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Es dauerte eine Woche, ehe Caroline in Bruces Wohnung das Bett verlassen konnte. In dieser Zeit, in der ihre angegriffene Patientin kaum mehr tun konnte als schlafen, hüllte Janie Carolines Hände und Füße in Plastikbeutel mit Maden, die sie aus einer Mülltonne in der Nachbarschaft geholt hatte. Nach einigen Tagen nahm sie die Tüten ab, und Schwärme von Fliegen erhoben sich in die Luft; sie hatten ihre Metamorphose mit Carolines infiziertem Fleisch genährt, denn diese Reinigung war ihre natürliche Aufgabe. Dann benutzte Janie ihre Fähigkeiten als Chirurgin und reparierte das, was übrig war. Mit Hilfe von Rasierklingen, Nähnadeln, Zahnseide und Pinzette wirkte sie Wunder an Carolines beinahe zerstörten Gliedmaßen; bis auf eine Zehenspitze konnte sie alles retten.
Bruce wurde über den Vorfall im Labor vernommen, aber weil er beweisen konnte, daß er zum endlich festgestellten Zeitpunkt von Teds Tod in Leeds gewesen war, wurde seine eigentliche Verwicklung nie aufgedeckt. Der Aufsichtsrat des Instituts bat ihn, Teds Stelle zu übernehmen, bis ein Nachfolger gefunden sei, doch er lehnte das ab; er erklärte, er wolle seine aktive Arbeit auch nicht zeitweilig für eine Verwaltungstätigkeit aufgeben. Der Aufsichtsrat, enttäuscht über Bruces Weigerung, holte widerstrebend einen Berater von außerhalb, der das Institut ebenso reibungslos leiten würde wie Ted.
Sowohl Janie als auch Bruce waren erstaunt, wie gut und schnell Carolines Genesung voranging, wenn man bedachte, daß sie dem Tod so nahe gewesen war; sie kamen überein, daß eine kurze Erholungspause genügen würde. Janie schob ihre Rückreise um eine Woche auf, und zu dritt fuhren sie in ein Hotel im Seebad Brighton. Die reine Meeresluft dort wirkte ihre eigenen Wunder, und bald waren Carolines Lungen wieder in Ordnung, und sie begann auf ihren beschädigten Füßen zu gehen. Janie gewann allmählich die Hoffnung, sie könne wieder ganz zu der Person werden, die sie einst gewesen war.
Doch im innersten Herzen wußte sie, daß ein Teil von Caroline in dieser Hütte gestorben war, irgendein kleiner, aber lebenswichtiger Teil ihres eigentlichen Wesens. Manchmal erhaschte Janie einen Ausdruck undefinierbarer Trauer auf Carolines Gesicht, als vermisse sie irgend etwas schrecklich.
Michael Rosow verbrachte die Zeit von Carolines heimlicher Rekonvaleszenz mit Razzien unter Marginalen, mit der Überprüfung von Zollberichten und Flugreservierungen. Nach soliden, gründlichen und oft frustrierenden Ermittlungen hatte er die Identität der mysteriösen Rothaarigen schließlich auf nur drei Möglichkeiten eingegrenzt. Die erste hatte er bereits überprüft, und sie hatte sich als Sackgasse erwiesen. Als er die zweite kontrollierte, hatte er entdeckt, daß das Paßfoto in seinem Computersystem um etliche Jahre und ein paar Dutzend Pfunde überholt war.
Doch die dritte, noch ungeprintete Kandidatin war in dem Hotel, das sie als zeitweiligen Wohnort in London angegeben hatte, nicht zu finden. Der Portier erinnerte sich, sie seit etlichen Tagen nicht mehr gesehen zu haben, und ihre Begleiterin hatte sie beide abgemeldet, angeblich wegen unvorhergesehener Reisepläne, die sich aber in keinerlei Computeraufzeichnungen bestätigen ließen. Als ursprünglicher Grund für den Besuch Englands war »wissenschaftliche Forschung« angegeben worden, und ein Wachmann aus dem Institut, dem Fundort der »Phantomhand«, hatte angegeben, sie dort kürzlich gesehen zu haben. Das paßte, es paßte fast zu gut, und er wußte, diesmal würde es klappen. Er brauchte nur festzustellen, welches Flugzeug sie nehmen würde, wenn sie ausreiste, und sie am Flughafen zu erwarten.
Janie zog Caroline den Kragen ihrer Jacke dichter um den Hals und knöpfte sie zu, da sie an die verheilenden Finger ihrer Gefährtin dachte. »Ist Ihnen warm genug?« fragte sie.
»Ja. Aber der Kragen juckt.«
Ihr Gepäck war bereits in der Maschine, wie man ihnen gesagt hatte, natürlich bis auf den Kleidersack, der als Leichenhemd für Ted gedient hatte.
Ein ziemlich hübscher und außerordentlich gut gebauter junger Steward mit einem reizenden Lächeln prüfte ihre Bordkarten und wollte sie gerade durch die Laser-Sicherheitssperre gehen lassen. Sie näherten sich dem Kontrollpunkt, als Janie in einiger Entfernung eine Unruhe hörte.
