5

 

Für den Rest des Tages ritten sie in schnellem Tempo und versuchten, möglichst viel Entfernung zwischen sich und Alejandros Heimatstadt Cervere zu legen. Dabei hielten sie stets nach Quellwasser Ausschau. Alejandro gewöhnte sich rasch an den Rhythmus des Reitens und fühlte sich recht behaglich im Sattel; keiner, der ihn beobachtete, hätte ihm angesehen, daß er ein Anfänger war.

Hernandez, der die Geschicklichkeit seines Schützlings bemerkte, sagte: »Ihr seid für den Sattel geboren, Jude; ich glaube, Ihr vergeudet Eure besten Gaben als medicus. Der Beruf kommt mir ohnehin wertlos vor, voller Täuschungen und Tricks; wenn ich mich von einem Bader operieren lasse, geht es mir hinterher unfehlbar schlechter als vorher.«

»Dann müßt Ihr nicht den Bader aufsuchen, sondern einen Arzt, wenn Ihr Beschwerden habt, denn ein gut ausgebildeter Arzt besitzt ein Wissen, das kein Bader für sich in Anspruch nehmen kann.«

»Einer wie Ihr?« fragte Hernandez. Alejandro stieß ein zynisches Brummen aus. »Ihr könnt versichert sein, ich bin gut ausgebildet, aber täglich verfluche ich meine Unwissenheit.«

»Na, dann ist es doch klar. Wenn Eure gegenwärtige Arbeit Euch nicht befriedigt, müßt Ihr das Schwert nehmen. Dann werdet ihr zufriedener sein, da bin ich sicher.«

Alejandro gefiel die Wendung nicht, die das Gespräch zu nehmen schien; er entfernte sich ein wenig von Hernandez, um weitere Wortwechsel zu erschweren. So ein Unsinn, dachte er bei sich, wie kann irgendeine Berufung edler sein als meine? Was habe ich nicht alles dafür geopfert! Und warum belästigt dieser Nichtsnutz mich mit solchem Gefasel, wo ich doch viel gewichtigere Dinge zu bedenken habe?

Doch Hernandez ließ sich nicht abschütteln. In den wenigen Stunden, die sie zusammen verbracht hatten, hatte Alejandro ihn als überaus spaßhaften Burschen kennengelernt, der gern redete. Als hätte er die Gedanken des jungen Arztes gelesen, trieb der Spanier sein Pferd näher heran und sagte: »Ihr werdet kein nobleres Handwerk finden als das des Soldaten, junger Mann; und Ihr seht aus wie einer, der es leicht erlernen könnte.«

»Und Ihr würdet es mir natürlich gern beibringen, fürchte ich .«

»Warum denn nicht? Welche Zeit wäre dafür besser geeignet als eine Reise, die durchaus gefährlich werden kann?«

Wir haben keine Zeit, uns mit dem Erwerben von Fertigkeiten abzugeben, dachte Alejandro bei sich. Inzwischen ist der Mord am Bischof entdeckt worden, und ich werde noch mehr gejagt als zuvor. Er fragte sich, ob Hernandez einen Verdacht hatte; er hatte nichts gesagt und benahm sich nicht wie jemand, der einen Flüchtling begleitet, von dem er wußte, daß er der Mörder eines Bischofs war. Sie ritten zwar in schnellem Tempo, aber doch nicht so, als seien sie auf der Flucht; sie versteckten sich nicht, und Hernandez war zu allen freundlich, denen sie begegneten.

»Lieber nicht«, sagte Alejandro schließlich auf Hernandez’ Angebot.

»Ach, kommt, junger Mann, was kann das schon schaden?«

Und trotz Alejandros offensichtlichem Widerstreben forderte Hernandez ihn heraus. »Wir fangen mit etwas Leichtem an. Ihr sollt derjenige sein, der einen Rastplatz für uns aussucht, wo es Wasser gibt.«

Alejandro war zwar auf der Hut vor dem kleinen Spiel seines Begleiters und der Diskussion müde, aber Herausforderungen machten ihm Spaß. Wasser war außerdem kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, und er sagte: »Und wenn ich kein

Wasser finde, was dann? Sind wir dann in Gefahr?«

»Dann werde ich Euch meine Weisheit beweisen, indem ich welches finde.«

»Also gut«, sagte Alejandro.

Im Weiterreiten hielt Alejandro Ausschau nach der Art von Pflanzenwuchs, die man normalerweise in der Nähe von Wasser sah; mehrmals glaubte er, ihn gefunden zu haben, doch bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß es keinen oberirdischen Wasserlauf gab. Endlich erspähte er von ferne eine üppig begrünte Stelle, größer und voller als die, die er zuvor ausgemacht hatte; sie kam deutlicher in Sicht, während sie durch die flirrende Hitze der meist braunen Landschaft von Aragon ritten.

Sie brauchten nicht lange, um das Grün zu erreichen, und wurden durch eine köstliche Quelle belohnt, die mitten darin sprudelte. »Seht Ihr?« sagte Hernandez. »Ihr seid von Natur aus begabt. Ich werde Euch helfen, Eure Fähigkeiten zu entwickeln.«

Sie sattelten ihre Pferde ab, wobei Hernandez ihm zeigte, wie man es macht, und banden sie dicht an der Quelle fest, wo die Tiere nach Herzenslust saufen konnten. Krummbeinig und steif von dem langen Ritt, reckten sich die beiden Männer und packten in ein paar Schritten Entfernung ihre wenigen Habseligkeiten aus. Nach einigen Ruheminu- ten nahm Hernandez eine Steinschleuder aus seinem Gepäck und entwirrte sorgfältig die Gurte. »So Gott will, bin ich gleich mit unserem Abendessen zurück«, sagte Hernandez. Er warf Alejandro einen Feuerstein zu. »Macht uns ein Feuer zum Kochen.« Er ging ein paar Schritte weg und drehte sich dann um. »Ich nehme doch an, daß Ihr wißt, wie man das macht?«

»In der Tat«, sagte Alejandro und gab sich beleidigt. »Ihr werdet zweifellos überrascht feststellen, daß ich auch ohne Hilfe essen kann.«

»Das hatte ich nicht bezweifelt«, sagte der Spanier lachend, »denn ich habe Euch essen sehen.« Er trat in das Gehölz und kam bald darauf mit einem großen Kaninchenbock wieder. Er nahm ein Jagdmesser aus der Scheide an seinem Gürtel, häutete das Tier und weidete es auf einem großen, flachen Stein in der Nähe aus. Alejandro sah fasziniert zu, wie die Innereien entfernt wurden. Hernandez wollte sie in einiger Entfernung von ihrem Lager wegwerfen, doch Alejandro hinderte ihn daran. Er griff in die schleimige Masse und zog das Herz heraus.

