16
Die Wärterin gab Janie ein heißes Wegwerfhandtuch, um die Reste des Gleitmittels von ihrem Körper zu wischen, und als sie mit dem kleinen Tuch soviel wie möglich von den Überbleibseln des Bo- dyprintings entfernt hatte, reichte Janie es zurück. Sie sah zu, noch immer etwas benommen von der verstörenden Erfahrung, wie die Wärterin es zu ihrem ersten sterilen Anzug in den gelben Plastikbeutel steckte und diesen dann versiegelte. Sie klebte ein Etikett darauf - Janie konnte sehen, daß es mit »Merman, Ethel J.« beschriftet war - und legte ihn beiseite. Dann gab sie Janie einen frischen sterilen Anzug und neue Wegwerfslipper. Janie zog sich sofort an, denn sie zweifelte nicht daran, daß die Augen hinter den Spiegeln sie noch immer betrachteten; sie konnte beinahe spüren, wie die Blicke sich in ihr Fleisch bohrten. Sie schlang die Arme um den Oberkörper, um sich zu wärmen, denn im Printingraum war es ziemlich kühl, und sie hatte eine Gänsehaut. Der leichte Plastikstoff des Anzugs wärmte sie nicht, und als sie zwischen zwei schweigenden Biocops zu ihrer Zelle zurückging, zitterte sie sichtbar. Die kalte Scham, vergewaltigt worden zu sein, war noch immer so intensiv, daß sie das Gefühl hatte, ihr Körper sei gar nicht mehr ihr eigener, sondern irgendwie fremd und verändert und gehöre jemand anderem. In diesem gespaltenen Zustand kehrte sie in ihre Zelle zurück, sehr viel gehorsamer, als sie diese in Gesellschaft des Biocops verlassen hatte. Wenn man noch weitere Forderungen an sie gestellt hätte, hätte man sie ziemlich gefügig gefunden.
Der Boden der Zelle bestand aus Fliesen, und als Janie ihre Kleider wieder aufhob, hatten sie deren Kälte angenommen. »Drehen Sie sich um, ja?« sagte sie kühl zu Bruce, der schweigend gehorchte. »Ich ziehe jetzt meine schmutzigen Kleider wieder an.«
Er hätte ihr gern viele Fragen gestellt, aber er hatte die Demütigung und Wut in ihrem Gesicht gesehen, als die Biocops sie zurückgebracht hatten, und hielt es für besser, sie nicht zu stören, bis sie sich ein wenig erholt hatte. Er hatte gehofft, sie würde von sich aus sprechen, aber sie blieb stumm, und ihre Zähne klapperten, als sie in der Zelle auf und ab ging.
Schließlich verlor er die Geduld; er wollte unbedingt wissen, wie es ihr ging. Noch immer mit abgewandtem Gesicht sagte er: »Janie?«
Sie ging weiter auf und ab. »Ja?«
»Kann ich mich wieder umdrehen?«
»Aber bitte.«
Er drehte sich um und sah sie an. Sie wich seinem Blick aus. »Sind Sie in Ordnung?« fragte er leise.
Sie zögerte einen Moment und antwortete dann in gedämpftem Ton. »Ich denke, man könnte sagen, daß ich in Ordnung bin.« Sie seufzte tief. »Aber es ist mir schon entschieden besser gegangen.« Als sie endlich aufblickte und ihn durch die Gitterstäbe der Zelle ansah, verriet ihr Gesichtsausdruck Niedergeschlagenheit und Erschöpfung. Sie atmete tief aus und sagte: »Das war zweifellos die erniedrigendste Erfahrung meines Lebens.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, ließ echte Reue erkennen, als sei er irgendwie persönlich verantwortlich für ihre Schwierigkeiten.
»Es tut mir leid, daß Ihnen das passiert ist. Ich weiß, daß Sie das Printen mißbilligen. Es ist hart, aber ich denke nicht mal mehr darüber nach.« Mit gesenktem Kopf fügte er hinzu: »Manchmal vergesse ich, wie schwierig es für manche Menschen ist ...«
Janie setzte sich wieder auf den kalten Boden und zog die Knie an die Brust. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es für irgend jemanden einfach ist. All diese Sonden und Sensoren . und die Stellen, wo sie sie anbringen . Ich habe mich gefühlt wie an einem Bratspieß, als würden jeden Moment Flammen an meinen Knöcheln züngeln.«
Bruce schwieg ein paar Augenblicke bedächtig. Als er endlich wieder sprach, klang seine Stimme zurückhaltend. »Wie lange hat das Printen gedauert? Ich meine, die eigentliche Abbildung.«
Sie schniefte. »Ich kann es Ihnen nicht sagen; ich habe keine Uhr gesehen, so lange ich da drinnen war. Es könnte eine halbe Stunde gewesen sein. Fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Aber ich weiß es wirklich nicht.«
»Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal geprintet worden bin…«
Janie richtete sich ein wenig auf. »Das letzte Mal? Ich verstehe nicht. Ich dachte, das würde nur einmal gemacht.«
Er zögerte ein paar Sekunden, ehe er antwortete, um die richtigen Worte zu finden. Schließlich gab er sich mit der schlichten, unverblümten Wahrheit zufrieden. »Ich habe mich freiwillig zur Verfügung gestellt.«
Janie stand auf. »Sagen Sie das noch mal«, sagte sie. »Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie haben sich freiwillig zweimal printen lassen?«
Ihr Blick war so intensiv, daß er sich ganz klein vorkam. »Es war mehr als zweimal. Tatsächlich bin ich zehnmal geprintet worden.«
Ungläubig umfaßte sie die Gitterstäbe. »Zehnmal? Um Gottes willen, warum, Bruce? Das ist eine schreckliche Prozedur! Sind Sie eine Art Masochist?«
»Ich mußte sicher sein, daß wir es richtig machen!« Jetzt war er betroffen, und seine Stimme verriet den Konflikt, den er empfand. Seine Beteiligung an der Entwicklung des Bodyprinting hatte er als berauschend empfunden, doch als er ihr jetzt die Geschichte erzählte, kam er sich dabei so unbehaglich vor wie in einem Beichtstuhl. »Ich gehörte zu dem Team, das die ersten Printingtechniken entwickelte. Es war nicht meine Idee, wenn ich auch zugeben muß, daß es mich von Anfang an fasziniert hat. Unsere ersten Bemühungen waren noch sehr rudimentär und nicht sonderlich brauchbar. Aber es dauerte nicht lange, bis wir allmählich wirklich bedeutsame Resultate erzielten, und von da an ging es schnell voran. Vom Konzept bis zum funktionierenden Modell dauerte es nur sechs Jahre.«
