15

 

Sie ritten über die unebene, staubige Straße von Windsor zu dem Gut, auf dem Adele als Kind mit ihren Eltern gelebt hatte, bevor sie nach Windsor geschickt wurde, um Prinzessin Isabella zu dienen.

»Ich habe diesen Weg so oft zurückgelegt, daß ich jeden Baum und jeden Stein kenne«, sagte sie. »Ich glaube, ich würde ihn mit geschlossenen Augen finden, wenn das Pferd gehorsam wäre.«

»Und - ist dieses Pferd gehorsam?«

»Es ist ein sehr gutmütiges Tier. Seht selbst«, sagte sie.

Da sie den Weg so gut kannte, war er auf dem engen Pfad hinter ihr geritten. Jetzt schloß er zu ihr auf und sah, daß die Kleine Kate an Adeles Busen eingeschlafen war. Ich wünschte, ich wäre an ihrer Stelle, dachte er ein wenig neidisch.

»Sir John hat ein gutes Pferd gewählt«, sagte er.

»Ja, allerdings«, sagte Adele. »Es ist so sanft, daß ich selbst einschlafen könnte.«

Die Wälder waren kühl und erstaunlich ruhig; nur ihre Worte und der Hufschlag der Pferde durchbrachen die Stille. Als über ihnen ein Falke schrie, war es wie eine Störung ihrer Intimität.

Die Luft, die Alejandro atmete, war warm und süß, und obwohl er wußte, daß die Reise, die er antrat, unmöglich ein gutes Ende nehmen konnte, hatte er ein Gefühl von Frieden. »Es ist schwer zu glauben, daß es in einer Welt wie dieser solchen Aufruhr gibt.«

Adele seufzte tief, und dabei hob und senkte sich ihre Brust.

Kate rührte sich im Schlaf, und Adele umfaßte sie fester. »Mich erwartet zweifellos noch mehr Aufruhr.«

»Wieso?« fragte Alejandro.

»Seit dem Tod meiner Mutter bin ich die alleinige Besitzerin der Ländereien und Güter meines Vaters«, erklärte sie. »Und die sind nicht unbeträchtlich.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Alejandro. »Was ist daran schwierig, wenn man solches Glück hat?«

»Wie mein Vater mir gern sagte, kommt Glück nicht von allein. Um Wohlstand zu schaffen, muß man arbeiten. Er war ein kluger und sorgfältiger Verwalter seiner Ländereien, und da er keinen Sohn hatte, gab er seine Weisheit an seine Tochter weiter. Jetzt, da ich Besitzerin dieser Güter bin, muß ich dafür sorgen, daß meine Pächter und Verwalter sich angemessen darum kümmern. Und sie selbst müssen dabei auch gedeihen. Mein Vater hat immer gesagt, daß man die Loyalität seiner Pächter am besten dadurch gewinnt, daß man sie fair behandelt. Er war seinen Leuten ein guter Herr.«

»Wie Ihr ihnen eine gute Herrin seid?«

»Ich versuche es«, sagte sie. »Ich habe das Glück, einen ausgezeichneten Verwalter zu haben, der vor mir meinem Vater gedient hat ... Natürlich gibt es trotzdem viele Dinge, die meiner Aufmerksamkeit bedürfen, wenn wir dort ankommen. Seit meinem letzten Besuch ist fast ein Jahr vergangen; damals starb meine Mutter und wurde in der Grabkapelle zur Ruhe gebettet, Gott sei ihrer Seele gnädig. Ich habe damals einiges von ihrem Besitz nach Windsor mitgenommen, darunter auch den Rubin, den Ihr so zu bewundern scheint.«

»Das habt Ihr bemerkt?«

»Ich beobachte Eure Augen; es ist mir wichtig, wohin sie sich wenden.«

»Dann müßtet Ihr eine glückliche Frau sein, denn sie richten sich nur auf Euch.«

»In dem Maße, in dem man in einer Welt wie dieser glücklich sein kann, bin ich es.«

»Ich auch«, sagte Alejandro.

Sie ritten schweigend dahin, jeder zufrieden, sich in Gesellschaft des anderen zu befinden, bis Adele auf einen Baum vor ihnen zeigte und sagte: »Nicht weit hinter diesem Baum geht rechts ein Weg ab. Jetzt sind wir bald da.«

Als sie in den Hof des Gutshauses ritten, kam eine fette Haushälterin heraus, um zu sehen, wer die Ankömmlinge waren. Als sie Adele erblickte, rief sie erfreut einen lauten Gruß. Adele winkte der Frau zu, und diese rannte zu einer nahen Glocke und lautete einige Male kräftig.

»Die anderen werden gleich kommen«, sagte sie. »Die Glocke wird sie herbeirufen.«

»Ich glaube, diese Glocke würde sogar den Teufel herbeirufen.« Alejandro sprang von seinem Pferd und nahm Adele Kate ab; als er sie aus dem Sattel hob, erwachte sie und schien für einen Augenblick nicht zu wissen, wo sie war. Er hielt die Kleine in den Armen und sprach beruhigend auf sie ein, bis sie ganz erwacht war und ihre Umgebung wahrnahm. Adele war inzwischen abgesessen und neben ihn getreten.

Die Haushälterin watschelte auf sie zu und gab gluckenhaft großmütterliche Freudentöne von sich. Bald erschien Adeles Verwalter aus einem der Nebengebäude und begrüßte sie ebenfalls. Der Hof hallte wider von Willkommensrufen, die sich bis ins Haus hinein fortsetzten.