Sie drehte sich um und sah einen Mann, der sich mit schnellen Schritten näherte. Er hielt einen Ausweis hoch, und die Leute machten ihm sofort Platz.
Janie geriet in Panik; nach allem, was sie durchgemacht hatten, war dies der letzte Schritt ihrer sicheren Rückkehr in die USA. Sie hoffte, daß alles, was Bruce getan hatte, funktionieren würde, hielt den Atem an und führte Caroline durch die Sperre; sie hatte große Angst, das Alarmsignal würde erklingen, wenn ihre Paßnummern sie als ungeprintet zu erkennen gaben. Doch bei Caroline schwieg das Signal. Janie flüsterte ein kurzes Gebet und folgte ihr.
Es gab keinen Alarm. Danke, Ethel ... und Betsy, dachte Janie und ging die Rampe hinunter.
Keine dreißig Sekunden nachdem Caroline und dann Janie die Sperre passiert hatten, kam Rosow dort an. Er hielt seine Biocop-Marke hoch und zeigte dem Steward das inzwischen abgegriffene Bild von Carolines Gesicht. Der erkannte sie und sagte: »Sie ist soeben an Bord gegangen.«
»Wie konnte sie durch die Sperre kommen? Sie ist nicht geprintet.«
Der Angestellte prüfte rasch die Computerliste und schaute zu Rosow auf. »Hier steht, daß sie es ist.«
»Das ist unmöglich«, sagte Rosow. »Ich muß mit ihr sprechen. Bitte holen Sie sie sofort aus der Maschine.«
»Ich fürchte, das kann ich nicht«, sagte der Angestellte. Höflich trat er beiseite, um eine große Frau mit dunklen Haaren wieder hinausgehen zu lassen, und wandte sich dann wieder Rosow zu. »Diese Maschine gilt als amerikanisches Territorium. Ich habe dort keine Befugnisse.« Er grinste hämisch, denn es war ein seltenes Vergnügen, einem englischen Biocop eins auswischen zu können. »Und Sie auch nicht. Sie werden sich eine Ermächtigung der amerikanischen Botschaft beschaffen müssen, wenn Sie an Bord gehen wollen, sofern Sie kein Passagierticket haben oder Mitglied der Besatzung sind.«
Sobald Janie Caroline auf ihrem Platz untergebracht hatte, ging sie zum Gate zurück, um sich umzusehen. Der Mann, den sie hatte herbeilaufen sehen, diskutierte immer noch mit dem Angestellten der Fluglinie und versuchte ihn zu überreden, einen der Passagiere aus der Maschine zu holen. Janie sah auf die Uhr und stellte fest, daß es noch eine halbe Stunde dauern würde, bis die Maschine startete. Sie fragte einen anderen Angestellten, der gerade in keine Diskussion verwickelt war, ob es möglich sei, die Maschine zu verlassen und dann wieder an Bord zu gehen.
»Wenn Ihre Dokumente in Ordnung sind, sollte das kein Problem sein.« Janie zeigte ihm ihre Papiere, und er sagte: »Gehen Sie ruhig. Aber bleiben Sie nicht zu lange aus. Wir schließen das Gate in fünfzehn Minuten und lassen dann alle die Schutzanzüge anziehen.«
Janie, die sich an die knisternden Geräusche auf dem Flug nach England erinnerte, sagte: »Das möchte ich natürlich um keinen Preis versäumen.« Dann drehte sie sich um und ging durch die Sperre, vorbei an dem Angestellten und dem lautstark und beharrlich argumentierenden Michael Rosow. Während sie an ihm vorbeiging, wandte Rosow ihr kurz den Blick zu.
Er war auf diesem Feld, dachte sie, als ihre Augen sich trafen. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß, daß er auf diesem Feld war. Ich frage mich, wie nahe er dran war, uns zu finden . Aber Caroline saß schon in der Maschine, wieder einmal von ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft geschützt. Er konnte ihr nichts mehr anhaben.
Sie schenkte dem Mann ein herzliches Lächeln und glaubte einen Augenblick, etwas wie Wiedererkennen in seinen Augen zu sehen. Doch es verblaßte, und er erwiderte ihr Lächeln mit einem kurzen Kopfnicken. Dann nahm er seine Diskussion wieder auf, und Janie ging weiter, ohne sich aufzuhalten.
Im Zwischengeschoß hielten die grünen Männer ihre stille, unerschütterliche Wache, die Waffen auf die unter ihnen vorbeiziehende Menge gerichtet. Mit raschen Schritten ging Janie auf einen Buchladen zu, um etwas zu kaufen. Sie würden viele Stunden lang im Transitraum sein, und sie brauchte etwas zur Ablenkung. Das würde ihre Gedanken von den Dämonen fernhalten, die sich hin und wieder erhoben, ihren grausamen Tanz aufführten und ihr jedes bißchen Seelenfrieden raubten, das sie hatte finden können.