Dann wurde seine Stimme wieder ruhiger. »Ich bin zehnmal geprintet worden, weil wir es damals schwer hatten, Freiwillige zu finden, sogar unter Strafgefangenen. Wir haben alle mit unseren eigenen Körpern experimentiert, um die Kontrollen und die Strahlenbelastung bei den Leuchtsonden zu testen. Lange Zeit haben wir nur uns selbst und alle Leichen geprintet, derer wir habhaft werden konnten ... Dann haben wir eine zweite Maschinengeneration gebaut und zu Testläufen in alle Welt verschickt. Schließlich wurde fast jeder geprintet, der beim ersten Ausbruch starb, sogar in den USA, wenn das auch nicht allgemein bekannt ist . wir benutzten immer wieder dieselben Maschinen, bis wir mit allen Einstellungen zufrieden waren, und dann zerstörten wir die erste Serie und bauten ganz neue Exemplare.«
»Ich kann nicht begreifen, wie Sie bei so etwas mitmachen konnten.«
Bruce fing an, die Geduld mit ihr zu verlieren. »Ich glaube, Sie sehen das nicht richtig, Janie. Sie wirken da schrecklich engstirnig. Sie sind Chirurgin, und Sie haben doch sicher auch Nutzen von .«
»Ich muß Sie berichtigen«, sagte sie empört. »Ich war Chirurgin, bevor all diese Vorschriften erlassen wurden. Bevor diese ganze Technologie, einschließlich Bodyprinting, die reine, schlichte Medizin beinahe obsolet machte.«
»Wie kann ein großartiges diagnostisches Werkzeug die Medizin obsolet machen?« sagte er mit wachsender Frustration. »Verbessert es Ihre chirurgische Technik nicht, wenn Sie genau wissen, wo Sie schneiden müssen? Heilt ein kleinerer Einschnitt beim Patienten nicht schneller? Ist er nicht mit weniger Schmerzen und weniger Infektionsrisiko verbunden? Ist nicht alles verbessert?«
»Natürlich, alles ist verbessert. Ich fand es wunderbar, wenn ich einen kleineren Schnitt machen und dann ein Pflaster draufkleben konnte. Das ist nicht der Teil, gegen den ich Einwände habe. Aber diese Technik bedeutet einen so brutalen Übergriff .«
»Das hört sich an, als wäre es kein Übergriff, den Körper eines Menschen aufzuschneiden. Das haben Sie vermutlich mehrmals täglich getan.«
»Ja, habe ich. Aber wenn ich es getan habe, haben es nur die Leute gesehen, die gleichzeitig mit mir im Raum waren. Und wenn wir auch nicht immer totalen Respekt vor den Menschen hatten, an denen wir arbeiteten, haben wir doch hinterher keinen Bericht an irgendein Computernetzwerk gegeben. Es passierte in einem Raum, mit einer begrenzten Anzahl von Zuschauern, und der Patient wußte dabei, daß seine persönlichen Angelegenheiten nicht in irgendeine riesige Computerdatei eingehen würden.«
»Sie überreagieren. Die Information ist da, aber wir entwickeln Vorschriften, um den Zugang zu ihr zu beschränken.«
»Sie wissen so gut wie ich, daß jeder halbwegs tüchtige Hacker in fast jedes Netzwerk auf der Erde eindringen kann. Computer gewähren keine Intimsphäre mehr. Was passiert, wenn irgendein übereifriger Unternehmer herausfindet, daß Leute mit Informationen, die beim Bodyprinting anfallen, erpreßt werden können? Wissen Sie nicht mehr, was mit Menschen passierte, die im Frühstadium der Aids-Epidemie HIV-positiv waren? Sie wurden meistens behandelt wie Aussätzige. Anfangs hatten sie keinen Schutz.«
»Das kommt nicht mehr vor, und Sie wissen es.«
»Ach ja? Weiß ich das wirklich? Wissen Sie es? Ich glaube, Sie räumen den Mächtigen vielleicht mehr Kredit ein, als sie verdienen. Es gibt da draußen ein paar wirklich schlaue Leute, die intelligent genug sind, im Leben vieler anderer Menschen herumzustochern. Warten Sie nur - es wird nicht mehr lange dauern, bis jemand herausfindet, wie man feststellen kann, wer kompatible Organe für Transplantationen besitzt. All diese Informationen sind bei einem Bodyprinting verfügbar. Denken Sie nur daran, wieviel Geld damit zu verdienen wäre, einen >Unfalltod< zu arrangieren, damit das Organ entnommen werden kann. Und es gibt Unmengen verzweifelter Leute, die jede Summe zahlen würden, um weiterzuleben.«
»Wir sind nur noch fünf oder zehn Jahre davon entfernt, Organe zur Transplantation züchten zu können«, sagte Bruce. »Danach wird das keine Rolle mehr spielen.«
»Aber sehen Sie denn nicht, daß es jetzt eine Rolle spielt und weiter eine spielen wird, bis es soweit ist? Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten, daß Menschen dadurch zu Schaden kommen. Jetzt wird mein eigener Bodyprint zu Millionen anderen in diesen Computer gefüttert. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals wieder sicher fühlen werde.« Sie kreuzte die Arme vor der Brust. »Sie hätten sehr viel mehr über das nachdenken sollen, was Sie taten, bevor Sie es taten.«
Ihre Bemerkung traf ihn, und abwehrend erwiderte er: »Wir haben viel nachgedacht. Wir haben an alles Gute gedacht, das damit erreicht werden könnte. Und wer hat Sie so plötzlich zum Wächter über die Moral der Welt bestellt? Es gibt eine Menge Leute - und einige davon können über diese Sache ein solides, informiertes Urteil abgeben -, die denken, daß Bodyprinting die beste Erfindung seit dem Mikroskop ist. Als wir mitten in der Entwicklung steckten, wußten wir alle, daß wir an einer Technologie arbeiteten, die MRIs und CAT-Scans ersetzen würde. Es war ein sehr aufregender Gedanke, daß wir vielleicht den ganzen Körper würden sehen können, voll, dreidimensional. Wir waren wie ein Haufen Jugendlicher mit einem neuen