Dann liefen alle geschäftig durcheinander, um die Gäste unterzubringen; Adele war eine beeindruckende Herrin, die die Dienerschaft mit fester, aber freundlicher Autorität anleitete. »Richtet mein eigenes Gemach her, und bringt die kleine Kate dort unter«, wies sie die Haushälterin an. »Ich werde die Zimmer meiner Mutter beziehen, und Dr. Hernandez bekommt die Gemächer des Hausherrn.«

»Wie Ihr wünscht, Mylady«, sagte die alte Haushälterin. »Wie gut es tut, in diesen Räumen wieder freundliche Stimmen zu hören.«

»Und mir tut es wohl, wieder die Laute des Heims meiner Kindheit zu hören«, sagte Adele. So leise, daß Kate sie nicht hören konnte, fügte sie hinzu: »Aber leider werden wir nur für eine kurze Zeit hiersein, denn wir bringen die kleine Kate an das Sterbebett ihrer Mutter, und danach müssen wir gleich nach Windsor zurück.«

Dann sagte sie mit lauterer Stimme: »Sorgt dafür, daß ein gutes Abendessen bereitsteht, und schickt nach allen meinen Pächtern - sie sollen heute abend an meiner Tafel essen.« Sie zwinkerte Kate zu und fuhr fort: »Sorgt auch für Süßigkeiten für das Kind, wenn welche zu finden sind, denn wenn wir den Staub der Reise abgeschüttelt und uns gewaschen haben, werden wir zweifellos alle sehr hungrig sein.« Die Haushälterin nickte und machte sich an die Arbeit.

Während Alejandro zusah, wie Adele sich um ihren Hausstand kümmerte, stellte er sich ein kleines, rothaariges Kind vor, nicht größer als Kate, das die kalten Mauern mit Lachen erfüllte; bei dieser köstlichen Vorstellung wurde ihm warm ums Herz. Er hatte nie viel über Adeles Stellung im Leben außerhalb ihres Dienstes bei Isabella nachgedacht, und sie hatte kaum darüber gesprochen. Dieses Gut war beinahe selbst ein Königreich! Es liegt auf der Hand, daß sie nicht zu heiraten braucht; solange ihr Besitz gut verwaltet wird, wird sie nie Not leiden, dachte er. Im gleichen Augenblick wurde ihm zu seiner Bestürzung klar, daß der König bei einer so attraktiven Mitgift vielleicht versucht war, sie einer günstigen Allianz wegen in eine Vernunftehe zu zwingen; Alejandro schauderte bei dem Gedanken, Adele könne die Gattin irgendeines Mannes werden, dem nichts daran lag, ihr Herz zu gewinnen, um so mehr aber an ihrem Reichtum.

Als sie die Abendmahlzeit beendet hatten, lobte Adele die Vielfalt und Qualität der Speisen, die die Haushälterin ihnen binnen so kurzer Zeit hatte auftischen können. »Ihr habt ein bemerkenswertes Mahl bereitet«, sagte sie, »sogar mit Honigkuchen für alle, wie ich gesehen habe. Ich glaube, wir werden alle viel zu süß werden.«

Die Haushälterin zwinkerte ihr zu und sagte: »Ach, Lady Adele, was die Alten unter uns betrifft, mögt Ihr recht haben, aber kann ein kleines Mädchen jemals zu süß sein?«

Adele sah Kate an, deren Mund und Hände mit Honig verschmiert waren. Dem Kind fielen vor Müdigkeit die Augen zu. »Das wohl nicht, aber ein kleines Mädchen kann zu müde sein«, sagte sie. »Vielleicht ist es Zeit, daß sie zu Bett geht.«

Das Kind protestierte nicht, als die Haushälterin es zu Adeles früherem Zimmer führte. Nachdem Kate fort war, wandte sich Adele an ihren Verwalter und bat um seinen Bericht.

»Wie Ihr am Inhalt der Speisekammer sehen konntet, Mylady, geht es uns noch gut. Wir haben noch Hilfe, um die Ernte einzubringen.«

»Ich schließe daraus, daß andere kein solches Glück haben.«

»Bei so vielen Toten haben viele andere Güter nicht genug Leute, um zu ernten«, sagte der Mann. »Wir haben vier Bauern verloren, aber ihre Felder waren nicht die besten, und die anderen haben sich mit der Feldarbeit abgewechselt, damit das Getreide nicht ins Kraut schießt. Gegen ein kleines Entgelt natürlich.«

»Natürlich«, sagte Adele. »Niemand soll unbezahlt auf meinen Gütern arbeiten. Und die Wolle? Wie geht es mit dem Scheren?«

»Auch da haben wir dieses Jahr Glück«, sagte der Verwalter. »Der Ertrag ist sehr hoch.«

»Und die Preise? Wie steht der Markt bei so vielen Toten?«

»Die Preise sind natürlich gefallen, aber zweifel- los werden sie wieder steigen, wenn die Lage sich beruhigt. Ich sehe keinen Grund, warum wir unsere Vorräte zu schnell verkaufen sollten; wir können sie ein Jahr aufheben oder sogar zwei, wenn nötig. Es gibt genügend andere Erträge, um all Eure Unkosten zu decken, und wir können es uns leisten, darauf zu warten, daß die Wollpreise wieder steigen.«

»Dann werden wir das tun«, sagte Adele. Sie sah sich unter den versammelten Pächtern ihrer verschiedenen Ländereien um; alle hatten den gleichen ängstlichen Gesichtsausdruck. »Nun, ich spüre, daß Ihr alle mir noch mehr sagen wollt. Bitte sprecht frei heraus.«

Mit großer Dringlichkeit beschrieben die Leute die tägliche Ungewißheit ihrer Existenz; alles, was ihnen vertraut gewesen war, hatte sich verändert oder würde sich bald verändern, und ihr Leben hatte nicht mehr die schlichte Sicherheit von früher. Man nannte Adele die Namen der Toten aus der Umgegend, und ihr kam es so vor, als habe die Seuche fast die Hälfte der Menschen, die sie kannte, dahingerafft.

»Alle sind schon abgestumpft von der Trauer um ihre Lieben«, sagte der Verwalter, »denn alle haben jemanden verloren, und der Tod hat angefangen, seine schockierende Macht zu verlieren. Wenn ein einzelner Mensch stirbt, wird das fast nicht mehr beachtet.«

Die traurigen Neuigkeiten bedrückten Adele sehr, und das sah man ihr an. Sie entließ alle bis auf den Verwalter und die Haushälterin, die sie beauftragte, alles für die Abreise am nächsten Morgen vorzubereiten. Dann fragte sie Alejandro, ob noch weitere Vorkehrungen nötig seien, was er verneinte, und entließ auch diese beiden, nachdem sie sich herzlich für ihre gute Arbeit bedankt hatte. Dann waren sie endlich allein.