»Das war ein gemeines Karnickel, denn das Herz ist klein«, sagte er.

»Dann verdient es, gegessen zu werden«, sagte der Spanier. »In solchen Dingen überlasse ich Euch das Urteil. Aber eines weiß ich sicher, und das ist, daß ein Mann mit einer Steinschleuder niemals hungrig bleibt, selbst wenn er Ratten ißt.« Er schleuderte die übrigen Innereien so weit wie möglich weg, um keine unerwünschten Beutejäger anzulocken. »Er kann Wild jagen, das man mit Pfeil und Bogen nicht erlegt. Lieber eine kleine, fade Mahlzeit als keine große, schmackhafte, was?«

Alejandro nickte unwillig, dachte aber bei sich: Ich würde lieber verhungern, als eine Ratte zu essen. Zu seiner Überraschung roch das bratende Kaninchen genau wie die Hühner, die seine Mutter fast jeden Tag zubereitete. Und es schmeckte so gut, wie es roch. Er aß es mit großem Genuß und hoffte, Gott werde ihm alle Verstöße gegen die Speisevorschriften verzeihen, die er auf seiner Reise begehen mochte. Insgeheim gelobte er ihm, nach seiner sicheren Ankunft in Avignon der hingebungsvollste und gehorsamste Jude zu werden, der je gelebt hatte.

Hernandez förderte einen weiteren Laib Brot zutage, und sie verschlangen ihn, ohne auch nur einen Krümel übrigzulassen. Ein paar getrocknete Feigen bildeten den Abschluß des Mahls, und Alejandro dachte, daß er noch nie so gut gespeist hatte. Sie füllten ihre Flaschen mit frischem Wasser aus der Quelle und tranken, bis sie zu platzen glaubten.

»Ich schwöre Euch, ich werde nie wieder an Wasser vorbeigehen, ohne zu trinken«, sagte Alejandro, der sich daran erinnerte, wie trocken seine Lippen in den drei Tagen im Klosterkerker geworden waren. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel den Mund ab.

»Dann werdet Ihr an keinem Busch oder Baum vorbeikommen, ohne Eure Marke zu hinterlassen.«

Zu seiner eigenen Überraschung mußte Alejandro lachen. Als er sich auf die Decke legte, erschöpft von dem langen Tagesritt, aber voll und satt von gutem Essen und reinem Wasser, fragte er sich: Wie bin ich bloß hier unter diese Sterne gekommen, wo ich doch zu Hause in Cervere sein und in meinem eigenen weichen Bett schlafen sollte? Die Ereignisse der letzten paar Tage schossen ihm durch den Kopf. Wie ist es nur gekommen, daß alles eine so schlimme Wendung genommen hat? Er dachte an die dramatischen Ereignisse in seinem einst so beschützten Leben: Gebrandmarkt, vielleicht für immer von seiner Familie getrennt und gezwungen, aus der Stadt zu fliehen, in der er geboren und aufgewachsen war, war er nicht mehr derselbe Mensch wie noch vor ein paar Tagen.

Am meisten aber belastete ihn, daß plötzlich eine Seite seines Selbst aufgetaucht war, von der er nie gewußt hatte, daß er sie besaß. Heute habe ich einen Mann getötet, dachte er reumütig, ohne das geringste Zögern. Es kam ihm merkwürdig vor, daß er keine Reue über das empfand, was er dem Bischof angetan hatte, und er fragte sich, ob es vielleicht Wahnsinn war, was ihn daran hinderte, entsetzt vor seiner eigenen Tat zurückzuschrecken. Doch im innersten Herzen wußte er, daß es nicht daran lag, denn er hatte nur schlichte Gerechtigkeit geübt; lehrten die Alten denn nicht, Auge um Auge, Zahn für Zahn? Alejandro bezweifelte, daß der Bischof jemals für seine unheilvolle Behandlung der Familie Canches bestraft worden wäre, wie die Familie Canches zu Unrecht dafür bestraft worden war, daß sie ihm viele Jahre lang treu gedient hatte. Auf der Stelle vergab er sich, daß er sich zum Richter und Henker dieses Mannes gemacht hatte. Trotzdem war er verwirrt und konnte nicht einschlafen. Er starrte zu den Sternen empor und berührte leicht seine verkrustete Wunde, erlebte noch einmal den Schock, mit dem er sie erlitten hatte, und die Scham über seine Hilflosigkeit. Dann erinnerte er sich an sein Gold; er stand von seiner Decke auf und nahm es aus dem kleinen Stapel seiner Habseligkeiten in der Nähe. Er legte sich die Satteltasche unter den Kopf und benutzte sie als hartes Kissen.

Er hatte geglaubt, Hernandez schliefe, doch der sagte auf einmal: »Daran habt Ihr gut getan. Ich sehe, Vorsicht ist eine Fertigkeit, die ich Euch nicht lehren muß. Schlaft gut, Jude.«

»Ihr auch, Spanier«, sagte Alejandro. Also weiß er davon, dachte er und entspannte sich in dem Wissen, daß sein Begleiter ehrenwert genug war, einer solchen Versuchung zu widerstehen. Er hat mich nicht sterbend und mittellos am Straßenrand liegenlassen, um als reicher Mann davonzureiten.