Spielzeug. Keiner dachte an das Orwellsche Potential. Das war damals nicht unser Job; dafür hatten wir die Politiker. Wir haben einfach gute wissenschaftliche Arbeit geleistet, um die Zukunft der Medizin für jedermann auf der Welt zu verbessern. Keiner von uns ist jemals auf die Idee gekommen, daß das manchen Leuten heimtückisch vorkommen könnte.«
»Nun, Sie hätten aber daran denken sollen! Sie hätten an die Zukunft denken sollen ...«
Er unterbrach sie. »Mein Gott, Janie, wie sind Sie so hart geworden? Ich kann nicht glauben, wie zynisch Sie geworden sind.« Er streckte die Hand durch die Gitterstäbe, als könne er sie berühren. »Versuchen Sie, es gelassen zu betrachten. Es ist nicht so finster, wie Sie anscheinend denken. Ich weiß, Sie sind verletzt, aber es würde Ihnen vielleicht guttun, es etwas leichter zu nehmen. Bei Ihnen hört es sich an, als stände die Apokalypse vor der Tür.«
Sie senkte den Kopf. »So fühlt es sich meistens auch an.«
»Dann tut es mir doppelt leid, daß Sie das durchmachen mußten. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, damit Sie anders empfinden. Aber das kann ich nicht.«
Sie blickte wieder zu ihm auf. »Ich weiß, ich weiß.« Sie fing wieder an, auf und ab zu gehen, bewegte sich in der kleinen Zelle wie eine eingesperrte Tigerin, hin und her; sie haßte die Begrenzung durch die Wände und Gitter. »Mir kommt das alles so bedrückend vor. Meine Zukunft scheint trüb, und all diese Veränderungen lassen sie noch trüber aussehen .«
»Dann denken Sie über folgendes nach«, sagte er, »wenn Sie etwas haben wollen, das hoffen läßt.« Seine Stimme klang jetzt erregt. »Erinnern Sie sich, daß ich ein Projekt erwähnt habe, mit dem Ted und ich anfangen wollten, das, was aufgeschoben worden ist?«
Sie nickte.
»Nun, es basiert direkt auf Informationen, die aus dem Bodyprinting entwickelt wurden. Ich arbeitete an einer Methode, anhand des neuralen Prints eines Individuums künstliche neurologische Impulse maßzuschneidern. Dann können Menschen mit neurologischen Schäden schließlich elektrische Implantate bekommen, die ihre Nerven auf eine spezifische Art so stimulieren, daß sie sich normal bewegen können. So eine Art Schrittmacher, aber für spezifische Nerven. Sie brauchen dann nicht mehr auf Fötaltransplantate zu warten.« Sein Ärger wich allmählich seiner Erregung, und er unterstrich seine Worte mit energischen Handbewegungen. »Wir werden dazu in der Lage sein, weil das Printing uns gestattet, das Nervensys- tem auszusondern, so daß die Impulse zeitlich und in der Stärke präzise angepaßt werden können. Im Augenblick kann ich am Computer Gesichtsbewegungen simulieren. Ich habe ein Bakterium, das auf der Grundlage seines Printings einen dreidimensionalen Jig tanzen kann .«
»O mein Gott, Bruce, ich hätte nie gedacht ...«
»Ich auch nicht, bevor wir die Printdaten aus mehreren Jahren auswerten konnten. Da ist mir eines Tages die Idee gekommen. Ich dachte, wie wär’s, wenn wir diese Information nutzen könnten, um so präzise Impulse auszusenden, daß wir eine Art elektronischer Choreographie machen könnten? Wir könnten Leute für spezifische Bewegungen programmieren, so daß sie bestimmte notwendige Aufgaben erfüllen könnten. All das kann mit einem winzigen Chip kontrolliert werden, der in der Nähe der Verletzungsstelle implantiert wird, eine Art Kommandozentrum, die mit dem Rückenmark verbunden ist.«
Seine Augen wurden groß, und Janie konnte seine wachsende Begeisterung sehen. »Es wird bald so sein«, sagte er, »daß Leute, die sich wegen neurologischer Schäden nicht rühren können, sich wieder ohne Hilfe bewegen können, nur mit ihrem eigenen Körper! Stellen Sie sich das bloß vor! Stellen Sie sich vor, wie froh jemand ist, wenn er aus dem Rollstuhl aufstehen und zum ersten Mal wieder gehen kann. Denken Sie daran, wie aufregend es für jemanden sein wird, der wie ein Baby gefüttert werden mußte, wieder Gabel und Löffel zu benutzen. Ich würde für den Rest meines Lebens dafür arbeiten, das möglich zu machen.«
Sie hörte die Leidenschaft in seiner Stimme und verstand seine glühende Überzeugung, daß das, was er tat, absolut richtig war. »Ich glaube, ich bin vielleicht eifersüchtig«, sagte sie. »Wenn Sie so über das sprechen, was Sie machen, hört es sich nach einer wunderbaren Arbeit an. Ich bin nicht sicher, wie ich meine Arbeit finden werde, das heißt, wenn ich jemals die Zulassung bekomme, sie zu tun.«
»Das werden Sie«, sagte er, »da bin ich sicher. Dieses ganze Durcheinander ist nur eine Verzögerung. Und jetzt, da Sie geprintet sind, ist der Druck weg. Sie brauchen keinen Abreisetermin einzuhalten. Sie können sich Zeit lassen.«
»Aber Caroline nicht«, sagte sie. »Und ich bin nicht sicher, daß es für mich mit dem Printing erledigt ist. Mein Visum ist zeitlich begrenzt. Und mein Doktorvater in Massachusetts wartet bloß darauf, mich fertigzumachen, wenn ich nach Hause komme. Er wollte nicht mal, daß ich dieses Projekt überhaupt anfange. Er sagte, es wäre zu kompliziert, im Ausland zu graben. Ich dachte, es würde für mich eine nette Abwechslung sein. Eine Ab- wechslung war es ja, aber ob sie nett war, weiß ich nicht so recht.«
»Das tut mir leid für Sie«, sagte Bruce leise, »aber für mich war es wirklich nett, Sie wiederzutreffen.« Er lächelte erwartungsvoll.
