17

 

Es begann zu regnen, als sie sich dem Haus von Kates Mutter näherten, deswegen hielten Adele und Alejandro kurz unter einem Baum an, um sich die Kapuzen ihrer Reitmäntel überzustreifen. Noch immer benommen und irgendwie erschüttert von dem Geschehen hinter den Eichen, zitterte Alejandro und zog seinen Umhang enger um sich; dann griff er nach Adeles und zog auch diesen zusammen. Während er sich an ihrem Mantel zu schaffen machte, hob sie eine Hand und streichelte seine Wange.

»Sag mir, was dich bedrückt«, sagte sie.

Er seufzte traurig, während er ihren Kragen zuknöpfte. »Wie gut du meine Stimmung erraten kannst. Du bist eine Lady mit vielen Talenten.«

»Es ist nicht viel Talent nötig, um die Melancholie auf deinem Gesicht zu erkennen, denn du hast nicht das Talent, sie zu verbergen.«

»Ich bin bedrückt«, sagte er, »und zwar in tiefster Seele. Ich fühle mich, als hätten wir das Paradies verlassen und seien zu dem Wissen um das verdammt, was hätte sein können. Dort drinnen waren wir unschuldig und alles war schön; jetzt wissen wir viel mehr, als erträglich ist. Und wir kehren an einen Ort zurück, an dem uns noch mehr Kummer erwartet.«

»Aber wir werden ertragen, was wir wissen«, sagte sie leise, »denn dies ist die Welt, in der wir leben müssen, nicht die, die wir gerade verlassen haben. Schau dich doch um; siehst du hier keine Schönheit? Sieh nur die Schönheit dieses Regens.« Sie streckte die Hand aus, um ein paar Tropfen aufzufangen. »Ich brauche nur die Hand auszustrecken, und bald werde ich genug haben, um zu trinken. Süßen Regen, um meinen Durst zu stillen.«

»Es ist kalter Regen.«

»Er ist eine Gabe Gottes, der will, daß wir die Bäume und Blumen kennen, die uns sogar ein kalter Regen bringt.«

»Es ist Herbst, und du hast gesagt, daß es hier kalt wird; ich fange an, es selbst zu spüren. Werden die Bäume und Blumen nicht bald braun?«

»Nur, um im Frühling grün wiedergeboren zu werden.«

»Aber warum muß alles verwelken und sterben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Deine Fragen gehen über meinen schlichten Verstand hinaus; du tätest sicher besser daran, einen Philosophen oder

Priester nach diesen göttlichen Dingen zu fragen. Aber ich will dir sagen, was ich immer geglaubt habe. Dinge welken und sterben vor unseren Augen, damit wir besser genießen können, daß wir leben.«

Doch Alejandro ließ sich nicht trösten. Für ihn war England ein grausamer, einengender, unfreundlicher Ort. Er wußte nicht mehr, wo sein Zuhause war oder mit wem er verbündet war; für König Edward war er der Spion des Papstes, als Arzt verkleidet, doch für den Papst war er ein Spanier, mit dem man spielen konnte, bei dem man darauf zählen konnte, daß er das englische Königshaus ebenso ärgerte, wie er es schützte. »Jetzt habe ich das Versprechen eines Heilmittels«, sagte er, »aber es kommt von einem Ort, der unwirklich scheint, nicht von dieser Welt, und von einer Frau, die nicht verschiedener von den anderen Heilern sein könnte, die ich gekannt habe. Ich bringe es aus der Helligkeit mit, aber ich muß es in der Dunkelheit benutzen. Und wer weiß, ob es überhaupt wirken wird? Das Sterben vierzehn Tage aufzuschieben bedeutet noch nicht unbedingt eine Heilung.«

Adele sagte leise: »Es wird wirken, wenn es Gottes Wille ist, daß es wirkt.«

Mit zorniger Stimme sagte Alejandro: »Ich verfluchte Gottes Willen. Rings um uns herum liegen Seine Opfer.«

Sie streckte einen Arm aus und nahm seine Hand. Sie drückte sie leicht und sagte: »Du kannst ihn verfluchen, wie du willst, aber du wirst ihn nie ändern. Dinge sterben, weil Gott will, daß sie sterben.« Sie nickte in Richtung ihres Ziels und sagte: »Laß uns hoffen, daß es Gottes Wille ist, daß wir Kate erreichen, ehe Er seine Hand nach ihr ausstreckt.« Ohne ein weiteres Wort ritt sie los, und Alejandro folgte ihr.

Dieselbe Dienerin wie zuvor öffnete ihnen die Tür; ihre Miene war jetzt noch ernster. »Kommt schnell herein«, sagte sie. »Mutter Sarah ist hier! Die, zu der Ihr reiten wolltet. Wenn ich gewußt hätte, daß sie schon hierher unterwegs war, hätte ich Euch nicht ausgeschickt, sie zu suchen; Ihr habt den ganzen Weg für nichts zurückgelegt. Sie kam gleich nach Eurem Aufbruch! Könnt Ihr einer armen, unwissenden Magd verzeihen?«

Alejandro sah sie in aufrichtiger Verwirrung an. »Törichtes Weib«, sagte er, »was soll dieses Gerede?«

»Wie ich schon sagte, Mutter Sarah ist hier!« sagte sie. »Sie kam, als Ihr gerade fortgegangen wart. Ich habe mich selbst verflucht und hoffe, daß Ihr mich nicht auspeitschen werdet.«

Während die Nässe von ihren Reitumhängen auf die breiten Dielen des Flurs tropfte, sahen Adele und Alejandro sich verwirrt an.

»Wie lange ist sie schon hier?« fragte er die Dienerin.