Alejandro konnte förmlich spüren, wie das Blut durch seine Adern strömte; ihm gegenüber an diesem Tisch saß die erste Frau, der er wahre Zuneigung entgegengebracht hatte, und er wußte, mit der Zeit würde seine Liebe zu ihr zu etwas heranwachsen, das er nicht mehr beherrschen konnte. Hier gibt es keine Prinzessin, die Bedienung fordert, und keinen Diener, der seinem Prinzen für ein paar Münzen in einer Stoffbörse Geschichten erzählen könnte, dachte er mit pochendem Herzen. An diesem Ort ist Adele die Herrin ihres eigenen Schicksals und auch meines, Gott sei gelobt.

»Adele«, sagte er leise; er mußte den Klang ihres Namens hören. »Ich kann nicht sagen, wie mir im Augenblick ums Herz ist.«

»Alejandro ...«, hauchte sie. »Ihr braucht es nicht zu sagen. Es schwebt lautlos durch die Luft. Mein Herz ist von den gleichen namenlosen Gedanken erfüllt.«

Sie waren so ineinander vertieft, daß sie nicht merkten, wie die leichte abendliche Brise zu einem kalten Wind anwuchs, bis die Flamme einer nahen Fackel flackerte. Alejandro stand rasch auf und schloß die Läden gegen das Geräusch und die plötzliche Kälte. Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, an dem sie gesessen hatten, fand er Adele plötzlich nur noch eine Armeslänge von seinem Platz entfernt, obwohl er ihre Schritte hinter sich nicht gehört hatte. Sie bewegt sich wie eine Katze, genauso leicht und anmutig. Sie streckte den Arm aus und nahm seine Hand. Mit ihrem kleinen Finger malte sie Kreismuster in seine Handfläche, und so standen sie lange, ganz in die schlichte Freude dieser Berührung vertieft. Sie summte leise, schloß die Augen und wiegte sich zu ihrer eigenen Melodie, bis Alejandro endlich den Bann brach, indem er seine andere Hand hob und ihre Wange berührte.

»Adele«, sagte er, »ich fürchte, wenn wir dies tun, werde ich nach der heutigen Nacht nicht mehr fähig sein, all die einsamen Nächte zu ertragen; wenn wir wieder in Windsor sind, wird es nicht leicht sein, einen abgeschiedenen Ort zu finden.«

»Und ich fürchte, wenn wir es nicht tun, werde ich ewig meine eigene Dummheit bereuen, denn Gott allein weiß, ob wir jemals wieder eine Gelegenheit haben werden.«

Alejandro konnte das Ende seiner Furcht und den Beginn seiner Freude nicht unterscheiden, denn beide durchströmten ihn wie Ebbe und Flut und waren untrennbar vermischt. Der Kampf zwischen seinem Glauben und seiner Freiheit tobte mächtig in ihm; in einem Moment war er ein unabhängiger junger Mann in den Armen seiner Geliebten, im nächsten ein frommer Jude mit der Verpflichtung, ja, sogar dem Wunsch, an den Bräuchen seiner Familie und seiner Vorfahren festzuhalten. Und er konnte nicht vergessen, daß er ein Jude war, denn das Mal seines Glaubens war ihm grausam in die Brust gebrannt worden.

Es wird dunkel sein, versicherte er sich selbst, und sie wird es nicht sehen ... Ich werde ihre Hände so beschäftigt halten, daß sie es nicht fühlen kann ... Und was, wenn sie es doch tut? fragte er sich. Wird sie mich verraten?

Nein, das wird sie nicht, sagte er sich. Sie liebt mich; dessen bin ich sicher. Und sagt der Talmud nicht, daß jeder Mensch, wenn er seinem Schöpfer begegnet, über die Freuden seines Lebens Rechenschaft ablegen muß, die er nicht erfahren hat? Sein Gott verlangte, daß er sein Leben so freudvoll wie möglich lebte, und er hatte schmerzlich deutlich gemacht, daß das betreffende Leben ihm jederzeit genommen werden konnte.

»Gott allein weiß, ob wir lange genug leben werden, um diese Reue zu empfinden«, sagte er endlich. »Plötzlich habe ich die Bereitschaft verloren, es in Seine Hände zu legen.« Er nahm sie in die Arme und sagte: »Ich war noch nie mit einer Frau zusammen.«

»Und ich mit keinem Mann.«

»Dann werden wir voneinander lernen«, sagte er, zog sie an sich und küßte sie.

Es war nur eine Stunde zu reiten bis zu dem Ort, an dem Kates Mutter im Sterben lag, und als sie sich ihrem Bestimmungsort näherten, wurde Kate unruhig und weinerlich; Alejandro fragte sich, welche verstörenden Gedanken den Frieden des Kindes zerbrachen. Sie muß schreckliche Angst haben, dachte er, genau wie ich sie bei der Aussicht haben würde, meine Mutter sterben zu sehen.

Vielleicht, dachte er, fürchtet sie in Wirklichkeit, die Hoffnung zu verlieren, daß sie die Dame jemals gut genug kennenlernen wird, um sie »Mutter« zu nennen. Kate kannte die Frau kaum, die ihr mit Hilfe des Königs von England das Leben geschenkt hatte, und bald würde die Gelegenheit dazu für immer verloren sein. Das Kind verstand vielleicht gar nicht, was ihm solche Unruhe bereitete.

Aber ich verstehe deine Furcht, Kleine, dachte er, denn auch ich habe kein wirkliches Heim. Er wunderte sich, daß sie überhaupt den Kopf behielt;

sie konnte keine Freude an dieser Reise und dem unausweichlichen Elend an ihrem Ende haben.

Er allerdings würde diese Reise niemals vergessen, weil sie ihm unbeschreibliche Ekstase geschenkt hatte; alle Schmerzen der vergangenen Monate waren in einer süßen Nacht vergangen und durch Freude ersetzt worden, und trotz der chaotischen Welt um ihn herum war in seinem Herzen alles in Ordnung. Wieder und wieder tauschten Adele und er Blicke, erlebten noch einmal das tiefe Glück ihrer gegenseitigen Entdeckung; ihre Augen trafen sich, und ein Strom von Gefühlen, fast schmerzhaft intensiv, durchtoste ihn wie eine reißende, aber willkommene Flut.