Janie zwang sich, die letzten Reste von Wut über das, was im Laufe des letzten Tages passiert war, beiseite zu schieben. »Für mich war es auch schön. Ich bin froh, daß wir Zeit hatten, miteinander zu reden.«
Und als endlich der Wachmann wiederkam, einen ganzen Tag später, kannten sie einander sehr viel besser, als sie sich jemals hätten träumen lassen.
Der rostige Einkaufswagen holperte über die Londoner Straßen und ratterte laut auf dem Kopfsteinpflaster, aber die zerlumpte Frau, die ihn lenkte, schob ihn für den größten Teil des Tages weiter und murmelte dabei glücklich vor sich hin.
Trotz der holperigen Fahrt wachte Caroline nicht auf; sie schwebte dicht unter der Oberfläche des Bewußtseins, das von einem Traum überlagert wurde. Manchmal war er so schön, daß sie sich in ihrem Delirium wünschte, er sei Realität, dann wieder war er so gewaltsam und quälend, daß ihr schlafendes Bewußtsein sie zu wecken versuchte, aber ohne Erfolg.
Niemand beachtete sie oder versuchte sie aufzuhalten; sie waren nur zwei von vielen tausend zerlumpten, verlorenen »Marginalen«, die außerhalb der Norm der Londoner Gesellschaft lebten. Niemand nannte sie mehr »Penner« oder »Obdachlose«, doch trotz ihres neuen Namens waren sie noch immer diejenigen, die nirgends in der starren Sozialstruktur Englands nach den Ausbrüchen einen Platz finden konnten.
Die Frau, die jetzt den Einkaufswagen schob, hatte sich daran gewöhnt, von den sogenannten »normalen« Leuten gemieden zu werden; sie führte dieses Leben, weil es ihr besser gefiel als die anstrengende Alternative. Sie brauchte niemandem außerhalb ihrer zahlreichen Familie aus anderen Marginalen Rechenschaft abzulegen. Es gab in ganz London mehrere »Familien«, beinahe Clans, von denen einige unter Brücken oder in leerstehenden Gebäuden lebten; ihre eigene hatte sich in einem bewaldeten Gebiet am Rand eine Feldes südlich der Themse angesiedelt.
»Ruhe in Frieden«, murmelte sie vor sich hin, als sie an die frühere Besitzerin des Grundstück dachte, neben dem sie lebte, eine alte Frau, die kürzlich gestorben war und einen verschrobenen Sohn hinterlassen hatte, der selbst schon ein alter Mann war, als seine Mutter starb. Sie nahm eine Hand vom Griff des Einkaufswagens und bekreu- zigte sich; dann flüsterte sie ein kurzes Gebet für die arme, verwirrte Seele und fügte am Ende einen Segenswunsch für ihren Fahrgast an.
In der Ferne erklang eine Sirene; sie hielt den Wagen an, weil er so laut quietschte. Sie sah sich nach einem Versteck um und erblickte eine Gasse zwischen zwei hohen Gebäuden. Sie beschleunigte ihre Schritte und eilte darauf zu.
Sie schob den Einkaufskarren zwischen die Häuser und stellte sich davor; ihre füllige Gestalt verdeckte ihn. Nervös sah sie zu, wie der Wagen der Biocops auf dem Weg zu irgendeiner virulenten Krise an ihr vorbeiraste. Als sie sicher war, daß er weg war und keine Gefahr mehr bestand, entdeckt zu werden, trat sie wieder ans Tageslicht und zog den Karren hinter sich her.
Und so kam es, daß die Frau mit dem Einkaufswagen und ihrer bewußtlosen rothaarigen Fracht ganz unbemerkt durch London zog, sich nach einem vorherbestimmten Plan durch Straßen und Gassen bewegte. Hin und wieder hielt sie inne, nur kurz, denn sie wußte, daß Eile not tat. Manchmal schoben andere Marginale den schweren Wagen, und sie ging nebenher; während dieser Pausen kramte sie in ihrer zerknitterten braunen Tasche herum und fand einen verschrumpelten Apfel oder einen trockenen Brotkanten oder eine andere Beute aus einem Haushaltsmülleimer. Der eine oder andere der begleitenden Marginalen, stets auf Carolines sich verschlechternden Zustand achtend, versuchte, ihr kleine Schlucke Wasser einzuflößen, eine schwierige und gefährliche Aufgabe. Niemand, der sie beobachtete, wäre auf den Gedanken gekommen, daß diese abgerissenen Gestalten ihrem bewußtlosen Schützling so zärtliche Fürsorge erweisen konnten, doch sie hatten vor langer Zeit gelobt, das zu tun, dankbar für die Pflege, die sie selbst im Haushalt derjenigen empfangen hatten, der sie diesen Eid geschworen hatten.