Sie sah ihn argwöhnisch an. »Habt Ihr mich nicht verstanden, Sir? Sie kam gleich nach Eurem Aufbruch, habe ich gesagt.«

Schockiert und ungläubig starrte er die Frau an; sie mißdeutete das als Zorn und setzte ihre jämmerlichen Schuldbekenntnisse fort. »Oh, vergebt mir, Sir! Ich wollte nicht so grob sprechen. Und jetzt sagt die Mutter, ich sei eine Närrin, weil ich einige Male versäumt habe, der Lady ihre Medizin zu geben! Meine Lady weigert sich, dieses gelbe Zeug zu trinken, und wer könnte es ihr verdenken? Es riecht förmlich nach Tod, und ich würde es nie über die Lippen bringen, und wenn es mich die Seele kosten würde! Noch nie hat ein Fläschchen solche Fäulnis enthalten, denn selbst das Fläschchen würde aus Ekel vor seinem Inhalt zerbrechen.«

Alejandro war völlig durcheinander; er schaute sich nach Kate um, da er sich an die düstere Prophezeiung der alten Frau erinnerte. »Wo ist das Kind?« fragte er streng.

»Wieso, sie ist da drinnen, wie die Mutter, die meine Lady pflegt.«

Grob drängte Alejandro sich an ihr vorbei, dicht gefolgt von Adele. Sie eilten in die Schlafkammer, ohne zu wissen, was sie erwartete; dort erblickten sie eine zerlumpte Gestalt, die sich über ein Bett beugte, in dem die Überreste einer einstmals schönen Frau ruhten. Das Kind stand an der entfernteren Wand, ein Tuch in der Hand, ohne die Kräutermaske, mit geröteten und verschwollenen Augen. Als die Kleine Alejandro und Adele sah, rannte sie auf sie zu und warf sich unter hysterischem Schluchzen in ihre Arme.

»Oh, die Gesegnete Jungfrau sei gepriesen, daß Ihr hier seid! Ich habe solche Angst!«

Der Arzt tröstete sie, so gut er konnte. Gott verfluche den König, der eine solche Travestie befohlen hat! Sein Gewissen sei verdammt, denn das hat er verdient! Er sagte zu dem kleinen Mädchen: »Sammelt Eure Kraft, denn Ihr müßt mir sagen, was in unserer Abwesenheit geschehen ist ... Wer ist dieses Weib, das sich jetzt um Eure Mutter kümmert?«

Die Kleine schniefte, während sie sich zu fassen suchte. »Das ist kein Weib, das ist die Hebamme!« protestierte sie. »Das ist Mutter Sarah!«

Es kann nicht sein! Alejandros Gedanken rasten. Sie kann ihre Hütte nicht später verlassen haben als wir und vor uns hier angekommen sein ...

Er stand auf und ließ Adele mit Kate in den Armen in der Ecke zurück. »Dreht Euch um, Frau, damit ich Euer Gesicht sehen kann«, befahl er.

Die Alte blickte kurz über die Schulter und sagte ungeduldig: »Arzt, kommandiert mich nicht herum wie irgendeinen gemeinen Dienstboten. Ich bin nicht Euer Lehrling; wenn die Dinge so wären, wie sie nach der Ordnung der Natur sein sollten, dann wäret Ihr mein Lehrling.« Sie schlurfte ans Kopfende des Bettes. »Leider ist die natürliche Ordnung in letzter Zeit gestört. Und jetzt habe ich ein wichtiges Werk zu tun! Wenn Ihr nicht helfen könnt, so steht mir wenigstens nicht im Weg!«

»Das ist unmöglich«, rief Alejandro wieder ungläubig, »denn wir haben Mutter Sarah in ihrer Kate zurückgelassen und sind geradewegs zu diesem Haus gekommen. Niemand hat uns unterwegs überholt!«

Die gebeugte Alte wandte sich langsam von ihrer Arbeit ab und sah den Arzt an. Er musterte sie genau. Es war dasselbe faltige, alte Gesicht, das Gesicht tausendjähriger Weisheit.

»Ihr müßt immer mit dem Unerwarteten rechnen«, sagte sie und drohte ihm mit dem Finger.

Verblüfft über die Wiederholung der Bemerkung, die er erst vor so kurzer Zeit gehört hatte, starrte er eindringlich in ihr faltiges Gesicht und suchte nach Gründen, die Ähnlichkeit zu bestreiten. Sie erwiderte sein Starren, und ihr Blick war kraftvoller und stetiger als seiner; mit wissendem Lächeln sagte sie: »Nun, wenn Ihr lernen wollt, so schaut genau zu. Diese Dinge werdet ihr nirgendwo anders sehen.«

So schockiert er auch über ihre Anwesenheit war, denn er konnte nicht glauben, daß sie den Weg so schnell zurückgelegt hatte, sah er ihr doch zu. Er kam um das Bett herum und betrachtete die hilflose Patientin genauer; er sah die verräterischen blauen und schwarzen Flecken an ihrem geschwollenen Hals. Sie ist dem Tode nahe, dachte er; trotzdem hat sie mit der Krankheit so lange gelebt .

»Es ist nicht mehr viel Zeit«, sagte die Alte leise. »Die dumme Pute, die ich mit ihrer Pflege betraut habe, hat zugelassen, daß die Lady eine lebenswichtige Tinktur mehrmals nicht einnahm, und nun muß ich all meine Geschicklichkeit aufwenden, um den Schaden wiedergutzumachen. Richtet Euch darauf ein, mir zu assistieren!«

Die Stimme, das Gebaren, die Kleidung, alles war der Frau aus der steinernen Kate so ähnlich wie das Gesicht. Er hatte keine andere Wahl, er mußte glauben, daß sie dieselbe Person war. Errötend sagte er: »Was soll ich machen? Ich bin bereit, alles zu tun.«

Von einem nahen Tablett nahm sie ein langes Schilfrohr, gefüllt mit pulverisiertem gelbem Stein, und reichte es ihm. »Haltet dies an die Kerze«, sagte sie, »aber haltet es auf Armeslänge von Euch weg. Steckt es in das Loch in diesem Stein.« Sie wies auf einen flachen grauen Stein, der auf einem kleinen Tisch lag.

Er tat wie geheißen, und sofort war der Raum von einer blauweiß funkelnden Flamme erhellt. Das Licht, das sie verströmte, war hart, und als die blauen Flammen aus der Spitze des Schilfrohrs züngelten, tanzten unheimliche Schatten im Raum. Wieder durchdrang der Geruch fauler Eier die Luft.