Sie hatte seine Narbe nicht bemerkt. Und wenn sie nicht so jungfräulich gewesen wäre wie er selbst, hätte sie vielleicht erkannt, was ihn von einem Mann unterschied, der nicht ein Stück seines Fleisches Gott gegeben hatte, aber sie hatte nichts gesagt; alles, was sie geäußert hatte, waren Worte der Liebe und ekstatische Seufzer gewesen, Laute, die noch immer in seinen Ohren widerhallten.

Während sie jetzt dahinritten, sprach Adele fast förmlich mit ihm, da sie die neue Intimität zwischen ihr und Alejandro nicht verraten wollte, solange Kate sie zusammen sehen konnte.

»Wir haben unser Ziel erreicht, Monsieur«, sagte sie steif und nickte in Richtung eines bescheidenen, aber solide aussehenden Hauses unmittelbar vor der nächsten Wegkreuzung.

Alejandro saß ab und hob dann Kate von dem Pferd, auf dem sie gemeinsam mit Adele ritt. Er räusperte sich nervös und versuchte, Kate die Dinge, die er ihr sagen mußte, bevor sie hineinging, mit möglichst sanfter Stimme mitzuteilen.

»Ich weiß, die Nurse hat Euch gesagt, daß Eure Mutter schwer krank ist«, sagte er zu dem Kind. »Gott wird sie zu sich nehmen, und sie wird bei den Engeln leben.«

Kate kniff fest die Augen zu und kämpfte gegen ihre Tränen an; Alejandro suchte in seinen vielen Taschen, bis er ein kleines Tuch fand, und reichte es dem ängstlichen kleinen Mädchen, das tapfer um Fassung rang. Sie nahm sein freundliches Angebot mit schwachem, aber dankbarem Lächeln an und wischte sich die Augen.

»Kate«, sagte er, »Eure Mutter sieht vielleicht nicht mehr so aus wie bei Eurer letzten Begegnung. Die schreckliche Krankheit hat sicherlich ihre Schönheit angegriffen.«

Die Kleine nickte eifrig, um zu zeigen, daß sie verstanden hatte, aber ihre skeptischen Begleiter bezweifelten, daß sie von dem, was sie sehen würde, unberührt bleiben würde.

»Der König hat mir strengen Befehl gegeben, Euch mit all meinen medizinischen Kenntnissen vor Ansteckung zu bewahren, denn er empfindet noch immer große Zuneigung zu Eurer Mutter. Er selbst konnte uns nicht begleiten, aber er möchte, daß Ihr Gelegenheit habt, Eure Mutter noch einmal zu sehen.«

Die Kleine schniefte, hob dann langsam die Augen und sah Alejandro direkt an.

Alejandro lächelte. »Gutes, tapferes Kind! Ich habe einige Kräuter in einer Maske mitgebracht, und Ihr müßt mir versprechen, daß Ihr sie brav tragen werdet, wenn Ihr in diesem Haus seid, denn sonst lauft Ihr Gefahr, Euch ebenfalls anzustecken. Und noch etwas, Kate, so leid es mir tut: Ihr dürft Eure Mutter nicht umarmen, nicht einmal berühren, denn dabei könnte die Pest aus ihrem Körper direkt in Euren wandern. Der König würde sehr zornig werden, wenn Ihr mir in dieser Angelegenheit nicht gehorcht, und ich habe nicht den Wunsch, noch mehr von seiner Wut auf mich zu ziehen.«

Kate nickte wieder mit ergreifendem Ernst und wischte sich die Nase am Ärmel ab.

»Würde es Euch helfen, wenn ich Euch sage, daß ich Euren Kummer verstehe, meine kleine Freundin?« fragte der Arzt. »Ich wurde auf einer Reise nach Frankreich von meiner Mutter und meinem Vater getrennt, kurz bevor ich vom Leibarzt des Papstes zu diesem Dienst gepreßt wurde.«

Endlich sprach die Kleine und verriet dabei ein Temperament, das ihre Verwandtschaft mit Isabella erkennen ließ. »Aber Eure Eltern müssen alt gewesen sein! Meine Mutter ist jung und schön, und es ist nicht gerecht, daß sie sterben muß!« Sie schluchzte und stürzte sich in Alejandros Arme, und er tröstete sie, so gut er konnte.

Bevor sie an die massive Tür klopften, banden sich die drei Reisenden ihre Stoffmasken vor, die mit einer schützenden Mischung aus Alejandros restlichen getrockneten Kräutern und Blättern gefüllt waren. Als die Dienstmagd ihnen die Tür öffnete, wich sie abrupt zurück, da die drei Ankömmlinge mit ihren schnabelähnlichen Masken und den schwingengleichen Umhängen eine deutliche Ähnlichkeit mit riesigen Vögeln hatten. Die Dienerin hatte Angst vor einem Überfall und wußte, daß ein Haus, in dem nur Frauen wohnten, schlecht zu verteidigen war. Beinahe hätte sie die Tür wieder zugeschlagen.

»Wartet«, sagte Adele schnell. »Wir sind Abgesandte des Königs, und dies hier ist das Kind der Lady, nach dem sie verlangt hat. Gebe Gott, daß wir nicht zu spät gekommen sind.«

Mit einer dramatischen Geste hob die Dienstmagd die Hände, legte sie rasch zusammen und flüsterte: »Dank sei dir, gesegnete Jungfrau, daß das Kind heil hier angekommen ist, und Gott ver- fluche König Edward für seine Verantwortungslosigkeit!« Dann öffnete sie die Tür wieder und winkte sie eilig hinein. »Hier drinnen ist es schon kalt genug, und die Lady hat es in keinem Augenblick mehr warm! Kommt herein und macht die Tür zu, um kalten Zug und böse Dünste fernzuhalten! Schnell, ehe die schlechte Luft hereinkommt!«

Während sie ihnen die Umhänge abnahm, wurde die Dienerin ernst und sagte: »Es ist noch nicht zu spät, aber ich fürchte, sie wird nicht mehr lange leben. Sie hat nur wenig gesprochen, seit sie heute morgen erwacht ist, nur geächzt und gestöhnt und dergleichen; sie klagt über Kälte, also decke ich sie zu, aber gleich darauf wirft sie die Decken wieder ab. Sie murmelt vor sich hin wie eine Verrückte, und dann wieder hält sie den Mund fest geschlossen. Es kann nicht mehr lange dauern.«

Adele übersetzte Alejandro diese Mitteilung, denn sie wußte, daß er Schwierigkeiten hatte, das ziemlich gewöhnliche Englisch der Dienerin zu verstehen; dann sagte sie der Magd, der Herr sei Arzt und geschickt worden, um das junge Mädchen zu beschützen.