Mit diesem Schatz war ihm die reibungslose Niederlassung in Avignon garantiert; er konnte sofort eine Praxis mit gut ausgestattetem Operationsraum und bezahlten Helfern eröffnen und sich auch Dienstboten leisten, um einen Haushalt einzurichten und zu führen. Wenn sein Vater und seine Mutter die Reise nach Avignon durch irgendein Wunder überleben sollten, würde er sie im bequemen Haus eines prominenten Arztes willkommen heißen. Seine Träume spülten die Schmerzen der letzten paar Tage weg, und mit Phantasien über eine schöne, angenehme Zukunft schlief er ein.

Kurz vor der Morgendämmerung schüttelte Hernandez ihn sanft. »Ich würde meine Tätigkeit für das Haus Canchez gern noch in diesem Jahr beenden. Bei Eurer Schwerfälligkeit und Faulheit dauert sie viel zu lange! Am Ende arbeite ich für Pfennige am Tag, wenn wir weiter so langsam vorankommen«, grollte der lockige Spanier.

Alejandro reckte seine Glieder, wobei er darauf achtete, die verheilende Haut auf seiner runden

Wunde nicht zu spannen, und erhob sich steif. Mit Hernandez’ Hilfe zog er sein Hemd aus und prüfte, ob die Wunde eiterte. Sie tat es nicht. Er wusch sie vorsichtig mit dem kalten Quellwasser und versuchte, die neuen Krusten nicht zu beschädigen. Solange sie noch naß und ein wenig elastisch war, beträufelte er die Wunde mit Nelkenöl. Er ging sparsam mit seinem geringen Vorrat um. Bei den ersten Tropfen zuckte er zusammen, denn sie verursachten einen stechenden Schmerz, doch zum Glück folgte darauf ein taubes Gefühl.

Nach einem leichten Frühstück ritten sie ohne Zwischenfall weiter, bis die Sonne hoch am Himmel stand, und begannen dann, nach einem geeigneten Ort zu suchen, an dem sie rasten und Schutz vor der Mittagssonne finden konnten. Sie erreichten ein Gehölz mit kümmerlichen Bäumen, zu klein, um auf eine Quelle schließen zu lassen, aber hoch genug, um ihnen und ihren Pferden Schutz vor der schlimmsten Tageshitze zu gewähren. Hernandez zauberte etwas Dörrfleisch aus seinem Gepäck hervor, das unangenehm schmeckte, aber den Hunger stillte, und danach tranken sie Wasser aus ihren Flaschen.

Während sie ruhten, schnitzte der Spanier müßig an einem kleinen, trockenen Ast herum. Alejandro sah aufmerksam zu, als der Ast Form annahm, und staunte, wie schnell er sich in eine windende Schlange mit glatter Haut und spitz zulaufendem Schwanz verwandelte.

»Señor, wo habt Ihr gelernt, so feine Schnitzarbeiten anzufertigen?«

»Das habe ich nicht gelernt, mein junger Freund, sondern geübt. Ich habe so viele Stücke geschnitzt, daß ich es jetzt ohne hinzusehen kann, nur mit dem Gefühl. Ich liebe diese Zerstreuung, denn sie läßt mich klarer denken.«

»Ich bitte Euch, die Gedanken, die Ihr jetzt habt, mit mir zu teilen.«

Hernandez spuckte aus, bevor er antwortete: »Ich denke über unseren Reiseweg nach.«

»Gibt es so viele Straßen, daß wir da eine Wahl haben?«

»Nicht so viele, wie Ihr vielleicht denkt. Wir können durch die Berge oder an der Küste entlang reiten. Der Weg durch die Berge ist zwar kürzer, dauert aber fast genauso lange wie der an der Küste entlang. Und in den Bergen lauern viele Gefahren auf den Reisenden.«

»Nennt sie mir, und ich werde sie mit Euch abwägen.«

»Die Leute sind nicht allzu freundlich. Sie betrachten sich weder als Franken noch als Spanier, sondern als Basken. Reisende sind leichte Beute für ihre Wegelagerer, die die Straßen gut kennen und ihnen manchmal in versteckten Gebirgswinkeln auflauern. Und das Wetter kann hochgehen wie ein wütendes Roß und mit scharfen Hufen auf Euch niederstürzen; dann blitzt und hagelt es, und der Donner rollt durch die Berge wie die Götter persönlich.«

»Doch der Weg hat gewiß seine Vorteile, da Ihr ihn in Erwägung zieht?«

Hernandez erklärte: »In dieser Jahreszeit kann es sehr angenehm sein, durch die kühlen Berge zu reiten, denn entlang der Küste gibt es wenig Schutz vor der Sonne und ihren Schäden. Aber wir sind nur zu zweit, einer von uns trägt viel Gold bei sich, und wir wären eine leichte Beute für Marodeure.«

Alejandro musterte seinen gewissenhaften Begleiter. Vater muß ihn sehr, sehr gut bezahlt haben, dachte er, oder er ist einfach ein sehr, sehr ehrenwerter Mann. Ich habe mein ganzes Leben Seite an Seite mit Christen verbracht, aber ich weiß nur wenig über sie ... Alejandro hatte sich immer auf das verlassen, was die Alten ihm über sie erzählt hatten; oft war das alles andere als schmeichelhaft, und nur selten hatte er Geschichten gehört, in denen es nicht um irgendeinen Streit oder Skandal ging. Jetzt zeigte ihm dieser Mann, sein Reisegefährte, daß Christen auch zu ganz anderem Verhalten fähig waren. Hernandez benahm sich nicht wie ein frommer Christ, sondern eher wie ein Christ aus Bequemlichkeit, und Alejandro konnte leicht erkennen, daß er nicht primitiv oder ungebildet war, sondern über eine recht handfeste Weltkenntnis verfügte.

Hernandez fuhr fort: »Der weniger gefährliche Weg führt uns nördlich von Barcelona um das östliche Ende der Pyrenäen herum und ins Languedoc. Von da an folgen wir einfach der Küstenlinie und reiten durch Narbonne, Beziers und Montpellier. Nicht weit hinter Montpellier liegt Avignon, wo Euer Schicksal Euch erwartet.«

»In Montpellier war ich schon. Dort erhielt ich meine Ausbildung.«

»Ah, dann seid Ihr ja nicht so unschuldig, wie ich dachte.« Hernandez grinste bei der Erinnerung an jugendliche Beutezüge in unbekannte Städte. »Und ich auch nicht, wie ich Euch gestehen muß. Ich habe viele Städte gesehen, mein Freund, und sie ähneln sich alle; in jeder gibt es köstliche Speisen, exotische und willige Frauen, wunderbare Gebäude und viele kostbare, begehrenswerte Gegenstände. Man muß nur wissen, wo man diese Reichtümer findet.«

»Und Ihr wißt das natürlich«, meinte Alejandro.

