick empfand.
»Sie können nichts tun, um sie zu retten. Das sollte meine Aufgabe sein, und ich wollte es gerade tun, als mein Hund starb . « Er schaute auf das Tier in seinen Armen, und neue Tränen traten ihm in die Augen.
»Ich verstehe nicht ...«, sagte Janie.
Sarin legte den Körper des Hundes auf den Boden und streichelte ihm noch einmal den Kopf. Dann stand er langsam auf, wobei Bruce ihm half, und begann zu erklären.
»Mein ganzes Leben lang habe ich mich auf diesen Moment vorbereitet. Es ist seit über sechshundert Jahren vorhergesagt, daß ein Tag kommen wird, die Welt in Besitz zu nehmen.« Er runzelte die Stirn. »Deshalb konnte ich Sie die Bodenprobe nicht nehmen lassen . Ich wußte, daß das passieren würde .«
Visionen der Nacht, in der sie und Caroline heimlich eine Röhre voll Erde aus dem Feld draußen entnommen hatten, gingen Janie durch den
Kopf. Und das Gefühl der Bedrohung, das Gefühl, daß sie beobachtet wurden, all die schlechten Empfindungen dieser Nacht kamen zurück. Warum habe ich nicht besser aufgepaßt? dachte sie.
»O Gott . das ist alles meine Schuld . Ich habe es gewußt ...«, stöhnte sie.
Sarin stammelte weiter, versuchte, sich ihr verständlich zu machen. »Seit dieser Zeit ... o Gott, meine Mutter hat mir gesagt ... da war jemand in diesem Haus, der über das Feld wachte ... sie war eine davon . jemand sorgte immer dafür, daß die Seelen der Dahingeschiedenen nicht gestört wurden.«
»Der Dahingeschiedenen?« sagte Janie. »Ich verstehe nicht ... welcher Dahingeschiedenen?«
»Es sollte eine andere Zeit kommen ...«, sagte er, »eine andere Zeit . wir haben darauf gewartet, und jetzt ist sie gekommen . oh, meine Güte .«
»Was meinen Sie mit >wir<?« fragte Janie, verblüfft über das, was sie da hörte. »Wer ist >wir<?«
Ihre Fragen verwirrten ihn, und er geriet ganz durcheinander. Sie kamen zu schnell für ihn, anscheinend funktionierte sein Geist nicht mehr richtig. Er fing an, fast zusammenhanglos vor sich hin zu murmeln, und mit großer Angst nahm er wahr, daß die Frau immer aufgeregter wurde.
Dann erinnerte er sich. Das Buch.
»Warten Sie«, sagte er, »ich glaube, ich kann es Ihnen zeigen .«
Er nahm das zerfallende alte Buch und überreichte es Janie ehrfürchtig.
Sie blätterte rasch die Seiten um, versuchte, den alten Schriftzeichen einen Sinn abzugewinnen; er sagte: »Bitte, seien Sie vorsichtig damit; ich habe es von meiner Mutter bekommen.« Er nahm das Buch und wendete vorsichtig die Seiten um, bis er eine bestimmte Stelle fand. »Da«, sagte er. »Sehen Sie sich die an.« Er gab ihr das Buch zurück.
Während Janie die alten, braunen Seiten umblätterte, erzählte er ihr die Geschichte. Seine Stimme wurde ruhiger, als er jetzt sprach, und er wirkte selbstsicherer. »Die letzte ist meine Mutter. Und die davor ist ihre Mutter, und davor ist die Mutter meiner Großmutter. Und so weiter zurück bis zu der Zeit, als die erste Wache begann.«
Die letzten drei Bilder waren Photographien. Davor gab es entweder Zeichnungen oder Gemälde, einige schlicht und fast kindlich, andere höchst kunstvoll ausgeführt. Und unter jedem Bild stand der Name »Sarah«. Das letzte, in Schwarzweiß, zeigte Sarins eigene Mutter als junge Frau. Sie beschattete ihre Augen vor der Sonne und lächelte. Gekleidet war sie wie um 1940, und sie hatte ein kleines Kind auf dem Arm, zweifellos Robert Sarin selbst.
Überhaupt keine Männer, bis auf Sarin, dachte Janie.