Die Magd warf ihm einen verächtlichen, mißbilligenden Blick zu, gefolgt von einigen unfreundlichen und zynischen Worten. »Seit die Lady krank wurde, hatten wir alle möglichen hochgelehrten Ärzte mit ihren Tränken und dergleichen hier, aber sie hätten samt und sonders nicht mal einen Pickel heilen können, bei meiner Seele! Die Hebamme ist die einzige, die der armen Frau Erleichterung gebracht hat. Besser als all die Ärzte, wenn Ihr mich fragt.«

Alejandro hörte aufmerksam zu, denn außer von dem aufgeblasenen de Chauliac hatte er nie über irgendwelche Erfolge in der Behandlung der schrecklichen Seuche gehört. Nach ein paar lebhaften Worten zu Adele wandte er sich an die Dienerin und fragte sie in schlechtem, aber verständlichem Englisch: »Wo ist die Hebamme, damit ich sie nach ihren Methoden fragen kann? Ich bin begierig, von jeder neuen Behandlungsmethode zu hören.«

Die Dienerin antwortete: »Sie wird morgen hier sein, wenn Ihr zurückkommen wollt. Aber sie ist seltsam, unsere Sarah; ich möchte wetten, daß es ihr nicht paßt, wenn Ihr ihr über die Schulter schaut.«

Alejandro hätte sie gern weiter befragt, aber Kate wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Sie zupfte Alejandro am Ärmel und bat durch die Maske, zu ihrer Mutter gebracht zu werden. Die Dienerin sagte: »Folgt mir, aber seid leise! Ich dulde nicht, daß Ihr sie aufregt.« Dann drehte sie sich um und ging durch einen dunklen Gang voraus.

Während sie sich durch den düsteren Korridor zum Schlafgemach tasteten, erklärte die Dienerin: »Wir halten die Fenster geschlossen und bedeckt, um die bösen Einflüsse auszusperren; meine Lady ist schon krank genug, ohne daß wir noch mehr von dieser Pestilenz einlassen.«

Sie war dabei so erfolgreich gewesen, daß es in dem Haus muffig und dumpf roch. Als sie sich dem Krankenzimmer näherten, traf der vertraute Geruch der Pest Alejandros Nase und erfüllte ihn mit Übelkeit; es war lange her, seit er zuletzt in enge Berührung mit der Krankheit gekommen war, und die Erinnerung an ihre schrecklichen Auswirkungen war verblaßt. Jetzt fiel ihm die ganze Qual sofort wieder ein.

Er blieb stehen, streckte seine Hand nach hinten und hielt so Kate und Adele an. Er nahm seine Maske ab, schnüffelte leicht in die Luft und runzelte dann konzentriert die Stirn, während er den Geruch zu identifizieren versuchte. »Das ist mehr als der Geruch von Krankheit«, sagte er. »Hier ist noch etwas. Etwas, das ich schon früher gerochen habe.« Er schnüffelte wieder. »Ich weiß es!« sagte er. »Es ist der Geruch von faulen Eiern!«

Die Dienerin erklärte: »Mutter Sarah hat ein paar kleine Töpfe mit einer geheimen Substanz brennend im Schlafzimmer zurückgelassen. Sie benutzt dieses und viele andere Mittel, um die Pest in Schach zu halten. Jetzt hat sie die Lady schon länger als vierzehn Tage vor dem Sterben bewahrt, Gott sei gepriesen.«

»Vierzehn Tage!« rief Alejandro aufgeregt. »Ich muß diese Frau, diese Sarah, sofort sehen und befragen!«

Adele fügte hinzu: »Hat sie einen Nachnamen, so daß wir sie leichter finden können?«

Die Magd runzelte die Stirn und dachte sichtbar nach. Endlich antwortete sie: »Mir ist nie einer genannt worden. Ich kenne sie seit meiner Kindheit, und man hat sie immer Mutter Sarah genannt. Sogar meine eigene Mutter hat das getan, Gott lasse ihre Seele in Frieden ruhen.«

»Aber wo ist sie zu finden?«

Wieder dachte die Magd angestrengt über die Frage nach und sprach dann von einer Ebene auf der anderen Seite des Flusses. »Es ist ein längerer Ritt«, sagte sie. »Ihr müßt die offene Wiese überqueren, dann findet Ihr ein paar Eichen mit verdrehten, knorrigen Stämmen. Reitet zwischen denen hindurch, und Ihr kommt auf einen weiteren Weg, einen schmaleren, der zu einer Lichtung im Wald führt. Am Rand der Lichtung steht eine kleine Steinkate neben einer gelb dampfenden Quelle, von der die Einheimischen sagen, sie hätte magische Eigenschaften; es geht das Gerücht, die Mutter beziehe einen Teil ihrer Fähigkeiten aus diesem heißen Wasser.«

Als sie die Magd von Magie reden hörte, hielt Adele dem Kind mit den Händen die Ohren zu und rief: »Blasphemie und Ketzerei! Gott schütze uns vor Magie und Hexen!«

Alejandro drehte sich rasch zu ihr um und sagte: »Hexe oder nicht, wenn die Frau auch nur die geringste Macht über diese Seuche hat, dann werden wir sie sofort aufsuchen, denn ich will keine Möglichkeit einer Heilbehandlung ungeprüft lassen.«