Die Frau, die jetzt den Einkaufskarren schob, hatte in der Nacht, in der Janie und Caroline das teuflische Artefakt aus Stoff ausgruben, zugesehen, hatte keinen Meter von den ängstlichen Frauen entfernt im Schatten gestanden, als sie sich im Gebüsch versteckten, um nicht von dem alten Mann entdeckt zu werden; die Frau hatte um die schwerwiegenden Folgen dieser Störung des Bodens gewußt. Sie wußte, daß Sarin jetzt mehr denn je ihre Hilfe brauchen würde. Es war an der Zeit, die karmische Freundlichkeit seiner Mutter zu vergelten, und obwohl sie wußte, daß der Preis vielleicht hoch sein würde, war die Frau bereit, ihn zu bezahlen.
Der Biocop benutzte seine Magnetkarte, um Janies Zellentür zu öffnen. »Alles in Ordnung, Miss Merman, wir haben Ihre Resultate. Würden Sie mir bitte folgen?«
Bevor Bruce »Miss Merman?« sagen konnte, warf Janie ihm einen warnenden Blick zu; er begriff sofort. Nach eineinhalb Tagen ununterbrochener Kommunikation konnten sie fast die Gedanken des anderen lesen. Es gelang ihm, das Lachen zu unterdrücken, das er am liebsten ausgestoßen hätte, und den Mund zu halten.
Doch der Biocop hatte noch mehr zu sagen. »Ich weiß nicht, was das Gesetz in Ihrem Land vorschreibt, Miss, aber hier müssen wir Ihnen die Ergebnisse Ihres Printings zeigen und dafür sorgen, daß alle Fragen, die Sie vielleicht haben, sofort von einem Berater beantwortet werden.«
Während er sie hinausführte, sagte sie in etwas zu hochfahrendem Ton: »Wir lassen unseren Staatsbürgern die Wahl. Bei uns gibt es diese Vorschriften noch nicht.«
Er warf ihr einen herablassenden Blick zu und sagte: »Natürlich. In Ihrem Land hat es immer zuwenig Vorschriften gegeben, zumindest, seit unser Land es in die Freiheit entließ. Das war eine bedauerliche Fehlentscheidung von König George.« Er lächelte, als er eine Metalltür öffnete und ihr bedeutete einzutreten.
Makellos höflich, dachte sie bei sich. Sie haben offenbar entschieden, daß ich keine Bedrohung bin. Bloß ein einziger Wächter, und dann auch noch so ein Clown. Er sieht mich kaum an. Dann sah sie die Chemiepistole an seinem Gürtel und verstand, warum sie nur einen Begleiter brauchte. Mit dieser Waffe war er durchaus in der Lage, sie ohne Hilfe unter Kontrolle zu halten.
Das kleine Zimmer, das sie betraten, war offensichtlich früher einmal ein Büro der Spielzeugfirma gewesen, die vor den Ausbrüchen in diesem Gebäude residiert hatte. Es gab einen Schreibtisch mit einem Stuhl und davor einen zweiten Stuhl; auf dem Schreibtisch stand eine Computerkonsole. Der Biocop führte sie zu dem entfernteren Stuhl, und als sie saß, nahm er an dem Schreibtisch Platz. Janie sah zwei Projektionsapparate, einen an der Decke, einen auf dem Fußboden. Der Mann bediente einen Schalter, und es wurde ziemlich dunkel im Raum.
»Sind Sie soweit?« fragte er sie.
Bin ich bereit? fragte sie sich. Werde ich jemals bereit sein, all meine eigenen Mängel zu sehen? Schweigend saß sie einen Moment da und dachte über das nach, was sie gleich sehen würde. Sie hatte ihre Gesundheit immer als selbstverständlich betrachtet; sie war selten krank und noch niemals ernstlich verletzt gewesen. Während die Leute um sie herum wie die Fliegen starben, hatte sie es geschafft, die Ausbrüche zu überleben. Plötzlich war sie voller Angst. Was ist, wenn mein Glück mich verlassen hat? Was, wenn es irgendwelche Tumore gibt? Was, wenn es irgendeine genetische Zeitbombe gibt, die bald explodieren wird? Will ich das überhaupt wissen?
Doch trotz ihrer Angst und Unsicherheit gab es einen Teil von ihr, den, der die Medizin liebte, der alles wissen wollte. Das einzige, was ich wirklich nicht ändern kann, ist der Tag, der für meinen Tod vorgesehen ist, dachte sie bei sich, gegen fast alles andere kann man etwas tun. Sie wußte, daß selbst ein so raffiniertes Werkzeug wie ein Bodyprint nicht feststellen konnte, wie lange sie leben würde, also nahm sie ihren Mut zusammen und nickte bejahend.
»Bitte achten Sie auf den Bereich zwischen den beiden Projektoren«, sagte der Wachmann.
Vor ihren Augen nahm langsam ein holographisches Bild ihres eigenen Körpers Gestalt an. Plötzlich stand sie in all ihrer nicht mehr ganz jungen Nacktheit vor sich selbst. Das Bild zeigte deutlich ihre Spannung und die Grimasse, die sie in dem Augenblick gezogen hatte, in dem sie geprintet worden war. Als der Biocop die Bestürzung auf ihrem Gesicht bemerkte, sagte er: »Keine Sorge. Auf diese Dingern sieht nie jemand gut aus.«
»Manche Leute sehen überall gut aus«, erwiderte sie. »Ich gehöre zufällig nicht dazu. Aber das macht nichts. Was haben Sie gefunden?«
»Schauen wir mal ...« Er blätterte einige Seiten durch, sagte »normal, normal, normal«, hielt dann inne und drückte ein paar Knöpfe auf der Konsole, die er vor sich hatte. Alles bis auf Janies Blutkreislauf schmolz dahin, und sie sah nur noch eine Masse aus Venen, Arterien und Kapillaren, die ihre Körperform hatte. In einer Vene ihres rechten Unterschenkels leuchtete ein winziges Licht. »Da.« Der Mann zeigte darauf. »Sie haben das Potential für eine Krampfader.«
Erstaunt sah Janie zu, wie er auf mehrere geringfügige Lichtpunkte in ihrer Physis zeigte, kleine Anomalien, die wenig zu bedeuten hatten. Ein vorstehender mittlerer Zeh an einem Fuß, wo sie sich einmal gestoßen hatte; sie erinnerte sich an den pochenden Schmerz vor vielen Jahren. Ihr Blinddarm war noch vorhanden, verschwand aber unter dem Dickdarm.