Hernandez lachte herzlich. »Ich habe eine Nase für Dinge, die es wert sind, gefunden zu werden. Wenn wir den Küstenweg nehmen, so lernt Ihr das vielleicht von mir. Eure Reise, die Euch, fürchte ich, lang und anstrengend vorkommen wird, wird dadurch interessanter und wesentlich weniger unbequem, als wenn wir den Weg durch die Berge nehmen. Vielleicht werdet Ihr auch feststellen, daß sie länger dauert, weil Ihr diese Orte des Entzückens nicht zu schnell hinter Euch lassen, sondern bleiben und von ihren Schätzen kosten wollt.«

Alejandro dachte über die Möglichkeiten nach. »Ich bin in einem Zwiespalt, Señor«, sagte er. »Wenn ich reise, wie mein Volk das normalerweise tut, was zweifellos die Absicht meiner Familie ist, dann muß ich diese Stätten christlichen Frevels meiden und den weniger begangenen Weg wählen. Wir Juden sind immer in Gefahr, zum Opfer jener zu werden, die von den Reichen ihres eigenen Volkes unterdrückt werden. Sie suchen sich an denen zu rächen, die sich nicht wehren können. Es ist meine Pflicht, nach Avignon zu reisen und mich dort in der Hoffnung niederzulassen, meine Familie willkommen heißen zu können.« Doch er wußte, daß er Avignon lange vor seinen alten Eltern erreichen würde, selbst wenn er den langsamsten Weg nahm. Sie würden unterwegs in jeder Stadt rasten müssen. Im günstigsten Fall brauchten sie vielleicht ein Jahr, um in Avignon anzukommen.

»Vergeßt nicht, junger Mann, daß Ihr nicht mehr wie ein Jude ausseht, und verzeiht, wenn ich sage: Gott sei Dank!«

Alejandro fragte sich, ob Hernandez vielleicht der Ausschweifungen der Städte schon müde war und sich nach frischer Bergluft und kühlen Nächten sehnte. Vielleicht wollte er auch gern mit ein paar baskischen Marodeuren kämpfen, damit seine Fähigkeiten nicht einrosteten. Doch Alejandro wollte das nicht.

»Nun, Jude, was sagt Ihr?«

»Am Meer entlang, Señor! Ich vertraue darauf, daß ich diese fremden Gebräuche sehen kann, ohne ihnen anheimzufallen. Und vielleicht gibt es in diesen Städten auch ein paar neue Methoden der Chirurgie.«

»Aber ja, sie schneiden Euch im Nu die Börse heraus!«

Alejandro lachte, klopfte aber trotzdem zur Sicherheit auf seine Satteltasche, worauf Hernandez sagte: »Eure erste Anschaffung mit diesem Vermögen wird geeignetere Kleidung für die Reise sein. Wir werden den Schneider anweisen, mehrere kleine Taschen mit Knöpfen daran anzufertigen, auf die Ihr Eure Münzen verteilt; dann könnt Ihr niemals alles auf einmal verlieren.«

Alejandro hielt das für einen weisen Rat. Er war jetzt ausgeruht, die Sonne stand etwas tiefer, wodurch das Reisen angenehmer wurde, und eine gewisse Unruhe erfaßte ihn. Als Hernandez das sah, schob er sein kleines Schnitzmesser wieder in die Scheide und packte die Schlange in eine seiner Taschen. Nach einem letzten Trunk Wasser schwang er sich auf sein Pferd, und sein Schützling tat es ihm nach. Sie ritten wieder auf den Weg und wandten sich in raschem Tempo nach Nordosten.

Sie kamen stetig voran, immer nordostwärts in Richtung Küste. Die Küstenstraße war jetzt noch einen Tagesritt entfernt, und mit jeder Stunde, die verging, hatten sie mehr Berührung mit der Zivilisation. Als sie sich dem Meer näherten, wurde die Luft kühler und reiner und war nicht mehr so staubig wie in der heißen Landschaft von Aragon; die Vegetation wurde üppiger und das Reisen angenehmer, weil es mehr Schatten gab. Sie hielten an, wann immer das nötig war, und holten sich frisches Wasser, wo es ging. Alejandro trank an jeder Quelle und jedem Bach, durstig wie ein tollwütiger Hund.

Seine Wunde hatte glücklicherweise nicht geeitert, und nun, da sie heilte, war sie nicht mehr schmerzhaft, sondern nur noch lästig. Die Haut auf seiner Brust war etwas hart geworden, obwohl er versucht hatte, sie nach Möglichkeit weich zu halten.

Doch er konnte einfach nicht verhindern, daß sich eine große, häßliche Narbe bildete, die ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde. Er wußte, er würde sich dieser unschönen Entstellung schämen, sobald er wieder mit anderen Menschen als Hernandez zusammenkam; dieser versuchte höflich, den häßlichen Schorf zu übersehen. Andererseits dankte Alejandro seinem Schicksal dafür, daß er die Narbe auf der Brust hatte und nicht im Gesicht, wie es zweifellos die Absicht derer gewesen war, die ihn gebrandmarkt hatten. Seine Brust konnte er unter der Kleidung verbergen, sein Gesicht nicht.