Sie dachte beinahe, Sarin könne ihre Gedanken lesen, als er sagte: »Jede dieser Frauen, von der ersten angefangen, war bereit, ihr eigenes Leben dafür hinzugeben, die Seuche in Schach zu halten. Sie haben die Geheimnisse der Heilung für die Zeit aufbewahrt, wo sie gebraucht werden würden. Meine eigene Mutter starb verbittert. Sie wünschte sich verzweifelt, es würde in ihrer Zeit passieren; sie hatte niemals eine Tochter, nur mich .«
Janie legte ihm eine Hand auf den Arm, unterbrach ihn. »Die Geheimnisse einer Heilung…?«
Er schien verstört, weil sie ihn unterbrochen hatte; Janie merkte, daß er die Erklärung wie auswendig gelernt aufgesagt hatte. Vielleicht versteht er überhaupt nicht, was er mir sagt, dachte sie.
Er nahm ihr das Buch wieder aus den Händen und öffnete es ganz am Anfang. »Sehen Sie?« Er zeigte auf eine Seite. »Es war einmal ein Arzt. Vor sehr langer Zeit. Das war sein Buch. Und was er von der allerersten Sarah lernte, benutzte er, um ein Heilmittel zu entwickeln. Er schrieb alles nieder, und es ist weitergegeben worden. Ja, jede brachte der nächsten bei, wie .«
Janie unterbrach ihn erneut. »Dann wissen Sie also, wie Caroline geheilt werden kann.«
Er war überrascht, daß sie das nicht gewußt hatte. »Ja!« sagte er, und seine Stimme klang jetzt erregter. »Ich war gerade damit beschäftigt, als ich den Hund entdeckte. Schauen Sie her . es steht alles in dem Buch!« Seine Stimme wurde dunkler und unsicher, und er sprach fast wie ein ängstliches Kind. »Als ich ihn fand, wußte ich, daß es zurückgekommen war und ihn genommen hatte, um mich von meiner Pflicht abzuhalten, als wolle es sich verteidigen, indem es mich ablenkte .«
Janie spürte, wie ihre Stimme zitterte, als sie die nächste Frage stellte: »Ist es zu spät?«
Sarins Kopf senkte sich demütig. »Ich kann es nicht sagen . ich schäme mich so. Es ist alles, wozu ich jemals ausgebildet wurde, und ich fürchte, ich habe vielleicht versagt.«
Langsam erkannte Janie, daß Carolines Schicksal ganz und gar in den Händen dieses sehr einfachen Mannes lag, der offenbar nie ganz richtig im Kopf gewesen war, auch schon, bevor das Alter ihn noch weiter beeinträchtigte. Sie spürte eine unangenehme Mischung aus Mitgefühl und Zorn auf diese arme Seele; sie war traurig, daß er ein so begrenztes Leben geführt hatte, und wütend, weil er es nicht geschafft hatte, das eine zu tun, von dem er anscheinend annahm, es gebe seinem Leben Sinn und Zweck. Sei vorsichtig mit ihm, warnte sie sich selbst. Caroline braucht ihn, um zu überleben. Sanft sagte sie: »Sie sollten nicht so hart gegen sich selbst sein; Sie haben es ja noch nicht bis zum Ende versucht! Sie müssen wieder dort hineingehen!«
»Ich kann nicht«, sagte er. Seine Stimme war immer noch die eines Kindes.
Jetzt wurde Janie klar, was sie tun mußte. Sie faßte ihn fest bei den Schultern und richtete sich gerade auf, so daß sie größer war als er. Ihr kamen schmerzhafte Erinnerungen, als sie ihre befehlendste, mütterlichste Stimme benutzte und entschieden sagte: »Sie müssen. Ich sage Ihnen, daß Sie müssen.«
Er starrte die jüngere Frau an, die ihm soeben befohlen hatte, was er nicht zu können glaubte, und sagte: »Also gut. Ich werde es versuchen, aber vielleicht ist es zu spät.«
Sie faßte Sarin am Arm und führte ihn entschlossen wieder an das Bett zurück, wo Bruce noch immer Caroline beobachtete. »Bruce!« sagte sie mit erregter Stimme. »Sarin weiß ein ...«
Er unterbrach sie mit einer scharfen Handbewegung. »Pssst!« sagte er. »Schau!« Er zeigte auf Caroline.
Ihre Augen waren offen. Sie folgten Janies Bewegung, als sie näher an das Bett trat.
»Caroline? Können Sie mich hören?«
»Ich glaube nicht, daß sie das kann«, sagte Bruce. »Ich habe mit ihr gesprochen, während du und Sarin das Buch angeschaut habt, und sie hat nicht reagiert. Sie scheint in irgendeiner Art Trance zu sein.«
Janie sah Sarin an. »Wissen Sie, was das bedeutet?«
Zitternd trat der alte Mann an das Bett. »Ich glaube, es bedeutet, daß wir uns besser an die Arbeit machen sollten.«