»Hatten Sie je Verdauungsstörungen?« fragte der Wachmann.
»Oh, ja ...«, antwortete sie.
»Das ist vermutlich der Grund«, sagte er. Dann lächelte er und fügte hinzu: »Aber ich sage Ihnen nichts, was Sie nicht schon wüßten, oder?« Als er das Bild ihrer Fortpflanzungsorgane durchging, sagte er: »Sterilisiert, wie ich sehe ...« Dann hielt er bei der Seite inne.
Er betrachtete das Bild und schaute dann wieder auf die geschriebene Seite, die vor ihm lag. Er drehte an ein paar Knöpfen auf der Konsole, machte das Bild transparenter und griff nach einem Zeigestock.
»Aber hier ist etwas, das Sie nicht wissen . Ich weiß nicht, ob Sie es von da aus sehen können, aber gleich da«, er wies mit dem Zeigestock mitten durch das Bild auf die Abbildung einer bestimmten Stelle in ihrer linken Brust, »taucht etwas mikroskopisch Kleines auf. Könnte irgendeine sich entwickelnde Läsion sein. Oder, genauer, ein Tumor in Wartestellung. Sie sollten das so schnell wie möglich herausschneiden lassen.« Janie zuckte zusammen, als er den Zeigestock zurückzog, als ziehe er ihn tatsächlich aus ihrem Fleisch.
Sie betrachtete den kleinen Flecken in ihrer Brust und dachte, vor dem Bodyprinting wäre er erst entdeckt worden, wenn er groß genug war, auf einer Mammographie zu erscheinen. Hätte sie früher gelebt, vor den Fortschritten in der Behandlung von Brustkrebs, hätte diese kleine, unentdeckte Läsion vielleicht zu einem vorzeitigen und schmerzhaften Tod geführt. Sie dachte auch daran, daß nun, nachdem ihr Bild einmal im System war, jeder auf der Erde, der Zugang dazu hatte, wußte, daß sie irgendeine Art von Läsion der Brust hatte. Plötzlich fühlte sie sich sehr verwirrt, aber sie konnte nicht leugnen, daß sie dankbar war, so frühzeitig zu wissen, daß dieses Gift entfernt werden mußte. Schließlich kenne ich jede Menge Chirurgen ...
Der Biocop sah sie selbstzufrieden an, denn er wußte, er hatte das, was sie durchgemacht hatte, gerechtfertigt, indem er ihr den unmittelbaren Nutzen dieser Prozedur vorführte. »Noch irgendwelche Fragen?«
Sie war zu verwirrt, um sich eine sachdienliche Frage auszudenken, und zu realistisch, um einen Fluchtversuch in Erwägung zu ziehen; also folgte sie ihm einfach aus dem Zimmer und ging gehorsam zurück in ihre Zelle.
Die zerlumpte Frau war einfach zu müde, um den Karren an diesem Tag noch weiter zu schieben. Nachdem die Sonne untergegangen war, sah sie außerdem schlecht, und so beschloß sie, einen sicheren Platz zu suchen, wo sie sich ausruhen konnte. Ihre Gefährten hatten sie alle verlassen, um sich selbst zur Ruhe zu begeben. Sie wußte, daß sie sie am Morgen finden würden, aber sie brauchte jetzt Hilfe. Nicht weit vor ihr gab es eine Überführung, und darunter lebte ein seßhafter Clan; um diese Nachtzeit, dachte sie, würden alle ruhen und auf die Segnungen des Tageslichts warten. Aber sie hatte dort ein oder zwei Freunde, die vielleicht helfen würden.
Sie hielt den Karren an, beugte sich über das Geländer und rief leise ein Paßwort. Nach wenigen Augenblicken tauchten unter der Überführung heraus zwei schmutzige Männer auf und sie begrüßten sich leise. Sie bat um Hilfe; die Männer gewährten sie bereitwillig. Zusammen hoben die Marginalen Caroline sanft aus dem Wagen und trugen sie die Böschung hinunter. Unter der Brücke bereiteten andere Marginale einen Platz zum Schlafen für sie, indem sie verschiedene Decken und Kleidungsstücke stapelten, bis das entstandene Bett weich genug für eine Prinzessin gewesen wäre. Sanft legten sie Caroline darauf und deckten sie mit Zeitungen zu. Die alte Frau setzte sich neben sie und unterhielt sich leise mit den beiden Männern; ein kleines Feuer in einem Metalleimer warf einen unheimlichen Schein auf ihre wettergegerbten Gesichter. Endlich beugte sich die Frau über Caroline und lauschte ihrem Atem; dann legte sie ihre schmutzige Hand auf Carolines Stirn. Ihr Schützling war zwar schrecklich krank, wirkte aber einigermaßen stabil. Die Frau lehnte ihre braune, zerknitterte Tasche an einen Stapel Ziegelsteine, rollte sich darauf zusammen und schlief ein.