Alejandro trat wieder an das Bett und beobachtete, wie die alte Frau einen lauten Singsang in einer Sprache anstimmte, die er noch nie gehört hatte. Er glaubte, sie klinge wie Englisch oder irgendeine Kombination aus dieser rauhen und einer eher lateinischen Sprache, aber er konnte sie nicht wirklich verstehen.

Adele hielt Kate in den Armen und sah aufmerksam zu, verblüfft über das, was sie sah. So verblüfft, daß sie seine dringende Bitte beinahe überhört hätte. »Adele! Bitte, wenn Ihr verstehen könnt, was sie sagt, versucht es Euch für mich einzuprägen . Ich werde mich an ihre Bewegungen erinnern; Ihr müßt Euch für mich die Worte merken!«

»Ja, das werde ich!« sagte sie und drückte das Kind fester an sich.

Mutter Sarah sprach nacheinander jedes der Symptome von Kates Mutter an. »Drei Krumen von einer Kruste, am letzten Karfreitag gebacken, um die Eingeweide zu stärken.« Sie brach drei kleine Krumen von einer fast versteinerten Brotkruste ab und legte sie auf die Lippen der Lady.

Aus einem kleinen Fläschchen träufelte sie sieben Tropfen einer milchigen Flüssigkeit auf die Stirn der Lady. »Der Balsam Gileads, so selten wie die Gabe Sabas an Salomon.« Alejandro erkannte drei Wörter aus der Thora, und obwohl er den Rest der Anrufung nicht verstand, kannte er das Ritual, denn es war jahrhundertelang von jüdischen Ärzten benutzt worden, um Verdauungsstörungen und Melancholie zu behandeln. Wie war sie an dieses Wissen gekommen?

»Eine Münze von Gold, in die Hand gelegt, um die Gesundheit vom Teufel zurückzukaufen.« Die alte Frau drückte die verkrampften Finger der Lady auseinander und schloß sie wieder um die Münze.

»Das Blut des Lammes, um die Pest abzuwehren, auf den Türsturz gestrichen wie im alten Ägypten.« Mutter Sarah tauchte den Daumen in eine kleine Schale mit hellroter Flüssigkeit und schmierte einen langen Streifen der Substanz an das Kopfbrett des Bettes.

Jetzt hielt die alte Frau die Schale einer Walnuß in der Hand und ließ die andere Hand langsam darüber kreisen, während sie unverständliche Gesänge flüsterte. Sie legte die Schale auf den Bauch der Lady und hob die obere Hälfte ab, wobei eine große schwarze Spinne mit einer weißen Raute auf dem Rücken zum Vorschein kam; das verstörte Insekt kroch sofort auf die Brust der Lady zu und verschwand unter den Laken. Adele, die aus der Zimmerecke zuschaute, bekreuzigte sich erneut und zog eine Grimasse, und Kate schrie auf; beide stellten sich vor, wie es wäre, das schwarze Tier mit den haarigen Beinen auf der Brust zu haben.

Die alte Frau bückte sich steif und nahm ein kleines Päckchen auf, das zu ihren Füßen gelegen hatte. Der kleine braune Beutel war mit einer Kordel zusammengebunden, die vom vielen Öffnen schmutzig war. Auf ein Brett in der Nähe schüttete sie ein kleines Häufchen von einem körnigen grauen Pulver. Sie nahm ein wenig davon zwischen zwei Finger und sagte: »Ein Fingerknöchel.« Sie ließ es aus den Fingern in eine kleine Schale rieseln. Dann nahm sie ein Fläschchen und sagte: »Eine halbe Handvoll.« Sie goß etwas von der gelblichen Flüssigkeit in ihre gewölbte Hand und ließ es dann in die Schale mit dem Pulver tropfen. Sie mischte beides sorgfältig zu einer unansehnlichen graugrünen Masse, die muffig roch und auch dem verzweifeltsten Patienten nicht willkommen gewesen wäre.

Zuerst tauchte sie ihren Finger in das Gemisch und schmierte ein wenig davon auf die Stirn der Lady; dann löffelte sie den Rest in den Mund der widerstrebenden Patientin. Trotz ihrer großen Schwäche versuchte die Lady, die scheußliche Mixtur wieder auszuspucken, doch die alte Frau hielt ihr mit überraschender Kraft den Mund zu und zwang sie, die Medizin zu schlucken. Die schwache Patientin gehorchte und nahm dann ihr unregelmäßiges Keuchen wieder auf.

Mutter Sarah wischte ihr sanft den Schweiß von den Wangen und die restlichen Tropfen des Gebräus vom Kinn. »Bald sind wir fertig und Ihr könnt wieder ruhen«, beschwichtigte sie sie tröstend. Sie streifte einen silbernen Ring über den Finger der keuchenden Patientin und sang: »Einen Ring aus den Pennies, die Aussätzige erbettelt haben!«

Mit einem resignierten Seufzer holte Mutter Sarah dann den letzten Gegenstand aus ihrem Beutel. Es war ein kleiner, gewebter Streifen roten Tuchs, ähnlich wie ein Band, und wurde zu einem kleinen Ring mit überkreuzten Enden gefaltet und dann über dem Herzen auf das Nachtkleid der Patientin gesteckt. »Um den Geist der Pestmaid abzuwehren«, sagte sie, »denn sie fürchtet die Farbe von Blut und stört kein Herz, das von ihr geschützt wird.«

Endlich sank die alte Frau auf einen nahen Stuhl, verausgabt und erschöpft von ihren Bemühungen um die Kranke. Viele Minuten lang rührte sie sich nicht und gab keinen Ton von sich; selbst ihr Atem ging so flach, daß man ihn kaum hören konnte.

Alejandro rüttelte sanft am Arm der alten Frau. Sie war in ihrer Trance so reglos, daß er schon fürchtete, sie habe den Tod von der Lady auf sich selbst abgelenkt. Doch dann öffnete sie die flatternden Lider und richtete sich auf dem Stuhl auf.

»Mehr kann ich nicht tun«, sagte sie. »Nun müssen wir beten.«

Und so beteten sie, jeder in seiner eigenen Weise, um die Genesung der Lady. Doch als die Sonne tief am Himmel stand, wurde allen klar, daß der Geist der Pestmaid sich nicht hatte vertreiben lassen. Die Lady begann ihre Reise auf die andere Seite des Lebens. Ihre Augenlider fingen an zu flattern, und ihr Blick irrte im Raum umher.

