29
Bei Alejandros wildem Ritt übers Land konnten andere Reisende, die das Pech hatten, ihm im Weg zu sein, nur schnell zur Seite springen. Er peitschte sein Pferd gnadenlos und legte die Strecke, die sonst einen halben Tag dauerte, in nur drei Stunden zurück; bald näherte er sich den knorrig gebogenen Eichen jenseits der großen Wiese. Sein schweißnasses Pferd schnaubte unwillig, aber Alejandro ging es nur darum, daß das Tier den Weg beendete. Laut schrie er ihm zu: »Wenn du zu nichts mehr nütze bist, finde ich leicht ein anderes Pferd, aber keine andere Adele.«
Er trieb das Pferd zwischen den ehrwürdigen Bäumen hindurch und folgte dem Pfad zur Lichtung. Dort sprang er ab, rannte zur Vorderseite der Hütte und blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte auf das vertrocknete Bett dessen, was bei seinem vorigen Besuch eine munter sprudelnde Quelle gewesen war; er sah nur Matsch und Schlamm, der zwar den unangenehmen Schwefelgeruch hatte, aber die trübe Flüssigkeit, die er zuvor gesehen hatte, war nicht mehr da. Er rannte zum Pferd zurück, nahm sein Buch aus der Satteltasche und begann, die Seiten durchzublättern, verzweifelt auf der Suche nach einer Anleitung, wie Adele zu heilen wäre.
Er hörte die alte Frau, bevor er sie sah. Ihre Schritte waren zwar leicht, aber auf den Steinen hinter ihm doch klar auszumachen.
Er wandte sich nach ihr um, und sie lächelte ihn an. »Muß ich noch einmal Eure Hand führen, Arzt?«
Der rote Schal bedeckte noch immer ihre Schultern, selbst an diesem warmen Tag, und kennzeichnete sie unmißverständlich als die Person, die er zuvor nicht hatte finden können.
»Wie kommt es«, fragte er hektisch, »daß Ihr noch vor so kurzer Zeit in London wart und jetzt hier seid? Jemand, der so langsam reist, wie das bei Euch sicher der Fall ist, kann das doch eigentlich gar nicht schaffen.«
»Habt Ihr Zeit für solch müßiges Geschwätz, oder sollen wir uns um die dringende Angelegenheit kümmern, die Euch in solcher Hast zu mir geführt hat?«
Sie drehte sich um und ging in die Hütte. Nach kurzer Zeit kam sie mit einer Flasche der milchiggelben Flüssigkeit zurück, die sie Alejandro reichte.
Er legte sein Buch nieder und nahm sie. »Und was ist mit dem Staub der Toten?«
»Davon habe ich nur eine kleine Menge für Euch. Ich war dabei, mehr zu bereiten, als Ihr gekommen seid, und kann es Euch morgen geben.« Sie reichte ihm einen kleinen Beutel, den er rasch öffnete. Als er die geringe Menge Pulver darin sah, schaute er Mutter Sarah ungläubig an.
»Was? So wenig? Wie soll ich da meine Geliebte retten?«
In der Stimme der alten Frau lag große Traurigkeit. »Ich kann nicht sagen, ob es Euch gelingen wird. Verschwendet keinen Tropfen von dem Heilmittel; sorgt dafür, daß sie nicht das winzigste bißchen wieder von sich gibt, denn ihr Körper muß die ganze Medizin aufnehmen.«
Ihm schwante Unheil, und er dachte: Das wird fehlschlagen. Er schwankte plötzlich unter der Last dieser Erkenntnis. Mutter Sarah streckte den Arm aus und legte eine Hand auf seinen Arm, und obwohl sie ihn nicht hätte halten können, schien ihre Berührung ihn zu stützen; er gewann sein Gleichgewicht wieder.
Ihre Worte waren so sanft wie ihre Berührung, und sie gaben ihm Kraft. Die strenge Lehrmeisterin, die sie zuvor gewesen war, war nun verschwunden; an ihre Stelle war eine freundliche Großmutter getreten. »Ihr habt die Kraft, das zu tun, was getan werden muß; Eure Kraft wird Euch nicht verlassen, wenn Ihr sie wirklich braucht. Aber ich möchte
Euch nochmals sagen, Ihr müßt Euch auf das vorbereiten, was Ihr nicht gleich begreifen könnt. Die Dinge verlaufen selten so, wie wir uns das denken. Ich flehe Euch an, tut das nicht allein; Ihr werdet Hilfe brauchen, um dieses Leben zu retten.«
Er musterte die beiden Gegenstände, die er in Händen hielt; sie stellten seine einzige Hoffnung dar, die Frau, die er liebte, zu heilen. Dann sah er Sarah an und fragte: »Werde ich bei dieser Aufgabe Erfolg haben?«
Wie kann ich ihm von meiner eigenen Unsicherheit erzählen? fragte sie sich. Wird die Medizin weniger wirksam sein, wenn sein Glaube sie nicht unterstützt? Sie senkte den Blick, da sie ihn nicht ansehen wollte, während sie etwas aussprach, das möglicherweise nicht die Wahrheit war. »Ich glaube, ein Leben wird gerettet werden. Und jetzt geht und wirkt Euren eigenen Zauber. Ich kann Euch nicht mehr helfen.«
Als er fortritt, sah sie, daß er das Buch auf dem Boden zu ihren Füßen vergessen hatte, wo er es hingelegt hatte, und fragte sich, ob sie ihm folgen sollte, um es ihm zurückzugeben.
Es macht nichts, dachte sie; er würde auch ohne das Buch Erfolg oder Mißerfolg haben. Sie nahm es auf und trug es in ihre Hütte, wo sie sich ansah, was er geschrieben hatte. Sie entschied, daß es am besten sei, das Buch bei sich zu behalten.