Wieder öffnete sich die Tür zum Haftraum und ein Biocop trat ein, diesmal allein und ohne sichtbare Waffe. Er sagte zu Bruce: »Wir haben die Materia- lien gefunden, die Sie gesucht haben. Sie sind überprüft worden, und Sie können Sie mitnehmen.« Er stieß die Tür zu Janies Zelle und dann die zu Bruces auf. »Ach, übrigens, Dr. Ransom, ich entschuldige mich vielmals, daß Sie all das mitmachen mußten. Ich hatte wirklich keine andere Wahl; die Vorschriften sind da sehr streng. Und vielleicht interessiert es Sie, daß es uns nicht gelungen ist, Dr. Cummings in London zu erreichen. Gut, daß Sie die nötigen Berechtigungspapiere hatten. Sonst würden Sie eine reizende Woche in Leeds verbringen.« Er lachte und sagte zu Janie: »Miss Merman, ich hoffe, Sie besuchen Leeds wieder einmal. Ich bin sicher, Ihre nächste Reise wird angenehmer.«
Verdammt unwahrscheinlich, dachte sie im stillen, aber sie lächelte ihn zuckersüß an und sagte: »Danke. Es war großartig. Und überaus lehrreich. Aber ich denke, ich verzichte auf weitere Besuche.«
»Wie Sie wünschen«, sagte der Wachmann und winkte ihnen, ihm zu folgen. Er führte sie in den Hauptempfangsraum, wo die fehlenden Röhren ordentlich gestapelt waren, jede in eine gelbe Schutzfolie gehüllt und mit rotem Klebeband versiegelt. Bruce und Janie teilten sich die schwere Last, und während sie zur Tür gingen, legte einer der Biocops eine weitere gelbe Plastiktüte auf Bruces Stapel.
»Ihre Uhr und andere persönliche Gegenstände«, sagte er.
Sie waren überrascht zu sehen, daß es draußen völlig dunkel war; da es im Gebäude keine Fenster gab, hatten sie jedes Zeitgefühl verloren. Doch die kühle Nachtluft war belebend, die Freiheit berauschend, und für ein paar Augenblicke fühlten sich beide erfrischt und voller Energie. Nachdem er die Röhren im Kofferraum des Wagens verstaut hatte, nahm Bruce seine Uhr aus der Tüte. »Herrje, es ist fast Mitternacht!« sagte er.
»Verdammt!« sagte Janie. »Ich wollte Caroline anrufen! Vermutlich schläft sie schon.«
Bruce gab ihr sein Telefon, das er in seiner Tasche im Wagen gelassen hatte. Sie wählte Carolines Londoner Nummer und legte sich eine Entschuldigung dafür zurecht, daß sie sie weckte.
»Vermutlich fragt sie sich, was zum Teufel aus uns geworden ist«, spekulierte Janie, während das Telefon läutete. Doch es meldete sich nur der Anrufbeantworter des Hotels, und Janie sagte ziemlich irritiert: »Wo kann sie um diese Zeit sein?« Sie sah Bruce an, während sie der Ansage lauschte, und sagte dann: »Ich wette, sie hat ihr Telefon ausgehängt.«
»Das hört sich eher nach Ted an«, sagte er und dachte an die Schwierigkeiten, die sie hatten, weil Ted seinen Piepser nicht benutzt hatte. »Ich habe eine Idee!« sagte er. »Vielleicht sind sie zusammen!«
»Kein sehr netter Gedanke«, meinte Janie. »Nach dem wenigen, was ich über Ted weiß, sind sie eher wie Wasser und Feuer.«
Sobald sie sich im Wagen niedergelassen, ihre Sachen verstaut und die Straßenkarten bereitgelegt hatten, wich die Euphorie, endlich frei zu sein, Müdigkeit und Verwirrung. Bruce streckte lustlos die Hand aus und drückte den Zündungscode des Wagens. Als der Motor zum Leben erwachte, sah er Janie an und sagte: »Meinen Sie, daß wir versuchen sollten, heute nacht noch nach London zurückzufahren?«
»Ich finde, wir sollten sofort machen, daß wir so weit von Leeds wegkommen wie nur möglich. Es gefällt mir hier nicht sonderlich.«
Sie fuhren los, und Janie beobachtete durch das Rückfenster, wie die Entfernung zwischen ihnen und dem Depot wuchs; sie winkte und sagte: »Leb wohl, Ethel ...«
Nicht weit hinter Leeds begann es zu regnen, ein milder, sanfter Regen, stetig und beruhigend. Janie schloß die Augen, lehnte das Gesicht an das kühle, feuchte Glas des Wagenfensters und nickte immer wieder ein. Bruce beugte sich vor und schaltete die Scheibenwischer ein; es dauerte nicht lange, bis deren rhythmisches Brummen eine unerwünscht einschläfernde Wirkung auf ihn hatte. Sein Kopf sank immer wieder nach unten, während er über das Steuerrad hinweg auf die dunkle, nasse Straße vor ihnen schaute, und für ein paar Sekunden schloß er die Augen. Er riß sich gerade noch rechtzeitig zusammen, um einem Schildermast auszuweichen, und steuerte den Wagen auf die Fahrspur zurück. Er wußte, er konnte nicht mehr gut genug fahren, um sie sicher nach London zurückzubringen, und so nahm er die nächstbeste Ausfahrt und suchte das nächstgelegene Hotel.
Als der Wagen in der Kieseinfahrt des alten, steinernen Gasthofs anhielt, wachte Janie auf dem Beifahrersitz auf. »Wo sind wir?« fragte sie verschlafen.
»Vor einem Gasthof«, sagte Bruce. »Ich schlafe am Steuer ein.« Er schaltete alle Systems des Wagens ab und zog die Verschlußkarte heraus. »Bleiben Sie ruhig hier, ich gehe und frage nach, ob sie Zimmer frei haben.«
»Okay«, sagte Janie. Doch als er aussteigen wollte, legte sie eine Hand auf seinen Arm. »Warten Sie«, sagte sie. »Warten Sie eine Minute.«
Er drehte sich um und sah sie an. »Was ist?«
Sie schaute in seine Augen, suchte nach der Antwort auf eine Frage, die sie noch gar nicht gestellt hatte. Er sah schrecklich müde und abgespannt aus. Sie zögerte, fragte sich, ob dies der richtige Moment sei.
Tu es, Janie, sagte sie zu sich selbst. Es ist zu lange her, und du bekommst vielleicht keine zweite Chance mehr.
