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Kate stand auf der Lichtung und bürstete das Pferd, während Alejandro in der Hütte seinen verschwitzten Körper reinigte. Er zog all seine unbrauchbar gewordenen Kleider aus, ließ sie in einem Häufchen auf den Boden fallen und wusch sich dann im Becken, und als er fertig war, fühlte er sich erfrischt, gereinigt, geläutert von der Pest, der er fast zum Opfer gefallen wäre. Er zog saubere Kleider an, die er in seine Satteltasche gepackt hatte, ehe er nach Canterbury aufbrach, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und putzte seine Zähne mit dem ausgefransten Ende eines grünen Zweigs.

Trotz seiner Schwäche hatte er entschieden, daß sie nicht lange an einem Ort bleiben konnten und Mutter Sarahs Hütte so bald wie möglich verlassen sollten, denn zweifellos würde der König Männer ausschicken, um sie zu suchen. Als er sich an den Tisch setzte und überlegte, was sie mitnehmen sollten, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine kleine Bewegung. Er schaute genauer hin und sah den Schwanz einer Ratte in dem Kleiderbündel ver- schwinden, das er in der Nähe des Kamins abgelegt hatte. Rasch stand er auf und versuchte, das häßliche Tier zu verscheuchen, doch es blieb in dem Bündel versteckt, bis er mit dem schweren Ende eines in der Nähe stehenden Besens darauf einschlug. Zwitschernd wie ein Vogel, huschte die Ratte davon und verschwand durch eine Ritze in der steinernen Wand.

Was soll ich tun? Wenn seine Vermutung über die Ratten stimmte, dann wären diese Kleider jetzt imstande, die Pest in den Körper jedes ahnungslosen Narren zu tragen, der sie vielleicht fand und anzog. Er würde die Sachen verbrennen müssen, ehe er diesen Ort verließ, denn es gab zahllose verarmte Menschen, die bedenkenlos alles tragen würden, was vielleicht noch einen Tag lang hielt.

Mit dem Ende des Besens schob er das Häufchen Kleidungsstücke in den Kamin. Obenauf legte er ein Reisigbündel und eine Handvoll trockener Blätter. Während er damit beschäftigt war, kam Kate durch die niedrige Tür.

»Was macht Ihr da?« fragte sie.

»Ich verbrenne die Kleider, die ich getragen habe, als ich krank war. Ich habe eine Ratte in dem Stapel gesehen, und ich fürchte, daß jeder, der zufällig hierherkommt und die Kleider trägt, ebenso erkranken wird wie ich. Ich bin überzeugt, daß die Ratten das Mittel sind, mit dem diese Seuche sich durch das Land bewegt. Verbrennen reinigt«, sagte er zu ihr. »Ich möchte es nicht auf mein Gewissen nehmen, diese Dinge zurückzulassen.«

Um auch an diesem wichtigen Ritual teilzuhaben, fragte Kate: »Bitte, Doktor, darf ich das Feuer anzünden?«

»Wenn es Euch Freude macht, Kind«, antwortete er und reichte ihr den dunklen Feuerstein.

Sie hob einen zweiten Stein auf und wollte die beiden gerade aneinanderschlagen, als die Hufschläge eines herannahenden Pferdes sie den Kopf wenden ließ. Beunruhigt sahen sie und der Arzt sich an. Kate ließ die Steine fallen, und sie und Alejandro eilten zur Tür. Alejandro, sein Messer in der Hand, schob sie sanft hinter sich, als er hinausspähte.

Über die Lichtung nahte eine plumpe Frau in zerrissenen Kleidern, die unsicher auf einem für sie zu kleinen Pferd schwankte. Ihre Haube war auf eine Seite gerutscht, ihr Gesicht mit Schmutz verschmiert. Kate spähte hinter Alejandros Bein hervor und rief: »Das ist die Dienstmagd meiner Mutter!«

Alejandro zwinkerte im Sonnenlicht. »Tatsächlich, sie ist es! Warum in aller Welt kommt sie hierher?« fragte er. Ob ihr jemand folgt? dachte er. Er steckte das Messer wieder in seinen Stiefel und lief hinaus, um ihr zu helfen, denn sie war eindeutig in Schwierigkeiten.

»Gott im Himmel, Frau«, rief er. »Was habt Ihr?«

Als sie vom Pferd rutschte und unsicher auf wehen Füßen in zu engen Schuhen landete, sagte die Magd gereizt: »Ich habe mein Kleid verdorben! Als ich den Weg einschlug, hat der Wind mich förmlich vom Pferd geblasen, und ich bin auf meinem Hinterteil gelandet. Wie gut, daß ich ordentlich gepolstert bin!« Sie bürstete sich Blätter und Eicheln vom Saum des Kleides und richtete sich auf.

»Aber genug von mir! Ich bin gekommen, um Mutter Sarah zu suchen, aber Ihr werdet den Nutzen davon haben. Der König, Gott verfluche ihn, hat Reiter ausgeschickt, um Euch zu finden. Ich habe sie vor nicht ganz einer Stunde getroffen, und ich habe sie in die Irre geschickt, wenn es den Heiligen gefällt! Am besten verschwindet Ihr von hier, und das Kind auch. Sie werden nicht lange brauchen, um Euch zu finden.«

Er schickte die Dienstmagd sofort wieder weg, denn er wollte nicht, daß sie bei ihnen angetroffen würde, falls man sie tatsächlich bald finden sollte. Und das war gut so, denn kaum war ihre auf und nieder hüpfende Gestalt endlich außer Sicht, als man in der Ferne schwaches Hundegebell hörte.