Der Arzt wußte, daß sie nicht klar sehen konnte, so gern ihre Lieben sich das auch eingebildet hätten, und daß die Patientin wenig Kontrolle über sich hatte. Er war nicht überrascht, als sie die Beine an den Körper zog wie ein Säugling und sich zusammengerollt auf die Seite legte, als wolle sie ihren von der Pest aufgeschwollenen Bauch schützen. Er hörte sie einen letzten, keuchenden Atemzug tun, und dann sah er, daß sie sich nicht mehr bewegte; ihre Augen starrten, ohne etwas zu sehen, unter den halb geschlossenen Lidern hervor.

Nach dem lokalen Brauch schloß Mutter Sarah der Frau die Augen und legte auf jedes Lid einen Penny.

Kate schluchzte hemmungslos, den kleinen Körper fest in Adeles Arme geschmiegt. In jämmerlicher Trauer und Qual schrie sie: »Mama!« Alejandro wollte die Tote schon mit den Laken decken, doch Kate bat ihn, noch zu warten.

»Bitte, Doktor, laßt mich sie noch einmal küssen.«

Er kniete nieder, nahm ihre Arme und sagte sanft: »Das kann ich nicht, Kind, denn die Ansteckung kann von ihren Lippen auf Eure übergehen.«

Doch ihr jämmerlicher, klagender Ausdruck war mehr, als er ertragen konnte. Er sah zu, wie sie sich mit dem Tuch, das er ihr gegeben hatte, nochmals die Tränen abwischte.

»Kate, küßt Euer Taschentuch«, sagte er.

Zwischen den heftigen Schluchzern fragte sie: »Aber warum?«

»Ich werde es Euch zeigen.«

Sie wischte sich erneut die Augen und küßte dann das Tuch.

»Nun gebt es mir.«

Er nahm ihre kleine Hand und legte sie in seine größere. Er lächelte tröstend und streichelte ihr Haar. Dann stand er auf und trat an das Bett. Er berührte mit dem Taschentuch die Lippen der Toten und drückte es ihr dann in die Hand.

»Jetzt wird sie Euren Kuß mit sich in die Ewigkeit nehmen.«

Alejandro stand ungeduldig neben Mutter Sarah und sah zu, wie sie sich wieder und wieder kaltes Wasser auf die runzlige Haut ihres Gesichts und Halses spritzte; sie versuchte, die Fäulnis zu entfernen, die sich während des mißlungenen Heilungsrituals in ihren Poren festgesetzt hatte.

Noch immer über das Becken gebeugt, wandte sie ihm den Kopf zu und sagte: »Wollt Ihr einer alten Frau nicht einen Moment Ruhe gönnen?«

»Ich wollte Euch fragen nach ...«

»Ja, ja, ich weiß, Ihr wollt mich vieles fragen.« Wasser tropfte von ihrem Gesicht und ihren Händen. Mit einem tiefen Seufzer trocknete sie sich ab. »Also gut«, sagte sie. »Jetzt habt Ihr meine Aufmerksamkeit.«

»Zu allererst möchte ich wissen, wie .«

»Wie es kommt, daß Ihr mit Pferden von meinem Haus fortgeritten seid, während ich dastand und Euch nachsah, und ich dann selbst, ohne ein Pferd zu haben, vor Euch hier ankam?«

»Ja!«

»In Wahrheit, junger Mann, geschah es nicht so.«

»Aber ich habe Euch mit eigenen Augen gesehen, und meine Gefährtin Adele auch!« rief er.

Adele kam aus dem Nebenzimmer, Kate in den Armen.

»Bitte, sagt dieser Frau, was wir gesehen haben.«

»Alejandro, das Kind ...«, sagte sie mit besorgter Miene. »Ich möchte nicht, daß Kate das hört. Es ist Blasphemie!«

Er löste Kate aus Adeles Armen und übergab sie der Dienstmagd, die das Kind wegführte. Nachdem sie sie nicht mehr hören konnte, berichtete Adele der alten Frau von den Ereignissen bei ihrem Ritt.

»Ihr habt mich nicht vorbeikommen sehen, als Ihr fortgeritten seid?«

Alejandro und Adele sahen einander an. Adele zuckte mit den Schultern, und Alejandro sagte: »Ich erinnere mich nicht, eine Frau wie Euch gesehen zu haben.«

»Aber es waren Reisende auf der Straße, nicht wahr?« sagte die alte Frau.

»Ja«, antwortete er fast zornig, »aber niemand, der wie Ihr aussah!«

»In den Jahren, in denen ich Menschen mit Störungen an Körper und Seele behandelt habe, habe ich viele Leute gekannt, die sehen, was sie sehen wollen, und überhaupt nicht auf das achten, was sie wirklich vor sich haben. Es muß für Euch von allergrößter Bedeutung gewesen sein, mich heute auf dieser Lichtung zu sehen, sonst hättet Ihr sicher erkannt, daß das Haus und die Lichtung ganz leer waren.«

»Weib, ich versichere Euch«, sagte er jetzt mit ungezügelter Wut, »daß meine Seele, mein Körper und mein Geist völlig gesund sind und daß ich nicht daran zweifle, daß Ihr bei dieser Hütte wart, wie meine Gefährtin bestätigt hat.«

Er wartete auf eine Antwort der alten Frau, aber sie schwieg einfach, die Hände vor dem üppigen Busen gefaltet.