Sie drückte sanft seinen Arm. »Warum nehmen Sie nicht nur ein Zimmer«, sagte sie und fügte dann rasch hinzu: »Ich meine, vielleicht ist das etwas, worüber Sie nachdenken möchten . Ich weiß nicht, ob es das ist .«
Er lachte leise und lächelte sie liebevoll an. »Im Augenblick ist es so ungefähr das einzige, worüber ich nachdenke.«
Erleichtert sagte Janie: »Vermutlich mag ich im Augenblick einfach nicht allein sein.«
Er legte seine Hand auf ihre, beugte sich vor und küßte sie sanft auf die Stirn. »Sie sind nicht allein«, sagte er.
In enger Umarmung standen sie unter der Dusche und ließen sich vom heißen Wasser die unangenehmen Folgeerscheinungen der Gefangenschaft von den müden Körpern spülen. Sie küßten sich lange und intensiv und klammerten sich fest aneinander, verschmolzen miteinander in einem fast verzweifelten Paarungsakt. Als sie aus der Dusche traten, sauber und erfrischt, und in das gemütliche Zimmer des freundlichen alten Gasthofs kamen, trockneten sie sich mit weichen Handtüchern gegenseitig ab und umarmten sich erneut. Zusammen schlugen sie den Quilt zurück; die Laken darunter waren aus kühler weißer Baumwolle, und das Bett sah wunderbar einladend aus. Janie ließ ihren frisch geduschten Körper zwischen die Laken gleiten und zog sich den Quilt bis zum Hals. Während beruhigende Wärme sich in ihrem schmerzenden, erschöpften Körper ausbreitete, sah sie zu, wie Bruce in seiner Reisetasche nach dem Wecker suchte.
Sie haßte den Gedanken, daß er in ein paar Stunden läuten und sie aus der ruhigen Vollkommenheit reißen würde, die sie gefunden hatten, zurück in die Ungewißheit und Frustration der wirklichen Welt, heraus aus dem Komfort der Intimität in die schrille Realität von Terminkalendern und Anforderungen und Einschränkungen. Es ist immer eine Frage der Zeit, dachte sie; es scheint nie genug davon zu geben, um zu tun, was getan werden muß. Seine schlanke Silhouette bewegte sich vor dem mondhellen Fenster, und sie dachte: Die Zeit ist sehr freundlich mit ihm umgegangen; er ist immer noch ein toller Mann. Sie fragte sich kurz, was er über sie sagen würde, und schob diese Unsicherheit dann von sich, hoffentlich für immer. Es spielte keine Rolle. Er hatte durch die Art, wie er sie berührte, schon vieles gesagt.
Er kletterte neben ihr ins Bett, und sie spürte, wie er sie umschlang. Sie veränderten ihre Lage im Bett, bis ihre Körper so eng wie möglich aneinandergeschmiegt waren, und ruhten dann in der neuen, fremden Geborgenheit. »Das ist das erste Mal seit sehr langer Zeit, daß ich mit jemandem ein Bett teile«, flüsterte Janie. »Es fühlt sich nicht so beengt an, wie ich gedacht hatte.«
Er küßte sie leicht. »Es fühlt sich genau richtig an.« Und obwohl sie beide unglaublich müde waren, lagen sie einander bald wieder in den Armen und vertrieben mit zärtlichen Bewegungen alle Distanz, die noch zwischen ihnen bestehen mochte. Als über den üppig grünen Hügeln die Sonne aufging, schliefen sie eng aneinandergekuschelt, und bis der Wecker klingelte war in diesem winzigen Teil der Welt alles heil.
Janie lauschte dem Freizeichen am anderen Ende der Leitung und merkte, wie ihre Geduld mit jedem Ton geringer wurde. »Sie meldet sich immer noch nicht«, sagte sie zu Bruce, der sich im Badezimmer die Zähne putzte. »Dabei ist später Vormittag! Ich kann mir nicht vorstellen, wo sie sein könnte.«
»Wahrscheinlich sieht sie sich bloß London an«, sagte er, »oder vielleicht hat sie auch Glück gehabt. Du bist nicht die einzige, der das passieren kann, weißt du?«
Sie zog die Augenbrauen hoch und grinste. »Habe ich Glück gehabt, oder du?«
Bruce legte seine Zahnbürste weg und kam durch das Zimmer. Er nahm ihr den Hörer aus der
Hand, legte ihn auf die Gabel, schloß Janie in die Arme und küßte sie wild.
»Wir passen toll zusammen. Wir hätten das schon vor zwanzig Jahren machen sollen.«
Sie erwiderte seine Küsse ebenso leidenschaftlich, und bald waren ihre Hände überall und suchten nach Lustpunkten. Sie atmete tief, der Duft seiner Haut füllte ihre Lungen, sein Geruch, die einzigartige Essenz von Bruce. Oh, Gott, laß zu, daß ich mich darin verliere, nur für einen Tag oder auch nur für eine Stunde ... laß all das andere einfach verschwinden ...
Doch das unwillkommene Bild von Röhren voller Erde tanzte durch ihr Bewußtsein, alle vierundfünfzig in einer ordentlichen Reihe, gefolgt von Listen und Briefen und Computerdateien; die Ablenkung war zu stark, und ihr Forschungsdrang setzte wieder ein. Langsam entzog sie sich Bruce, einen traurigen Ausdruck im Gesicht, und sagte: »Ich würde es ja schrecklich gern jetzt tun, aber wir sollten wirklich zurückfahren.«
Er lächelte, grinste ein wenig über das, was hätte passieren können, und nickte dann zustimmend. »Ich weiß. Du hast recht. Aber die Idee war gut, nicht?«
»Wirklich gut«, sagte sie. Und dann kam ihr ein anderer, unangenehmer, übermächtiger Gedanke in den Sinn und verlangte ihre Aufmerksamkeit. Was wirst du finden, wenn du zurückkommst? fragte er.
Der warme Glanz der vergangenen Nacht wich langsam dem Druck ihres jetzt noch engeren Zeitplans. »Ich hoffe bloß, daß Caroline nicht irgendwo draußen ist und weitere Bodenproben nimmt«, sagte sie zu Bruce, während sie ihre Reisetaschen nahmen. »Wir haben schon genug Schwierigkeiten mit denen, die wir haben.«