Als Alejandro am späten Abend ins Schloß zurückkehrte, waren nur noch wenige Menschen zu sehen. Eine Wache stand vor Isabellas Gemächern, und als der Arzt kam, bekam er von dem Posten einen Schlüssel; danach zog dieser sich hastig zurück. Er wollte mit keinem der Probleme, die hinter der Tür liegen mochten, etwas zu tun haben.
Alejandro betrat das Vorzimmer und fand es verlassen; er erinnerte sich, daß der König zu Ehren der Ankunft des neuen Bischofs ein Bankett gab, und er nahm an, daß der gesamte Hofstaat daran teilnahm. Wie er selbst es hätte tun sollen, mit Adele an seiner Seite. Um so besser, dachte er. Ich werde meine Arbeit ungestört tun.
Als er den Schlüssel benutzte, um das Schlafgemach zu betreten, eilten Kate und die Nurse ihm entgegen. Während er die Gegenstände zurechtlegte, die er brauchte, erzählte ihm die Nurse von der Lüge, die sie, an der Tür lauschend, Isabella hatte aussprechen hören.
»Was ist mit Adele?« fragte er ängstlich.
»Sie stöhnt und schlägt mit den Armen um sich, aber sie spricht nicht. Sie blutet aus dem Schoß, und ich fürchte, daß sie ihre Leibesfrucht verliert.«
Der Schmerz des Verlusts durchbohrte Alejandros Herz, wie die Pfeile vor so langer Zeit in Windsor Matthews den Tod gebracht hatten. Er konnte kaum sprechen, so sehr zitterte seine Stimme. »Nehmt dieses Fläschchen und den Inhalt dieses Beutels und vermischt sie in einem geeigneten Gefäß.« Er reichte ihr die Gegenstände und fügte hinzu: »Gebt acht, daß Ihr auch nicht das kleinste bißchen verschüttet. Ich fürchte, wir haben nicht genug davon; ich kann nicht einmal sicher sein, daß wir es im richtigen Verhältnis mischen können!«
Kurze Zeit später kam die Nurse mit einer Schale zurück, in der sich ein gelblicher Brei befand, und rümpfte die Nase über den faulen Geruch, der davon aufstieg.
Alejandro wischte Adele sanft die Stirn mit einem Tuch ab; dann nahm er die Schale, die die Nurse ihm reichte. Er betrachtete das unappetitliche Gemisch, das er nun in Adeles Mund zu zwingen versuchen mußte, und der Gedanke entsetzte ihn. Er beugte sich dicht über seine kranke Geliebte und flüsterte ihr ins Ohr: »Wenn es dir wieder gutgeht, meine Liebste, werden wir die köstlichsten Delikatessen speisen, und du wirst dieses gräßliche Gemisch vergessen. Aber jetzt mußt du es nehmen, also bitte, bitte ... behalte es bei dir.«
Er wandte sich an die Nurse und sagte: »Jetzt müßt Ihr mir helfen. Ich werde Ihr die Medizin in den Mund geben, und Ihr müßt ihn zuhalten. Ganz gleich, was sie tut, sie darf den Mund nicht aufmachen. Kein Tropfen darf vergeudet werden.«
Die Nurse nickte nervös, und ihr Gesicht war ängstlich.
»Seid Ihr bereit?« fragte er.
Sie nickte, und er schob einen Löffel mit der scheußlichen Flüssigkeit auf Adeles Zunge. Zusammen hielten sie ihr Mund und Nase zu; Adele wehrte sich mit überraschender Kraft. Die alte Nurse war ihrer Jugend nicht gewachsen, nicht einmal in diesem geschwächten Zustand, und wurde bald beiseite geschleudert. Kaum hatte sie Ade- les Mund losgelassen, spie Adele die widerliche Medizin auf die Bettdecke, und nur ein paar Brö- ckelchen blieben auf ihrer Zunge zurück. Gelbliche Speicheltröpfchen rannen aus ihrem Mundwinkel und beschmutzten das weiße Leinen ihres Hemdes.
»Wir werden es noch einmal versuchen«, sagte Alejandro.
Diesmal gelang es ihnen, Adele eine kleine Menge schlucken zu lassen, aber keine Minute später erbrach sie alles wieder auf die Decke. Verzweifelt riß Alejandro die Decke von ihr und warf sie zur Seite. Adeles dünnes Hemd war schweißnaß und ließ die zarten Kurven ihres zierlichen Körpers erkennen. Er dachte an die letzte Gelegenheit, bei der er sie so entblößt gesehen hatte; vielleicht haben wir da das Kind gezeugt, dachte er mit wehem Herzen.
Immer wieder versuchte er, den heilenden Brei in ihren Mund zu zwingen, und jedesmal widersetzte sie sich heftig. Jeden Löffel des Gemischs, den er ihr in den Mund schob, gab sie wieder von sich, sobald er seine Hand von ihren Lippen nahm.
Er ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett fallen, besiegt und hoffnungslos. Er saß an ihrer Seite, wartete ohnmächtig und hoffte gegen alle Vernunft, daß sie irgendwie überleben würde. Er hielt eine ihrer Hände in seinen und spürte die brennende Hitze ihres Fleisches; mit der schieren Macht seiner Liebe zu ihr versuchte er, sie ins Leben zurückzuzwingen.
Der Mond war längst aufgegangen, als Adele endlich ihren letzten Atemzug tat und still auf dem Bett lag. Die Qual ihres Leidens war der Ruhe des Todes gewichen. Lange Zeit saß Alejandro bei ihr, Kate in den Armen, wieder einmal ein einsamer Mann mit gebrochenem Herzen.