Noch ein Verlust, dachte sie. Fühlt sich allmählich an wie mein normales Leben, dieser schreckliche Schmerz, Menschen zu vermissen ... Traurig überlegte sie, was zwischen ihr und Bruce hätte sein können, wenn sie einen Ausweg aus ihrem geographischen Dilemma gefunden hätten.
Sie hatten sich am Abend zuvor in seiner Wohnung voneinander verabschiedet; sie war ihr, da Caroline im Nebenzimmer war, viel zu eng erschienen, und der Abschied hatte Janie nicht befriedigt. Es hätte mich mehr berühren sollen, ich hätte trauriger sein sollen oder so . Aber sie hatte sich einfach schrecklich leer gefühlt. Sie wußte, das lag daran, daß sie sich vorher fest vorgenommen hatte, den Schmerz nicht hochkommen zu lassen. Wenn ich ihn nicht hereinlasse, kann er mich nicht verletzen .
Aber er hatte sie erreicht, trotz all ihrer Anstrengungen. Er war da, tief in ihrem Herzen, in ihrer Magengrube, er lauerte in ihrer Psyche und wartete darauf, beim geringsten Anlaß über sie herzufallen. Sie hatte entschieden, daß sie ihn unterdrücken würde, bis sie sicher zu Hause und irgendwo allein war, wo sie weinen und darauf warten konnte, daß ihr Herz brach, wenn es das war, womit sie ihn loswurde ...
»Warum bleibst du nicht?« hatte er gesagt. »Es gibt auch hier Arbeit für dich. Ich kann dir helfen, dich einzurichten . einen Job zu finden .«
»Ich weiß nicht, Bruce«, hatte sie gesagt, vor Verwirrung gelähmt. »Ich glaube nicht, daß ich im Moment zu einer solchen Entscheidung bereit bin.
In meinem Leben ist alles so durcheinander ...« Dann hatte sie hinzugefügt: »Die Dinge verändern sich. Als ich hier ankam, dachte ich, England wäre das Paradies. Aber ihr habt sogar noch weniger Freiheit als wir; hier ist es so weit gekommen, daß ich nicht glaube, daß ihr sie jemals zurückbekommt. Zu Hause können wir noch etwas verändern. Ich glaube, mir gefällt einfach nicht, wie es sich anfühlt zu leben ... unter all dieser ... Kontrolle.«
Und dann hatte sie noch gesagt: »Aber warum kommst du nicht zurück? Du bist immer noch amerikanischer Staatsbürger, und du hast hier einiges geleistet. Du kannst einfach in ein Flugzeug steigen und nach Amerika fliegen. Wir würden uns freuen, dich zurückzubekommen. Brillante Wissenschaftler können wir immer brauchen.«
Er hatte traurig gelächelt. »Vielleicht überrasche ich dich eines Tages.«
Mit anderen Worten: Nein, hatte sie bei sich gedacht. Und so hatten sie sich getrennt, zwei gleich stark beteiligte Spieler in einem unentschiedenen Match .
Im rückwärtigen Teil der Buchhandlung fand ein Roman ihr Interesse; sie las den Klappentext und ein bißchen von der ersten Seite und entschied, ihn zu kaufen. Sie ging zurück in den vorderen Teil des Ladens, bezahlte und kehrte zu ihrem Gate zurück.
Nicht weit davon entfernt stand derselbe Mann, der vorhin mit dem Angestellten gestritten hatte. Der Mann sah wütend und mißmutig aus. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt, und seine Schultern wirkten sehr angespannt, als ärgere ihn irgend etwas gewaltig. Er warf Janie einen bösen Blick zu, als sie vorbeiging, als wisse er irgendwie, daß sie der Grund all seiner Frustration war.
Du wirst es niemals wissen, dachte sie, und ein angenehmes Gefühl von Erleichterung durchströmte sie.
Der Angestellte hieß fröhlich noch ankommende Passagiere willkommen, zu Hause in den guten alten Staaten, dachte sie, und gratulierte ihm im stillen zu seinem Sieg über den hartnäckigen Biocop.
»Gute Arbeit«, sagte sie, als sie zum zweiten und letzten Mal an ihm vorbeiging.
Er antwortete mit einem schönen, breiten Grinsen und sagte: »Und Spaß macht sie auch.«
Sie passierte das Cockpit und ging zwischen den noch im Gang beschäftigten Leuten hindurch zu ihrem Platz im hinteren Teil der Maschine. Sie sah Frauen, die sich mit Babys abmühten, Stewardessen, die versuchten, kleine Gepäckstücke in die Klappen über den Sitzen zu zwängen. Sie sah einen Steward mit einem Arm voll durchsichtiger Plastikanzüge, der sich durch den Mittelgang arbeitete und einigen wenigen Erstpassagieren erklärte, dies seien in der Tat die Anzüge, die manche Reisende als Körperkondome bezeichneten. Sie sah verwirrte ältere Leute, die herauszufinden versuchten, was mit all diesen Schnallen und Masken anzufangen sei.
Sie sah Bruce.
»Überraschung«, sagte er.