Als die Ablenkungen am Wegesrand zunahmen, richtete Hernandez sich etwas steiler im Sattel auf und schenkte dem, was ringsum zu sehen und zu hören war, mehr Aufmerksamkeit. »Es ist lange her, daß ich in einer Stadt war, in der die cantinas einen Besuch wert waren!« sagte er zu Alejandro. Er wies auf einige interessante Orte, an denen sie vorbeiritten. »Das ist verheißungsvoll, Jude! Vielleicht finden wir hier etwas Anständiges zu essen!«

Als ihre Schatten in der Sonne des Spätnachmittags nach Osten hin länger wurden, näherten sie sich der kleinen Stadt Gerona. Hernandez amüsierte sich über die Faszination, mit der sein unerfahrener Gefährte das geschäftige abendliche Treiben der Leute betrachtete. Die meisten waren harmlos, doch er wußte, es gab auch solche darunter, die ihnen mit der gleichen Leichtigkeit lächelnd die Börsen abnehmen würden, mit der sie lächelnd grüßten. »Ich glaube, Ihr wärt eine leichte Beute für die, die auf den Inhalt Eurer Taschen aus sind«, sagte er mit lautem Lachen. »Seid besser auf der Hut.«

Darauf warf sein Schützling ihm einen eisigen Blick zu, denn nach den Erfolgen ihrer Reise war er seiner selbst recht sicher. »Ich bin vielleicht unerfahren, Hernandez, aber ich bin kein Einfaltspinsel. Glaubt Ihr, ich sei nicht fähig, durch diese Stadt zu reiten, ohne daß man mir meine Habseligkeiten wegnimmt?«

»Es ist nicht der Ritt, der mir Sorgen macht, mein junger Freund. Es ist die Zeit danach, wenn unsere Pferde angebunden sind, aber unser Temperament nicht, die am gefährlichsten ist. Gebt acht, daß Ihr nicht irgendeinem lüsternen jungen Ding zum Opfer fällt, das mit einem unsichtbaren Dieb im Bunde ist!«

Alejandro ärgerte sich über Hernandez’ Unterstellung und dachte bei sich, der ältere Mann könne viel leichter in eine solche Lage geraten. Und das sagte er ihm auch deutlich. »Haltet Euch nur selbst an Eure Warnung«, ermahnte er ihn. »Erinnert Euch an das, was Ihr selbst gesagt habt! Ich bin derjenige, der jung und ansehnlich ist, und Ihr tragt die Male vieler Kriege! Wer wird da wohl die leichtere Beute sein?«

»Bei allen Göttern, Jude«, schrie Hernandez laut, »Ihr habt recht! Ihr seid kein Einfaltspinsel. Und wenn ich nach der überraschend angenehmen

Aufgabe, Euch sicher aus der Verbannung Aragons wegzuführen, sparsam bin, kann ich für die nächsten paar Jahre gut leben. Vorausgesetzt natürlich, daß ich nicht zuviel für Weiber ausgebe!« Wieder lachte er, und als das Lachen vergangen war, sagte er: »Ich bin allmählich ohnehin zu alt, um mein Geld an solchen Unsinn zu vergeuden. Das überlasse ich besser Euch hübschen jungen Männern, was, Jude? Und nun«, meinte er, »suche ich wohl am besten einen Ort, wo wir über Nacht unsere müden Knochen zur Ruhe betten können.«

Er erkundigte sich bei einigen Passanten nach einem Gasthof mit guten Ställen, und man wies sie zu einem Haus auf der Nordseite des Marktplatzes. Eine kleine cantina, sagte man ihnen, sei nur ein paar Schritte entfernt.

Während sie den Weg zum Gasthof einschlugen, hörten sie herannahenden Hufschlag; bald darauf erreichten die Pferde mit ihren gepanzerten Reitern in einer Staubwolke den Platz. Alejandro versteifte sich, als er die Soldaten sah; Hernandez beobachtete ihn, ohne etwas zu sagen, achtete aber auf jede seiner Bewegungen.

Die Soldaten saßen alle gleichzeitig ab, und jeder betrat ein anderes Haus im Zentrum der kleinen Stadt; mit grober Autorität gingen sie von Tür zu Tür und suchten jemanden oder etwas, aber sie hatten keinen Erfolg. Hernandez und Alejandro standen an den Pfosten, an denen die Pferde angebunden wurden; sie rührten sich nicht von der Stelle, während die Soldaten über den ganzen Platz schwärmten.

Er zieht die Sache in die Länge, dachte Hernandez, als er sah, wie Alejandro sein Pferd festband, dann wieder losband und erneut festband; er fürchtet eine Begegnung mit diesen Reitern. Er legte die Hand auf die Schulter des jungen Juden und schaute dann wieder nach den Soldaten, die in der Nähe ihrer Pferde Aufstellung genommen hatten. »Sollen wir hier ein paar Minuten rasten, ehe wir in den Gasthof gehen?« fragte er.

Alejandro war nicht überrascht, daß sein Führer seine Angst wahrgenommen hatte, und er war ihm dankbar, daß er seinem Wunsch folgte, unbemerkt zu bleiben, bis die Soldaten wieder fort waren. Sie blieben bei den Pferden, und Alejandro machte sich sinnlos an ihrem Gepäck zu schaffen, zog hier einen Gurt fest, um ihn gleich darauf wieder zu lockern, nahm die Flasche, um etwas zu trinken, spülte sich den Mund, spie das Wasser aus, trank erneut. Dabei ließ er die Soldaten nicht aus den Augen; seine schweigende Anspannung wich erst, als sie wieder aufgesessen waren und lärmend den Marktplatz verlassen hatten.

Hernandez sah Alejandro in die Augen und sagte mit neugierig hochgezogenen Augenbrauen: »Vielleicht braucht Ihr diese neuen Kleider sofort, was? Wir kümmern uns darum, sobald wir eine angemessene Unterkunft gefunden haben.«

Alejandro nickte und warf sich seine Satteltasche über die Schulter. Er wollte auf den Gasthof zugehen, doch Hernandez faßte ihn am Arm und hielt ihn fest. Streng sagte der große Spanier zu seinem Schützling: »Junger Mann, ich bin kein Freund der Juden, aber Ihr seid ein guter Mensch, und ich werde dafür bezahlt, Euch sicher in Avignon abzuliefern. Ihr solltet mir sagen, ob wir Grund haben, uns vor Soldaten zu hüten.«

Der junge Jude erwiderte seinen Blick; er wollte Hernandez nicht belügen, denn der Spanier hatte sich als wertvoller Gefährte erwiesen. Doch solange er nicht sicher sein konnte, daß der Christ ihn nicht verraten würde, wollte Alejandro das Geheimnis der Ermordung des Bischofs für sich behalten. Er nickte noch einmal, ohne Hernandez zu erklären, was das Nicken bedeutete.