»Nun? Was habt Ihr dazu zu sagen?«

»Ich, Ihr unverschämter Grünschnabel, habe zu sagen, daß ich nicht daran zweifle, daß Ihr an die Wahrheit Eurer Geschichte glaubt; in Wirklichkeit aber erinnert Ihr Euch nur an einen höchst angenehmen Traum. Wie kann man sicher sein, daß Eure müden Köpfe sich das ganze Geschehnis nicht nur eingebildet haben, einfach um der Freude willen, in diesen schweren Zeiten etwas Wunderbares zu haben, dem man nachhängen kann?«

»Aber ich besitze die Dinge, die Ihr mir gegeben habt - die Medizin.«

». von der Ihr nicht mit Sicherheit behaupten könnt, daß Ihr sie von mir erhalten habt.«

Verzweifelt über ihr wiederholtes Leugnen warf Alejandro die Hände in die Luft. Rastlos ging er in dem kleinen Raum auf und ab und murmelte vor sich hin. Endlich sagte er mit vor Enttäuschung bitterer Stimme: »Dann laßt mich wenigstens begreifen, warum Eure Anstrengungen fehlgeschlagen sind, das Leben der Lady zu retten. Nach dem, was die Dienstmagd erzählt hat, hat sie mit der Krankheit mehr als vierzehn Tage überlebt! Das ist bemerkenswert; ich habe nie einen solchen Erfolg gesehen; was ist in den letzten Stunden fehlgeschlagen? Ich muß es wissen!«

Die alte Frau setzte sich hin und stieß einen tiefen Seufzer aus, ehe sie antwortete: »Arzt, wendet Ihr Eure Fähigkeiten jemals auf Patienten an, die unmöglich überleben können?«

Er sagte nichts, doch seine Gedanken wandten sich sofort Carlos Alderons langsamem Verfall zu.

»Tja, das dachte ich mir«, sagte sie, als sie seinen beschämten Blick sah. »Eure Augen verraten Euch, auch wenn Ihr nicht darüber sprechen könnt.«

Mit hängendem Kopf sagte Alejandro: »Ihr habt recht; ich habe schon solche vergeblichen Behandlungen vorgenommen.«

Ihre Stimme wurde nun beruhigender und sanfter. »Betrachtet diese Behandlungen niemals als vergeblich, denn ihre Wirkung auf die Lebenden ist weit folgenreicher. Wenn ich heute diese Lady einfach verlassen hätte, wäre meine Mißachtung derer, die sie liebten, für sie genauso tödlich wie die Pest selber. Ich will einem Kind nicht die Hoffnung nehmen. Aber wenn ich behaupten würde, ein Heilmittel zu besitzen, würde ich lügen; ich habe das Sterben lange hinausgezögert, aber ein Heilmittel habe ich nicht.«

Ziemlich grob sagte Alejandro: »Dann waren all diese lächerlichen Zaubertricks und Gesänge nur billige Täuschung, und Ihr vermögt in Wahrheit nicht mehr als ich!«

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, beherrschte sich aber; dann grinste sie wissend und strich sich über das behaarte Kinn. »Ich erinnere mich sehr deutlich, junger Freund, daß die Rituale Euch ebensoviel Ehrfurcht eingeflößt haben wie der allzu frommen Dame, die Euch begleitet. Wollt Ihr leugnen, daß Ihr zumindest für ein Weilchen an die Heilung geglaubt habt?«

Das konnte er nicht leugnen; er erinnerte sich an die intensive Faszination, die er empfunden hatte, während er der Vorführung der Alten zusah. Sie hatte recht. Zumindest für eine kurze Zeit hatte er geglaubt, die Lady würde überleben.

»Und das«, sagte sie selbstsicher und in fast überheblichem Ton, »ist die einzige Quelle meiner heilenden Kräfte. Die Leute sind bereit, das zu glauben, was sie für wahr halten wollen. Ihr seid in dieser Hinsicht keine Ausnahme.«

Aber ich möchte eine Ausnahme sein, dachte er niedergeschlagen. Ich brauche den Glauben, daß ich aufgrund meiner Ausbildung und meiner Hingabe das Leiden der Kranken lindern kann. Ich habe im Leben nichts als das.

Sie sah seinen beschämten Blick und begriff, was dahinter stand. »Seid nicht zu hart gegen Euch selbst, Arzt, denn Ihr habt nicht genug Lektionen vom besten aller Lehrer gehabt, die in nichts anderem bestehen als der täglichen Ausübung Eurer Kunst. Erfahrung wird Euch mehr lehren als jeder Meister oder Mentor. Und ich glaube, daß ein Heilmittel bald verfügbar sein wird; man muß noch vieles ausprobieren. Jedesmal, wenn ich einen Patienten behandle, komme ich dem Erfolg ein bißchen näher; ich verändere die Anteile von Pulver und Flüssigkeit, denn darin liegt der Schlüssel.«

Während sie sprach, räumte sie ihre Werkzeuge und Medikamente zusammen, doch zwei Behälter packte sie nicht ein. »Jetzt reißt Euch aus Eurem Selbstmitleid, junger Mann, und paßt auf, denn ich werde mich nicht wiederholen. Vor langer Zeit habe ich bemerkt, daß die Tiere, die aus der warmen Quelle bei meinem Haus trinken, allen Ansteckungen zu widerstehen scheinen, während andere von ihrer Art ihnen erliegen und schnell sterben.«

Sie nahm ein großes Glas mit dem trüben gelben Wasser und stellte es auf einen Tisch neben ihm. »Ich habe beobachtet, daß es einen ziemlich unangenehmen Geruch hat, schwächer, aber ganz ähnlich wie der, den die seltsamen gelben Steine ausströmen, die aus den Kupferminen heraufgebracht werden.«

»Das sind die, die mich an faule Eier erinnern.«

»Ja, ganz recht! Wenn Ihr Euch nicht der Traurigkeit ergebt, seid Ihr schnell von Begriff! Ich habe angenommen, daß das gelbe Wasser etwas von den gelben Steinen enthält, in Form eines feinen Pulvers allerdings; wie das zugeht, weiß ich nicht, aber was spielt das für eine Rolle? Die Tiere, die aus dieser Quelle trinken, müssen inzwischen in all ihren Körpersäften eine große Menge von diesem stark riechenden gelben Stein enthalten.«

»Wie nennt man dieses gelbe Pulver?«

»Man nennt es Schwefel, manchmal auch Sulfur. Wenn es verbrannt wird, sprüht die Flamme Funken und wird blau. Hexen benutzen es seit langem, um die Ungläubigen von ihren besonderen Kräften zu überzeugen.«

»Wie Ihr es heute mit dem Schilfrohr getan habt.«

»Dieser sündigen Täuschung habe ich mich schuldig gemacht«, sagte sie mit einem Grinsen, »aber aus einem guten Grund.« Sie legte ein kleines braunes Säckchen neben das Glas mit dem Wasser. »Ihr müßt dieses graue Pulver hinzufügen, denn es macht stark, wie ein Schwert einen Ritter stark macht!«

Sie nahm eine seiner Hände in ihre und schüttelte ein kleines Häufchen von dem körnigen grauen Pulver in seine Handfläche. Alejandro rieb es zwischen den Fingern und spürte die körnige Beschaffenheit. Er sah die alte Frau fragend an.