Hektisch raffte Alejandro alles zusammen, was zur Hand war und ihnen vielleicht auf der Reise nützlich sein würde, und stopfte es in seine Satteltasche. Als er zur Tür hinausging, drehte er sich noch einmal um, weil er das Gefühl hatte, etwas zu vergessen. Als er die Kleider im Kamin sah, legte er die Tasche ab und nahm den Feuerstein, um die Sachen wie geplant zu verbrennen.

Doch bevor er die Steine aneinanderschlagen konnte, sagte Kate: »Und was ist mit dem Rauch? Wenn sie ihn aufsteigen sehen, finden sie uns!«

Alejandro hielt inne; ihm wurde klar, daß selbst ein kleines Feuer ihren Aufenthalt verraten und man sie schnell entdecken würde. Er dachte daran, die Sachen im Kamin zurückzulassen, ohne sie zu verbrennen; während er noch unentschieden war, spukten ihm die Gespenster von Alderon, Matthews und Adele durch den Kopf.

Nein! Seine Gedanken rasten. Ich will nicht für noch einen Tod verantwortlich sein. Er griff in den Kamin und nahm die Kleider an sich.

Er rannte nach draußen und schnallte die Satteltasche auf den Rücken des Pferdes. Dann hob er Kate hoch, setzte sie vor sich und stopfte die Kleider zwischen ihren Rücken und seinen Bauch. Sie ritten in raschem Tempo den Weg zur Wiese hinunter, und Kate rief: »Jetzt sind sie lauter! Oh, beeilt Euch!«

Das Pferd war ausgeruht und reagierte prompt auf Alejandros nicht sehr sanftes Antreiben. Als sie zwischen den knorrigen Eichen hindurch die milde Luft der Lichtung verließen und die Kälte des Feldes erreichten, protestierte das Tier nicht. Beim Überqueren des Feldes erkannte Alejandro, daß es noch mehr Gräber enthielt als erst vor ein paar Tagen. Noch mehr Tote, dachte er. Wird das nie aufhören? Seine keimversuchten Kleider lagen zwischen ihm und Kate, eine schwere Bürde, aber er würde sie nicht zurücklassen, um noch mehr Menschen umzubringen.

Jetzt ritten sie über das Feld, und er sah die frisch aufgeschüttete Erde. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte.

Abrupt hielt er das Pferd an und sprang von dem verwirrten Tier. Kate rief: »Beeilt Euch! Sie kommen immer näher!«

Er hörte Hundegebell, Hörnerklang und das Klirren von Rüstungen, dann die hastigen Rufe von Männern, die entschlossen eine Beute verfolgten. Er wußte, Kate und er waren das Ziel ihrer grausamen Jagd. Er grub die Hände in die lockere Erde, schaufelte sie mit mehr Kraft und Energie zur Seite, als er eigentlich hatte ... Ach, dachte er flüchtig, während er hektisch grub, jetzt wäre Carlos Alde- rons Schaufel nützlich! Als das kleine Loch endlich tief genug war, legte er die Kleider hinein und bedeckte sie rasch mit der losen Erde. Dann trat er die Erde fest, klopfte sich die Hände ab und stieg wieder auf sein Pferd.

Kate kreischte auf und zeigte in die Richtung, in die sie ritten. Alejandro sah Soldaten aus dem Wald auf die Lichtung treten, also wendete er sein Pferd, und sie rasten zurück zu den Eichen. Als sie zwischen den Bäumen hindurchritten, erhob sich kein Wind, um sie abzuwehren, doch als er sich umdrehte, sah er, wie sich Zweige und Stöcke zu einem wirbelnden Mahlstrom in die Luft erhoben; er hielt das Pferd einen Augenblick an und beobachtete, wie der Wind zum tobenden Sturm anwuchs. Als die Hunde sich den Eichen näherten, verlangsamten sie ihren Lauf und umkreisten sie jaulend. Auch die Soldaten hielten inne, und ihre Pferde bäumten sich auf, erschrocken über den plötzlichen Sturm.

Lautlos segnete Alejandro den Wind und lenkte sein Pferd wieder auf den Weg. Diesmal hielten sie nicht inne, sondern ritten geradewegs durch die Lichtung und in den Wald auf der anderen Seite. Sie setzten ihren Weg fort, bis sie sicher waren, daß sie ihre Verfolger endgültig abgeschüttelt hatten.

In dieser Nacht schliefen sie unter den Sternen auf einem Grasfleck auf einem hohen Abhang an der Küste Englands. Jenseits des Kanals lag Frankreich. Als sie am Morgen über das Wasser schauten, konnten sie es kaum erkennen, doch Alejandro spürte, daß es ihm zuwinkte wie eine Heimat, sicher und freundlich.

Der Schlaf hatte ihm neue Kraft gegeben, und so packte Alejandro ihre wenigen Habseligkeiten. Als er die Satteltasche schloß, kam sie ihm leerer vor, als sie sein sollte. Er musterte noch einmal ihren Inhalt und erkannte bestürzt, daß tatsächlich etwas fehlte.

Er hatte sein Weisheitsbuch in der steinernen Hütte zurückgelassen. Er konnte nicht umkehren, um es zu holen.

Der Gedanke, daß er diesen Teil seines Lebens verloren hatte, machte ihn traurig. Während er sein Pferd bestieg und Kate vor sich in den Sattel hob, hoffte er, wer immer es fände, möge den bestmöglichen Gebrauch davon machen. Er lenkte das Pferd nach Dover, wo sie das Wasser überqueren würden.

Und dort, endlich, würde ihr neues Leben beginnen.