Er war überrascht, als der Spanier laut auflachte und ihn so kräftig auf den Rücken schlug, daß er fast keine Luft mehr bekam. »Ihr habt mehr Mumm in den Knochen, als ich dachte! Kehren wir ein!« Und sie gingen auf den Gasthof zu.

Der Wirt zeigte ihnen ein Zimmer mit zwei großen Strohlagern, jedes mit einer groben, aber sauber aussehenden gewebten Decke versehen. Auf dem niedrigen Tisch unter dem Fenster, das auf den Platz hinausging, standen eine Schüssel und ein Krug.

»Sauber genug für zwei Vagabunden, was, Señor? Heute nacht werden wir Eure dankbaren Gäste sein. Ein Bad vor dem Abendessen wird uns beiden guttun. Und sagt mir bitte, wo wir in dieser Stadt einen guten Schneider finden.«

Sie nahmen den Weg, den der Wirt ihnen gesagt hatte, und Alejandro ließ sich ein Hemd und Beinkleider anmessen. Er zuckte zusammen, als der Schneider mit dem Maßband seine Lenden berührte, und bemerkte gereizt das erheiterte Grinsen auf Hernandez’ Gesicht.

»Mein junger Freund, Ihr verratet Eure Unwissenheit! Wie sonst soll der Schneider Euch wie einen Herrn ausstatten? Möchtet Ihr so enge Beinkleider, daß Ihr singt wie ein Mädchen? Steht still und laßt den Mann seine Arbeit tun.«

Verlegen über seine eigene Schüchternheit gehorchte Alejandro.

»Wir brauchen diese Kleider morgen früh«, sagte Hernandez zu dem Schneider.

»Señor«, protestierte dieser, »das ist unmöglich, es bleibt nicht mehr lange genug hell, um rechtzeitig mit der Arbeit fertig zu werden! Und ich muß erst das Notwendige einkaufen ...«

Hernandez griff in seine Tasche, nahm eine Goldmünze heraus und schwenkte sie verlockend vor der Nase des Schneiders. »Vielleicht könnt Ihr damit den nötigen Stoff und Kerzen erwerben«, sagte er. Er sah, wie gierig der Schneider die Münze betrachtete, also drückte er sie ihm in die Hand und sagte: »Wenn die Kleider morgen früh fertig sind, gibt es noch eine.«

Nachdem sie so für Alejandros neue Ausstattung gesorgt hatten, kehrten sie in den Gasthof zurück und stiegen die Treppe zu ihrem gemeinsamen Zimmer hinauf. Inzwischen hatte man eine teilweise gefüllte Wanne zwischen den beiden Strohlagern aufgestellt. Jemand klopfte leise an die Tür, Hernandez brummte ein Herein, und die Wirtin trat ein. Sie trug einen weiteren Eimer mit dampfendem Wasser. Nachdem sie das Wasser in die Wanne geschüttet hatte, ging sie wieder und kehrte bald darauf mit einem großen Stück durchsichtiger grüner Seife und einem Luffaschwamm zurück. Hernandez winkte Alejandro, die Wanne als erster zu benutzen, und sagte, er werde in die cantina gehen und einen Schluck Wein trinken, ehe er ebenfalls badete. Wieder schärfte er Alejandro ein, auf seine Habseligkeiten aufzupassen.

Nachdem er so seinen Pflichten als Begleiter des jungen Mannes genügt hatte, verschwand er durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Alejandro schob den Riegel vor, um nicht gestört zu werden, und zog sich vorsichtig aus, um nicht an seine wunde Brust zu rühren. Das warme Wasser schmerzte zuerst auf der roten Haut der runden Wunde, doch als er sich an die Temperatur gewöhnt hatte, fand er das Wasser höchst beruhigend. Nachdem er den Staub aus seinen Kleidern geschüttelt hatte, zog er sich wieder an und öffnete den Türriegel. Dann sah er aus dem Fenster und erblickte Hernandez, der prahlerisch über den Platz schritt; offenbar hatte er seine Erfrischung genossen.

Der große Spanier sang laut, während er die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging; seine Fröhlichkeit war ansteckend, und Alejandro lächelte. Der Mann gefiel ihm von Tag zu Tag besser. Er freute sich, ihn zu sehen, als er polternd eintrat, ein kleines bißchen betrunken und freundlicher denn je.

»Ah, mein Junge, ich glaube, dieses Bad ist ein Geschenk des Himmels.« Mit großen Gesten entkleidete er sich und kratzte sich dabei müßig. Er schlug nach einem lästigen Insekt und sagte dann: »Gott sei Dank für diese neue Taufe!« Dabei lachte er laut über seinen eigenen Witz. Alejandro verstand ihn nicht, kicherte jedoch höflich, erheitert über das kindliche Gebaren des riesigen Mannes.

Hernandez badete mit demonstrativer Wollust; kraftvoll scheuerte er mit dem rauhen Luffaschwamm den Straßenstaub von seinem Körper. Nachdem er den ganzen Kopf unter Wasser getaucht hatte, schnaubte er durch die Nase, rieb sich die Augen und putzte sich mit den kleinen Fingern die Ohren. Genußvoll nutzte er die seltene Gelegenheit, an allen Körperteilen gleichzeitig sauber zu werden. Als er fertig war, war das Seifenstück sichtbar kleiner.

»Die Wirtin wird uns dieses Stück Seife extra bezahlen lassen«, bemerkte Alejandro.

»Ja, und es war seinen Preis wert!« sagte Hernandez. »Ihm habe ich es zu verdanken, daß ich herrlich sauber bin!«

Der Spanier schüttelte sich wie ein Hund, den Kopf in den Nacken gelegt. Alejandro sprang beiseite, um nicht naß zu werden, und staunte über die schlammige Farbe des wenigen Wassers, das noch in der Wanne war.