Überraschend eigenwillig und trotzig, fragte die sonst so sanfte Adele: »Und was ist mit dem Kind? Ich bestehe darauf, daß sie dem bösen Einfluß von Hexerei ferngehalten wird!«

»Adele, wir wissen nicht einmal, ob diese Frau die schwarze Kunst praktiziert, denn die Dienerin spricht von ihr als von der Hebamme! Es kann sein, daß die Erzählungen über ihren Erfolg die unwissenden Einheimischen so beeindruckt haben, daß sie nach ihrem eigenen Aberglauben von ihr sprechen. Es hört sich an, als sei sie eher ein Medicus als eine Hexe, wenn ihre Heilmittel so gut sind.«

Die kleine Kate war fasziniert von dem Streit über ihren Schutz und verfolgte den lebhaften Wortwechsel zwischen ihren beiden Gefährten aufmerksam. Endlich fragte sie: »Kann ich nicht hier bleiben, im Haus meiner Mutter?«

Alejandro und Adele unterbrachen ihren Streit und schauten sich an. Jeder wartete auf die Mei- nung des anderen. Die Dienstmagd sagte: »Die Kleine kann gern bleiben, solange sie nicht die Ruhe meiner Herrin stört.«

»Das wird sie nicht tun«, sagte Alejandro, »denn sie hat strikte Anweisung, ihre Mutter nicht zu berühren oder ihr auch nur zu nahe zu kommen. Unsere guten Pferde werden uns schnell an diesen Ort bringen, und wir werden vor Sonnenuntergang zurückkommen, um das Kind abzuholen. Dann hat es seine Mutter lange genug besucht, und wir brechen wieder nach Windsor auf. Was sagt Ihr dazu, Adele?«

Adele beäugte die Magd mißtrauisch und fragte sich, ob man darauf vertrauen konnte, daß sie während Kates Besuch im Haus ihrer Mutter genügend auf die Kleine aufpassen würde. Sie war sicher, daß die junge Dienerin noch bis vor kurzem nur ein Küchenmädchen gewesen und nur deshalb aufgestiegen war, weil ihre Herrin ständig umsorgt werden mußte.

Doch wenn sie die geheimnisvolle Mutter Sarah finden wollten, hatten sie keine andere Wahl, als das Kind zurückzulassen. Adele öffnete ihre kleine Börse, nahm eine Goldmünze heraus und reichte sie der Dienstmagd. »Sorgt dafür, daß sie der Kranken nicht zu nahe kommt, und Ihr bekommt dasselbe noch einmal, wenn wir zurückkehren und sie heil vorfinden.«

Die Augen der Magd weiteten sich, denn sie hatte noch nie so viel Geld auf einmal gesehen. Und sie sollte dasselbe noch einmal bekommen! »Das will ich tun, Herrin, seid beruhigt. Kein Kind könnte sicherer sein«, beruhigte sie sie.

Trotzdem war Adele voller Zweifel. Sie umarmte Kate und sagte: »Wir werden Euch vor Sonnenuntergang wieder abholen.« Nachdem sie der zerlumpten Magd ihre Umhänge wieder abgenommen hatten, beobachteten sie, wie diese und das Kind durch den dunklen Gang zur Schlafkammer gingen. Alejandro flüsterte ein stilles Gebet, dem kleiner. Mädchen möge kein Leid geschehen; dann verließen sie rasch das Haus und ritten auf der Straße nach Westen.

Nicht lange nachdem sie den Fluß überquert hatten, kam hinter dem Kamm eines Hügels die Ebene in Sicht. Alejandro lenkte sein Pferd auf die offene Wiese, und Adele folgte ihm. Wie erwartet erreichten sie bald die beiden edlen alten Eichen in ihrer regungslosen Umarmung. Alejandro hatte das Gefühl, in die Intimsphäre der ehrwürdigen Bäume einzudringen, als er den Weg zwischen ihnen betrat.

Gleich nachdem sie in den dichten Wald geritten waren, merkten sie, daß hier alles anders war. Schon die Luft unterschied sich von der, die sie auf der Wiese geatmet hatten; sie war warm und süß, obwohl es unter den Bäumen eigentlich hätte kühl sein müssen. Man hörte kein anderes Geräusch als die Hufe der Pferde auf dem Boden, keine surrenden Insekten, keine quakenden Frösche, keine menschlichen Stimmen.

Alejandro sah sich verwundert um und sagte zu Adele: »Ich fange an zu verstehen, warum du es für das beste hieltest, das Kind zurückzulassen. Ich fühle mich fast verzaubert von diesem Ort ... hier ist wirklich etwas Unnatürliches gegenwärtig.«

Der Wald endete so plötzlich, daß sie ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht abschirmen mußten. Alejandro erinnerte sich nicht an Einzelheiten des Weges hinter dem Tor, das die Eichen bildete, aber er wußte, daß sie ihn ganz zurückgelegt hatten. Er hatte keine Ahnung, wie lange das gedauert hatte; waren es nur Augenblicke gewesen? Er konnte sich nicht erinnern . Zu sehr hatte ihn der geheimnisvolle Ort verzaubert.

Doch Adele war längst nicht so hingerissen von dem Ort wie ihr Gefährte. Sie hätte Alejandro am liebsten zugerufen, sie müßten umkehren und davonreiten, aber sie hatte völlig die Sprache verloren. Auf dem Pfad durch den Wald hatte sie das Gefühl gehabt, als ziehe irgendeine winkende Hand ihr Pferd förmlich zwischen den Bäumen hindurch zu der hellen Lichtung, und sie hatte protestieren wollen, aber aus unerklärlichen Gründen war sie plötzlich stumm und konnte nicht den leisesten Laut ausstoßen.