Sie flüsterte ganz ehrfürchtig: »Es ist der Staub von den Toten, und er überträgt ihre Kräfte auf die Kranken.«

Der Staub von den Toten? Das ist gewiß verboten ...

Sie fuhr mit ihren Anweisungen fort. »Mischt einen Fingerknöchel von dem Pulver mit einer halben Handvoll von dem Wasser, und gebt dem Patienten bei Sonnenaufgang, am Mittag und noch einmal bei Sonnenuntergang einen guten Schluck davon. Sollte der Patient wach sein und Ihr auch, so schadet auch ein weiterer Schluck um Mitternacht nichts. Aber bewahrt Euren Vorrat auf und benutzt ihn weise, denn diese Dinge findet Ihr nur an meinem Wohnort; Gott allein weiß, wann Ihr sie wieder brauchen werdet.«

»Gott allein«, wiederholte Alejandro und betete, daß das nie der Fall sein möge.

Sie legten den Leichnam der Lady an den Straßenrand, wo der Fuhrmann ihn sehen mußte. Die fünf Menschen, die bei ihrem Tod zugegen gewesen waren, sahen zu, wie das Fuhrwerk herankam und der Kutscher abstieg. Er und ein anderer Mann hoben den Leichnam auf, der noch warm und biegsam war, und hievten ihn auf den Stapel derer, die an diesem Tag gestorben waren.

Das Fuhrwerk bog sich in der Mitte unter der Last seiner grausigen Fracht; ein Mann sah die

Straße entlang, wo noch weitere Leichen auf ihre letzte irdische Reise warteten, und sagte zu dem anderen: »Das reicht jetzt; die anderen sind auch noch tot, wenn wir später wiederkommen.«

»Ja«, stimmte sein Gehilfe zu, »fahren wir. Der Gestank greift mein Gehirn an, und bald werde ich sicher schwachsinnig.«

»So, wirst du?« scherzte der andere. »Du bist schon jetzt kein großes Licht. Obwohl immer Hoffnung auf ein Wunder besteht. Ich werde dich in meine Gebete einschließen.«

Sie kletterten wieder auf den Bock und ließen die Zügel leicht auf die Rücken der Pferde knallen. Wiehernd protestierten die Pferde, setzten sich in Bewegung und steuerten den Totenanger an; Kates Mutter trugen sie als letzten Passagier mit sich.

Sie folgten dem gleichen Weg wie Adele und Alejandro zuvor und erreichten bald das offene Feld, in dessen Nähe Adele und Alejandro Mutter Sarah besucht hatten; noch immer standen die Eichen Wache, doch nun waren ihre Schatten lang und gerade. Während die Pferde den quietschenden Karren über die Ebene zogen, gruben sich die Räder in den frisch gepflügten Boden, und die leblosen Fahrgäste stießen ziemlich unsanft aneinander, doch die Fuhrleute achteten nicht darauf; sie wußten, es würde sich niemand beschweren. Bei der holprigen Fahrt lösten sich die Laken, die den Körper der Lady bedeckten, und da die Leichenstarre noch nicht eingesetzt hatte, fiel ihr Arm aus der Umhüllung. In der Hand hatte sie das Taschentuch, das den letzten Kuß ihres Kindes an ihre Lippen geführt hatte.

Ein paar Meter weiter kam das Fuhrwerk neben einer flachen Grube, die am Nachmittag hastig aus dem torfigen Boden ausgehoben worden war, knirschend zum Stehen. Die Fuhrleute, deren Glieder von der Arbeit des Aushebens noch schmerzten, stiegen langsam vom hohen Kutschbock des Fahrwerks und machten sich an die gräßliche Aufgabe, die Leichen nebeneinander in das offene Grab zu legen. Wenn die Grube voll war, würde man einen Priester rufen, falls man einen fand, und der würde den Toten dann en masse ihre Sünden vergeben. Danach würde, was von der Grube noch übrig war, wieder mit Torf aufgeschüttet und der Boden so gut wie möglich geglättet werden.

»Hoffen wir, daß die Hunde die hier nicht auch wieder ausgraben«, sagte einer der Männer, und sie kehrten zum Karren zurück, bereit, erneut in die Außenbezirke Londons zu fahren und ihre nächste Fuhre aufzunehmen.

Mutter Sarah sammelte ihre seltsame Ausrüstung aus Heilmitteln und Talismanen zusammen und verstaute sie in ihrer zerlumpten Tasche. Sie warf sich einen roten Schal um die Schulter, nahm ihren Gehstock und wandte sich der Tür zu. Doch ehe sie hinausging, drehte sie sich noch einmal nach Alejandro um und warnte ihn zum letzten Mal: »Arzt, denkt daran, vorbereitet zu sein. Ihr müßt immer mit dem Unerwarteten rechnen.«

Als sie an diesem Abend zu Adeles Gut zurückkehrten, eilte ihnen der Stallbursche entgegen, um die Pferde zu versorgen, und das durchnäßte Trio eilte rasch die steinernen Stufen zum Gutshaus hinauf. Die Kaminfeuer, die der Verwalter zeitig angezündet hatte, hatten das Haus erwärmt und die feuchte Kühle im Inneren vertrieben; trotzdem zitterte Alejandro, als er seinen tropfenden Umhang ablegte. Er konnte das Beben kaum beherrschen und eilte zum Feuer, um sich zu wärmen. Kate folgte dicht hinter ihm und hielt die kleinen Hände nahe an die Flammen, um die willkommene Wärme zu genießen, während sich unter dem Saum ihres dünnen Überwurfs kleine Wasserpfützen sammelten.