Nachdem sie so für ihre äußerlichen Bedürfnisse gesorgt hatten, gingen die beiden Männer die Treppe hinunter. Alejandro umklammerte seine kostbare Satteltasche, und gemeinsam schlugen sie den Weg zur cantina ein, um zu Abend zu essen. Der Lärm und das Gewimmel machten Alejandro neugierig und benommen; seine übervorsichtigen Eltern hatten ihn sorgfältig von der cantina in Cer- vere ferngehalten, denn sie fürchteten den Einfluß christlicher Gewohnheiten auf ihre Kinder fast mehr als alles andere. Und nun stand er in der Tür dieses verbotenen Orts, hatte beinahe Angst einzutreten und war gleichzeitig von seiner geheimnisvollen Exotik fasziniert. Hernandez war bereits im Inneren und wurde von mehreren neuen »alten Freunden« begrüßt, die er bei seinem Krug Wein vor dem Bad kennengelernt hatte. Alejandro sah, wie er spielerisch nach einer ziemlich plumpen und drallen Frau griff, sie grob umarmte und ihr dramatisch einen Kuß aufzudrücken versuchte. Sie wehrte sich, aber nicht allzusehr, und stieß kokett züchtige und schamhafte Schreie aus wie eine schüchterne Jungfrau beim ersten Rendezvous. Bei näherem Hinsehen erkannte Alejandro, daß sie durchaus kein Mädchen mehr war.

Der junge Jude nahm am großen Tisch Platz und beobachtete die Szene. Was er sah, war eine Gruppe harmlos wirkender Leute, die sich harmlos verhielten; sie lachten und tranken, vielleicht ein bißchen zuviel, und prosteten einander zwanglos und fröhlich zu. Phantastische Geschichten machten die Runde, und Hernandez brüstete sich vor den aufmerksamen Zuhörern mit seinen vergangenen Heldentaten. Der Spanier unterhielt seine neuen Freunde mit Herz und Seele und nahm sie mit Geschichten gefangen, die weit über die Alltagserfahrung ihres gewöhnlichen Lebens hinausgingen. Und die Zuhörer waren dankbar für die Gaben des Geschichtenerzählers, denn solche Dinge hörten sie sonst nicht, und die Erzählungen würden an die Verwandten und Kinder derer weitergegeben, die sie gehört hatten, und zum Ursprung kleiner Legenden werden. Auch Alejandro wußte die Unterhaltung zu schätzen.

Bald hatte Hernandez zuviel Wein getrunken, um fortzufahren, und nach einer kurzen Pause wurden Schlürfen und Schmatzen von der Stimme eines jungen Mannes übertönt, der Hernandez sehr aufmerksam zugehört hatte.

»Ich habe auch eine Geschichte zu erzählen«, sagte er. »Ich habe sie von einem Matrosen im Hafen von Marseille.«

»Dann laßt sie hören«, lallte Hernandez. Doch im Unterschied zu dem bärbeißigen Soldaten, der die Menge schon in seinen Bann schlug, bevor er sprach, war der junge Mann kein Geschichtenerzähler von Natur; man mußte ihn drängen fortzufahren.

»Vielleicht wird ein Glas Wein Eure Zunge lösen«, sagte Hernandez und winkte dem Wirt, eines zu bringen.

Und nach ein paar Minuten stellte sich heraus, daß Hernandez die Wirkung des Weins richtig eingeschätzt hatte. Der junge Mann sagte: »Der Matrose lungerte auf den Docks von Marseille herum, weil er auf einem Kaufmannsschiff anheuern woll- te; sein eigenes Schiff sollte überholt werden und eine Weile im Trockendock liegen. Da er sonst nichts zu tun hatte, trieb er sich in der taverna herum und hoffte, von einem Schiff zu hören, das Matrosen brauchte.«

Nach Hernandez’ bunten Geschichten fanden die Zuhörer das ziemlich langweilig. Doch nach einem weiteren Schluck Wein fuhr der gestärkte Erzähler tapfer fort: »Eines Nachmittags hörte ich ihn von einer Galeone berichten, die in den Hafen von Messina eingelaufen und ziemlich weit draußen vor Anker gegangen war. Sie gehörte einer Genueser Handelsgesellschaft und war lange überfällig, daher galt ihre sichere Ankunft als großer Segen. Doch als die Vertreter der Compagnia an Bord gingen, fanden sie die Mannschaft tot bis auf sechs Matrosen, und diese sechs lagen ebenfalls im Sterben.«

Gedämpfte Rufe der Überraschung pflanzten sich unter den Zuhörern fort, und ihr Interesse war plötzlich geweckt. Mit leiser Stimme sagte ein Mann: »Ein Pestschiff!«

»Ja«, bestätigte der Erzähler, »und eine Pest, wie man sie noch nicht gesehen hatte, hat mein Matrosenfreund berichtet. Der Mann erzählte von schwarzen Hälsen, so aufgeschwollen, als steckte eine Melone drin!«

Die Zuhörer stöhnten, machten ungläubige Gesten und schalten den Erzähler wegen seiner phantastischen Geschichte. Alejandro erhob sich halb von seinem Stuhl und streckte die Hand aus, um die Menge zum Schweigen zu bringen.

»Schscht! Bitte, ich will diese Geschichte zu Ende hören.«

Die anderen warfen ihm seltsame Blicke zu, aber sein Eingreifen machte dem Erzähler Mut fortzufahren.

»Die Kranken hatten Beulen an Armen und Beinen, und ihre Hände und Füße waren schwarz wie die Nacht; keiner von ihnen konnte es ertragen, berührt zu werden, und alle schrien, ein gnädiger Tod möge sie von ihren schrecklichen Leiden erlösen. Aus allen Poren strömte der Gestank von Krankheit und Tod, und sie schwitzten so, daß ihre Kleider tropfnaß waren. Von den fünfzig Mann an Bord, als sie ablegten, waren alle angesteckt, und nur einer überlebte. Jetzt ist er verrückt und erinnert sich nicht einmal an den Namen seiner Mutter.«

Keiner sagte etwas. Der betrunkene Hernandez bekreuzigte sich, andere taten es ihm nach, und einige baten die Heilige Jungfrau um Schutz. Gegen so eine Krankheit gab es keine andere Verteidigung.