Wie unter einem Bann starrten Adele und Alejandro einander verwundert an. Mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen saßen sie ab und gingen auf die steinerne Kate zu. Bald standen sie auf einem steingepflasterten Weg, der an der Tür des Hauses begann und direkt zu der warmen gelben Quelle führte; sie sahen die Wärme, die von dem lauen Wasser aufstieg, und waren wie gebannt von dem goldenen Schein des Sonnenlichts, das auf der glatten Oberfläche tanzte. Ein feuchter, berauschender Geruch durchzog die warme Luft, und obwohl er alles andere als angenehm war, fühlte Alejandro sich getrieben, ihn tief einzuatmen, wieder und wieder; je mehr er von dem flüchtigen Aroma einatmete, desto mehr wollte er. Es war süß und schwer und roch nach lebenden Dingen, nach sterbenden Dingen, die verrotteten, nach Feuchtigkeit, Nässe und Leben.

Als er endlich seine Stimme wiederfand, sagte er zu Adele: »Wenn dies ein Übel ist, dann möge es mich für immer heimsuchen. Ich bin wie verzaubert von diesem Ort.«

Da durchbrach eine träumerische Stimme den stillen Dunst. »Willkommen in meinem Heim, verehrter Arzt und edle Lady.«

Scheinbar aus dem Nirgendwo erschien vor ih- nen eine alte Frau, der sie beide eine so bezaubernde Stimme nicht zugetraut hätten. Sie sprach weiter, und ihre Worte wirkten wie die einer Mutter, die ihr Kind beruhigt. »Ich hatte Euch erwartet«, sagte sie, »aber ich wußte nicht, wann Ihr kommen würdet.«

Alejandros logischer Geist, der die Oberhand behalten wollte, sagte ihm, daß in der realen Welt ein solches Vorwissen nicht möglich sei. Doch die friedliche Stille, die üppigen, fruchtbaren Gerüche, die seltsam beruhigende Präsenz der alten Frau - all das zusammen vermittelte ihm ein Gefühl innerer Heiterkeit und Gelassenheit, wie er es seit der Geborgenheit seiner Kindheit in Spanien nicht mehr empfunden hatte, und er überließ sich ihm. An diesem ruhigen Ort schwebten Schmetterlinge so langsam durch die Luft, daß er meinte, sie müßten trotz ihrer Leichtigkeit fallen; er sah keine Sonne, dennoch war es ringsum sehr hell, und es gab auch keine Schatten. Nichts war braun und verwelkt; alles sah frisch und vollkommen aus, bis auf die Frau selbst, die die Merkmale der Zeit trug, als seien sie eher eine Gnade als eine Last. Hier konnte er sich erinnern, wie die Welt sich angefühlt hatte, ehe der Fluch der Ansteckung über sie gekommen war. Außerhalb dieses Ortes, jenseits der verkrümmten Eichen, gab es diese magische Gelassenheit nicht, sondern nur Chaos.

»Ihr seid gekommen, um von einem Heilmittel zu erfahren«, sagte sie.

Eifrig nickte er mit dem Kopf, die Augen in erwartungsvoller Hoffnung aufgerissen.

»Gut, Ihr sollt es haben.« Sie reichte ihm einen Beutel aus fein besticktem Leinen. Er drehte ihn in den Händen und untersuchte ihn sorgfältig, kindliches Staunen im Gesicht.

»Ich hatte nicht erwartet, es in die Hände gelegt zu bekommen«, sagte er. »Was ist das für ein Geschenk, das Ihr mir da gebt? Ist das Heilmittel darin enthalten?«

Ihr Lachen klang tief und uralt, fast musikalisch in seiner verzaubernden Wirkung auf ihn. Sie sagte: »Ihr müßt immer auf das vorbereitet sein, was Ihr nicht erwartet, Arzt; wenn Ihr das Heilmittel kennenlernen wollt, so öffnet den Beutel und befriedigt Eure Neugier.«

Er tat es begierig. Er zeigte Adele den Beutel, die ihn mißtrauisch beäugte, aber trotzdem mit ihm zusammen den Inhalt betrachtete. Er nahm jeden Gegenstand vorsichtig und mit großer Ehrfurcht zur Hand, und Adele folgte seinem Beispiel. Der Beutel enthielt mehrere kleine Säckchen, jedes mit einem Vorrat seltener Kräuter gefüllt, darunter auch die, die de Chauliac ihm zu Beginn seiner Reise in Avignon gegeben hatte und die nun verbraucht waren. Es gab auch einen größeren Beutel, gefüllt mit einem faul riechenden, gräulichen Pulver. Er nahm etwas davon zwischen die Finger und ließ es wie Sand wieder in den Beutel rieseln. Es gab ein kleines Fläschchen, gefüllt mit gelblicher Flüssigkeit und mit einem Korken verschlossen. Es gab rote Bänder, eine Walnußschale und ein paar andere seltsame Gegenstände, für die er keinerlei medizinische Verwendung kannte. Er umklammerte den kostbaren Beutel fest mit beiden Händen, um sicher zu sein, daß er wirklich existierte, daß er ihn berühren konnte und ihn sich nicht nur einbildete.

Er sah sich nach der Frau um und wollte ihr für die Gabe danken. »Gute Frau, ich weiß nicht einmal, wie ich Euch anreden soll, um Euch meinen Dank auszusprechen. Wir kamen auf der Suche nach einer Frau namens Mutter Sarah hierher ...«

»Und Ihr habt sie gefunden.«

Als sie so seine Vermutung über ihre Identität bestätigte, konnte Alejandro seine Erregung kaum beherrschen. »Ihr seid es also wirklich!« Zu Adele gewandt sagte er: »Sie ist es!« Er drehte sich wieder der alten Frau zu. »In meinem Staunen über diesen Ort habe ich fast den eigentlichen Grund unseres Kommens vergessen. Wir haben die Lady gesehen, die Ihr pflegt, und haben gehört, daß sie zwei Wochen überlebt hat! Sprecht mir von Euren Heilmitteln, denn sie sind ein bedeutendes Wissen!