Plötzlich nieste sie dreimal rasch hintereinander.

»Kind?« sagte Alejandro beunruhigt. »Was fehlt euch?«

Sie schniefte und sagte: »Mir ist kalt, ich bin müde vom Ritt, und mein Magen verlangt nach Essen.«

Erleichtert über ihre prompte Erklärung, ent- spannte Alejandro sich wieder. »Nun, ich bin froh, daß Ihr nur drei Beschwerden habt. Mit viel Glück sind alle drei heilbar.« Er nahm ihre Hand, und zusammen machten sie sich auf die Suche nach Adele; sie fanden sie in der Küche, wo sie der Haushälterin Anweisungen gab.

»Es scheint, daß unsere kleine Gefährtin friert, müde und hungrig ist, und ich habe ihr kühn Abhilfe gegen alle drei Übel versprochen. Könnte man vielleicht ein Nachthemd und ein Abendessen beschaffen?«

Adele nickte. »Kümmert Euch um das Kind«, sagte sie zu der Haushälterin. »Wir sprechen später weiter.«

Die Haushälterin führte Kate mit den Worten davon: »Zuerst werden wir Euch trocknen und wärmen, und dann kommen wir zum Essen zurück.«

In einem sauberen Nachtgewand, das Adele als kleines Mädchen getragen hatte, kam Kate zurück. Nach einem Abendessen aus Suppe und warmem, knusprigem Brot führte Adele Kate in ihr früheres Zimmer, legte sie in das saubere Bett, deckte sie warm zu und sang ihr leise vor, bis sie eingeschlafen war. Als sie zum Tisch zurückkehrte, war er abgeräumt und leer.

Sie fand Alejandro im Salon, wo ein flackerndes Feuer im riesigen Kamin tanzende Schatten an die Wände warf.

»Sollen wir etwas Wein trinken«, sagte sie, »damit uns von innen wieder warm wird?«

»Ich fürchte, ich werde mich nie wieder warm oder trocken fühlen«, sagte er.

»Ich glaube, das ist der Fluch unserer schönen Insel«, sagte Adele und schenkte den Wein ein. »Ich bin nie in dein Land gereist, aber wie ich hörte, ist es dort warm, sogar im Winter.«

Während sie die klare, dunkle Flüssigkeit eingoß, fiel das Licht des Feuers auf den Rubin des goldenen Kreuzes auf ihrer Brust und ließ ihn funkeln. Es hatte fast die gleiche Farbe wie der Wein; der rote Blitz erregte Alejandros Aufmerksamkeit, und der Vergleich gefiel ihm.

Als sie vor dem Feuer saßen, schrieb Alejandro sorgfältig die Rituale auf, die Mutter Sarah bei Kates Mutter vollzogen hatte; Adele half ihm dabei, sich an alle Worte und Handlungen zu erinnern. Als alles niedergeschrieben war, machte Alejandro eine Zeichnung von der alten Frau. Er schrieb »Mutter Sarah« auf die Seite und zeigte sie Adele.

»Es ist ziemlich ähnlich«, sagte sie. »Ich glaube, es fängt das Wesentliche ein.«

»Das Wesentliche an ihr wird nie ganz zu fassen sein, fürchte ich, aber ich werde es nicht so schnell vergessen.« Er schloß das Buch und legte es weg.

Langsam, während das Feuer seine Haut und der Wein sein Inneres wärmte, spürte Alejandro, daß der Kummer des Tages seinen müden Körper allmählich verließ, und er sank in die Polster zurück und sah zu, wie Adele vor dem Feuer ihre bemerkenswerten Haarstränge kämmte. Er gestattete sich ein paar Augenblicke froher Spekulation darüber, wie sein Leben aussehen könnte, wenn diese Frau seine Frau werden sollte. Er beobachtete, wie sie sich das Haar über die Schultern legte, und merkte, daß sie es tat, um ihm zu gefallen. Sie hatte Erfolg damit, denn das Herz des Arztes schlug so heftig, als wolle es bersten; heute nacht würden sie sich wieder lieben, da war er sicher. Lieber Gott, betete er, laß diese Reise niemals enden.

Adele erhob sich von ihrem Sitz vor dem Feuer und kam zu ihm. Sie setzte sich auf den weichen Teppich zu seinen Füßen und legte den Kopf auf seine Knie. Das dichte rote Haar fiel in großen Wellen in seinen Schoß, und er streichelte es begierig immer wieder; es fühlte sich kühl und weich und unvergleichlich sinnlich an, und er konnte sein Glück nicht fassen.

Sie hob den Kopf von seinen Knien, und er wollte schon dagegen protestieren, doch ehe er etwas sagen konnte, legte sie einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Sprich nicht«, sagte sie, »denn ich möchte deine Lippen mit anderen Dingen beschäftigen.« Dann richtete sie sich auf und schob sich zwischen seine Beine.

Sie zog ihn an sich und preßte ihren weichen Leib an seinen zitternden Körper. Dann schlang sie sanft die Arme um seinen Rücken und drückte ihn fest an sich. Sie küßten sich mit einer Leidenschaft, die keine Zeit kannte. Ihre Lippen berührten sich für eine oder auch für zehn Minuten. Er hätte es nicht sagen können, und wenn sein Leben von der Antwort abhängig gewesen wäre.

Dann legte Adele ihre Hände leicht auf seine Schultern und schob sie über seine Brust abwärts. Er versteifte sich, als ihre Finger sich dem Halsausschnitt seines Hemdes näherten, unter dem die verräterische Narbe lag, und eisige Angst vor Entdeckung erfüllte ihn.

Sprich! ermahnte er sich. Sprich, solange du noch Gelegenheit dazu hast! Adele, vergib mir die Lüge, die ich dir gleich erzählen werde; ich will dich nicht täuschen, sondern nur überleben, um deine Liebe zu kosten, dachte er im stillen. Er faßte sanft nach ihren Handgelenken, zog ihre Hände nach unten und hielt sie liebevoll umklammert. Sie sah ihn fragend an, weil er ihrer zärtlichen Erkundung ein Ende gemacht hatte.