Meine Seele dürstet danach, Eure Methoden kennenzulernen.«

»Arzt«, antwortete sie, »Ihr müßt Geduld haben. Zur rechten Zeit wird alles enthüllt werden. Ihr werdet die Antwort finden, die Ihr sucht, wenn Ihr sie braucht.«

Zum ersten Mal fühlte Alejandro sich an diesem traumhaften Ort nicht mehr völlig ruhig. »Ich fürchte, sie könnte mir entgehen, ich könnte nicht erkennen, was ich sehen soll.«

»Ihr müßt darauf vertrauen, daß Ihr sie erkennen werdet«, antwortete sie nur. »Ihr haltet das Heilmittel in Händen, und bald werdet Ihr es in Eurem Herzen haben. Geht jetzt und kümmert Euch schnell um das Wohlergehen des kleinen Mädchens, denn ihre Seele ist in ernster Gefahr. Ich kann den Ausgang ihrer Reise nicht sehen, aber sie wird in den nächsten Tagen eine schwere Prüfung durchleben. Vor allem denkt daran, daß Ihr glauben müßt und glaubt daran, daß alles gut enden wird.«

Alejandro hätte ihr gern noch tausend Fragen gestellt, merkte aber, daß Adele sehr unruhig und besorgt war.

»Sie spricht von einem kleinen Mädchen«, sagte sie. »Sie kann nur Kate meinen. Wir müssen zu ihr zurückkehren!«

Es kam ihm nicht in den Sinn, die alte Frau zu fragen, wieso sie von Kate wußte; es erschien ihm einfach ganz natürlich. Sie fanden ihre Pferde da, wo sie sie zurückgelassen hatten, fröhlich weidend in dem süßen, dunkelgrünen Gras. Alejandro verstaute den schönen Beutel mit den Heilkräutern vorsichtig in seiner Satteltasche. Dann saßen sie auf und machten sich auf den Rückweg durch den dunklen Wald zu den beiden Eichen, die eine Art Tor bildeten, das in die Außenwelt führte.

Unmittelbar vor den beiden Bäumen hielten sie ihre Pferde an. Alejandro konnte den eisigen Wind auf seinem Gesicht spüren, der aus der Welt kam, die sie nun betreten würden, und das warme Sonnenlicht auf seinem Rücken, das ihn schmerzlich an die Welt erinnerte, die sie gerade verließen.

Er sagte: »Ich fürchte, wenn wir dieses Tor passieren, werden wir uns nicht mehr daran erinnern, was wir auf der anderen Seite erkannt haben.« Er sah Adele flehend an und sagte: »Ich fürchte, wenn wir durchreiten, wird alles vergessen sein, und hinter meinem Sattel wird sich kein Heilmittel mehr befinden.«

Mit einer Weisheit, die ihrem Alter nicht angemessen war, schob Adele ihre eigenen Zweifel beiseite und tröstete ihn. »Das kann nicht sein. Wir haben es in der Hand gehalten. Es kann nicht verschwinden. Erinnere dich, was die Frau gesagt hat. Es wird eine Zeit kommen, wo du es benutzen wirst .«

Doch er rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Er schaute zurück in den Wald, wo zwischen den hohen Bäumen leuchtende Sonnenstrahlen auf die weichen Tannennadeln am Boden fielen. Dann drehte er sich wieder um und schaute auf die Wiese, die im dünnen grauen Licht des kühlen Nachmittags kein so zauberhaftes Bild abgab. Er fühlte, wie der Wind durch das Tor zwischen den beiden Eichen pfiff und trockene Blätter um die Hufe der Pferde wehen ließ, und er hätte sich am liebsten nie wieder bewegt. Ihn lähmte die Furcht, das zu verlieren, was er gewonnen hatte.

»Alejandro«, sagte Adele drängend, »wir müssen fort! Erinnere dich, was sie über Kate gesagt hat! Wir müssen sofort zu ihr zurück!«

Sie wandte sich der Weide zu, drückte die Füße an die Flanken ihres Pferdes, und das große, sanfte Tier gehorchte und setzte sich in Bewegung. Sie stieß einen Schrei aus, nicht vor Schmerz, sondern vor Überraschung, als die rauhe, kalte Luft jenseits des Tores ihre Lungen füllte. Sie hielt das Pferd an, das ebenfalls keuchte, und hustete laut, während sie nach Luft schnappte.

Alejandro beobachtete sie, vergaß all seine Befürchtungen und gab seinem Pferd ebenfalls die Sporen. Auch er spürte den Angriff des Windes auf seinen unvorbereiteten Körper und rang kurz nach Luft. Doch bald verging sein Unbehagen, und er erreichte an Adeles Seite den Rand der Wiese. Keiner von ihnen bewegte sich. Alejandro schaute zum Himmel nach dem Stand der Sonne und sah, daß er sich kaum verändert hatte, seit sie das Eichentor zum ersten Mal passiert hatten. Er sah die weichen Schatten, die sich kaum bewegt hatten, und wußte, daß nur sehr wenig Zeit vergangen war. Es war, als hätten sie sich kaum von der Stelle bewegt.

Doch mit überwältigender Freude stellte er fest, daß er sich erinnerte. Er erinnerte sich an die Wärme der milden Luft, und er sah die alte Frau noch vor sich. Er wandte sich an Adele und fragte ängstlich: »Liebste, erinnerst du dich auch, was wir dort drinnen erlebt haben?«

»Ja, mein Geliebter, ich weiß es so genau, als wäre ich noch dort.«

Glücklich sprang er vom Pferd und öffnete die Riemen der Satteltasche. Er griff hinein, und seine Hand fand, was er suchte. Er ertastete den Stoffbeutel, den er hineingelegt hatte, und zog ihn eifrig heraus.

Doch dieser Beutel war nicht aus feinem, besticktem Leinen, sondern nur aus rohem, gekämmtem Flachs, grob gewebt, braun und abgenutzt, beinahe verschlissen. Was ist das für ein Zaubertrick? dachte er. Hat diese Frau mich getäuscht? Bestürzt sah er Adele an und löste dann die Kordel. Der Beutel enthielt die gleichen kostbaren Kräuter, nur jetzt in gröberen Säckchen; die exotischen Gegenstände waren alle intakt, Gott sei Dank, und hatten den Übergang überlebt.

Er steckte den Beutel wieder in seine Satteltasche, saß energisch auf und im Galopp ritten sie über die große Wiese. Die Pferde wieherten und schnaubten protestierend über das rasche Tempo in der kalten Luft, und Alejandro fragte sich, ob auch sie gern dort geblieben wären, woher sie kamen.