»Adele«, sagte er vorsichtig, »ich bin durch eine Narbe entstellt, und ich möchte nicht, daß ihre Häßlichkeit dich erschreckt.«

Sie wich ein wenig zurück und sagte besorgt: »Was ist das für eine Narbe, von der du sprichst?«

Er öffnete einen Knopf am Kragen seines Hemdes und zog den Stoff leicht auseinander. So konnte Adele nur einen kleinen Teil der runden Wunde sehen, die nun rosa und gut verheilt war. Sie sog die Luft ein. »Oh, Lieber, wie ist das passiert?«

Er war des Lügens müde, aber er wußte, daß er keine andere Wahl hatte; die Wahrheit würde all seinen Freuden und Hoffnungen ein Ende machen. »Auf meiner Reise von Spanien nach Avignon gab es ein Scharmützel. Ich schäme mich des Ausgangs, und ich möchte nicht weiter darüber sprechen. Ich bitte dich, versteh meine Zurückhaltung. Ich habe dir dies vorenthalten, weil ich die Narbe selbst abstoßend finde, und ich glaubte, sie würde auch dir mißfallen. Und ich wollte dich nicht erschrecken.« Er schlug die Augen nieder und fuhr fort: »Ich bin vor dir erniedrigt. Bitte verzeih mir die Täuschung.«

Zu seiner unermeßlichen Erleichterung sagte sie: »Du hast diese Narbe nicht freiwillig. Wir werden nicht mehr darüber sprechen, denn für mich ist sie nicht von Bedeutung.«

In ihrem Bett sprachen sie leise über die süßen Dinge, die neuen Liebenden kostbar sind; beide erröteten, ohne daß es in dem dunklen Raum zu sehen war, und entdeckten kleine, köstliche, lustvolle Überraschungen aneinander. Ihre einfache Vereinigung verband nicht zwei Königreiche, sondern nur zwei Menschen, die sich diese Vereinigung von Herzen wünschten.

Alejandro war so an seine Träume über Carlos Alderon gewöhnt, daß ein Schlaf ohne sie für ihn ganz ungewöhnlich war, und als er kurz vor der Morgendämmerung eine kleine, warme Hand an seiner Wange spürte, dachte er, sie gehöre zu einem weiteren Traum. Doch die Berührung hielt an, und schließlich öffnete er die Augen. Er sah, daß Kate an seinem Bett stand.

»Mein Hals tut weh«, stöhnte sie und berührte leicht ihre Kehle. Er sah sie genauer an und erkannte zu seinem Entsetzen den Beginn eines dunklen Flecks unter ihrem Kinn.

Voller Panik fing er an, sich aus dem Laken zu schälen, bis ihm einfiel, daß er darunter bis auf ein leichtes Hemd nackt war. Er sagte zu dem Kind: »Kate, Ihr müßt jetzt genau das tun, was ich Euch sage. Kehrt in Euer Bett zurück, und ich komme zu Euch, sobald ich ordentlich angezogen bin. Berührt auf dem Rückweg in Adeles Zimmer nichts, und sprecht auch mit niemandem von der Dienerschaft. Atmet flach und versucht, nicht zu husten, falls Euch der Drang dazu überkommt.«

Sie nickte, einen entsetzten Ausdruck in den Augen, und verließ mit leisem Tapsen ihrer bloßen Füße das dämmrige Zimmer. Alejandro schaute hinüber zu Adeles schlafender Gestalt und beschloß, ihre Ruhe nicht zu stören, ehe er nicht Kates Beschwerden genauer untersucht hatte. Nachdem er seine Beinkleider angezogen hatte, suchte er in der Satteltasche nach den Gaben von Mutter Sarah und ging in die Küche, um eine Tasse und einen Löffel zu holen.

Als er Adeles früheres Zimmer betrat, war er schockiert, wie winzig Kate in dem riesigen Bett wirkte. Die Vorhänge des Baldachins waren ganz aufgezogen; er schloß sie auf einer Seite und am Fußende des Bettes und ließ nur die Seite offen, die der Tür des Schlafgemachs zugewandt war.

»Jetzt laßt mich Euren Hals untersuchen, kleine Lady«, sagte er. »Ich werde das Oberteil Eures Nachtgewandes öffnen, aber fürchtet nicht um Eure Keuschheit. Im Augenblick interessiert mich nur Euer Hals.«

Sanft berührte er den dunklen Bereich unter ihrem Kinn. »Verursacht es Euch Schmerzen, und seien sie noch so gering, wenn ich Euch da anfasse?«

Sie zuckte zusammen, und er zog seine Hand weg. »Es tut da weh, und im Arm tut es auch weh.«

Er hob mit einer Hand ihren Arm hoch und tastete mit der anderen den Bereich darunter ab. Ihm sank das Herz, als seine Finger den Beginn einer Schwellung spürten.

Verflucht sei alles, was geht, fliegt, schwimmt oder gleitet, dachte er zornig. Verflucht sei alles, was heilig ist! Er hörte das leise Rascheln von Stoff hinter sich, und als er sich umsah, erblickte er in der Tür Adeles Silhouette.

»Bleibt liegen, Kind, ich komme gleich zurück.« Er zog den seitlichen Vorhang des Baldachins zu, verließ das Zimmer, nahm Adele beim Ellbogen und zog sie mit sich.

Mit angstvollem Blick sagte sie zu ihm: »Ich sehe dir an, daß du keine guten Nachrichten hast.«

Er bestätigte ihren Verdacht mit einem Nicken, und sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und weinte. Als er sie tröstete, sah sie unter Tränen zu ihm auf und sagte: »Ich kann es nicht ertragen, sie sterben zu sehen.«

»Ich auch nicht, meine Liebste, aber diesmal bin ich nicht hilflos. Wir haben wenigstens einige Mittel, mit denen wir versuchen können, sie zu retten.«

»Die Medizin!« rief Adele. »Wo ist sie? Ich werde sie holen!«

»Sie ist schon im Zimmer, auf dem Tisch neben dem Bett.«

»Dann laß uns keine Minute vergeuden und sie sofort behandeln.«