Irgendwie gelang es Hernandez, die Aufmerksamkeit der schweigenden Menge zurückzugewinnen und sie wieder aufzumuntern. Der Spanier merkte nicht, daß sein Reisegefährte nachdenklich und in ganz anderer Stimmung war als die anderen. Später fragte Alejandro den Erzähler eingehend nach weiteren Einzelheiten über die angebliche Krankheit, doch der Mann konnte nicht viel mehr berichten, und Alejandro gab schließlich auf.

In dieser Nacht schrieb Alejandro beim Licht einer Kerze die Einzelheiten der Geschichte, die er in der cantina gehört hatte, in sein Buch. Während er eifrig kritzelte, schnarchte Hernandez, grunzte und warf sich auf seinem Strohlager herum. Alejandro war froh, daß keine weiteren Reisenden da waren, sonst hätte er sich mit Hernandez womöglich ein Lager teilen müssen, und bei dem Gedanken, die Gliedmaßen des betrunkenen Spaniers könnten in der Nacht mit der Wucht von Mehlsäcken auf ihn einschlagen, war ihm alles andere als wohl. Sauber, satt und in Gedanken noch heftig mit den Neuigkeiten des Abends beschäftigt, schlief er endlich ein; seine Tasche hielt er an sich gedrückt, und bald träumte er von Carlos Alderon.

In seinem Traum war der riesige Schmied noch größer und eindrucksvoller als im Leben. Er kam bei Tageslicht zu Alejandro, tot, aber noch auf den Beinen, jedes Glied einzeln mit dem groben Leichentuch umwickelt; nur die Brust lag bloß und wies zahlreiche Schnitte und Wunden auf. Die Hände und Füße, die aus den Tüchern herausschauten, waren schwarz wie das Eisen der Schaufel, mit der er ausgegraben worden war. Er stieß gräßliche Anschuldigungen gegen den Arzt hervor, dem es nicht gelungen war, ihn gesund zu machen, und beschuldigte Alejandro, seinen Tod gewollt zu haben, damit er seinen Leichnam später exhumieren und sezieren konnte. Er kam näher, streckte die Arme aus, doch gerade, als er ihn packen wollte, wurde Alejandro ruckartig wach; er setzte sich zitternd auf, kalter Schweiß drang ihm aus allen Poren. Er rieb sich mit einer Hand heftig das Gesicht, während er mit der anderen seinen zitternden Körper stützte; als er sich zur Seite wandte, sah er Hernandez friedlich schlafen, unberührt von dem Gefühl der Bedrohung, das ihn geweckt hatte.

Der Schneider verbeugte sich und ging rückwärts zur Tür hinaus, dabei umklammerte er die Goldmünze, die Hernandez ihm in die Hand gedrückt hatte; er konnte es gar nicht fassen, welche phantastische Summe er für so einfache Arbeit bekommen hatte. Nachdem sie die Rechnung des Wirts bezahlt hatten, machten der Spanier und der Jude sich auf den Weg zur Bäckerei, wo Hernandez mehrere der frisch gebackenen Brote des Tages erstand und die langen, dünnen Laibe in alle freien Taschen seiner Kleidung und seines Gepäcks steckte.

Während Alejandro sein Reittier bestieg, sagte er: »Das Hemd ist richtig schwer vor lauter Münzen!«

Hernandez lachte herzlich. Ohne jedes Mitgefühl mit der beneidenswerten Last sagte er: »Möge Gott mich mit der Beschwernis schlagen, zu viele Münzen zu haben! Und möge ich nie davon genesen!«

Sie ritten zügig, bis sie mittags die kleine Stadt Figueras erreichten, noch immer ein gutes Stück von der Küste entfernt. Sie ließen die Pferde in einem Stall zurück, wo ein kleiner Junge sie gut abrieb und tränkte.

Die cantina war dunkel und kühl, eine willkommene Abwechslung nach der brennenden Tageshitze. Sie aßen eine herzhafte Mahlzeit, die Hernandez mit einer reichlichen Menge Bier hinunterspülte. Wieder war Alejandro recht still, während sein Gefährte die anderen Gäste mit seinen Heldentaten und Kriegsgeschichten unterhielt.

»Genug von meinen Lügen«, sagte er schließlich. »Ich bin es leid, mich zu rühmen. Wer hat berichtenswerte Neuigkeiten?«

Man erzählte von verschiedenen Ernten; ein Mann beschrieb in allen Einzelheiten einen Hochzeitszug, der vorbeigekommen war und eine junge Adelige von weither zu ihrem wartenden Bräutigam in Kastilien geführt hatte. Er unterhielt seine hingerissenen Zuhörer mit Erzählungen über die verschwenderischen Ausschweifungen der Reichen, die die lauschenden Bauern sich kaum vorstellen konnten.

Alejandro war sich seiner Lage als Flüchtling sehr bewußt; er wollte keine Aufmerksamkeit erregen und verhielt sich still. Sein Desinteresse schlug schnell in Langeweile um. Er und Hernandez hatten es bislang geschafft, der Neuigkeit von der Ermordung des Bischofs vorauszureiten, und er hoffte glühend, daß ihnen das auch weiterhin gelingen werde. Noch immer vertraute er Hernandez nicht genug, um ihm zu sagen, was er getan hatte, während der Spanier vor dem Kloster auf ihn wartete. Er nahm allerdings an, der ältere Mann wisse, daß er nicht die Absicht gehabt hatte, dem Bischof für seine milde Behandlung zu danken.

Erst als ein zerlumpter Pilger anfing, von dem Pestschiff zu sprechen, richtete Alejandro sich aufmerksam auf. Der Mann hatte ruhig in der Ecke gesessen und hatte zügig sein Brot und seinen Käse verzehrt, obwohl er offensichtlich keine Zähne hatte. Graue Stoppeln bedeckten sein Kinn, und sein Geruch deutete darauf hin, daß er kürzlich in Tuchfühlung mit Maultieren gekommen war.

»Die Krankheit ist nicht mehr auf die Schiffsmannschaft beschränkt«, sagte er zur Verblüffung seiner Zuhörer. Gedämpftes Murmeln ging durch die Reihen der Gäste. »Die Vertreter der Com- pagnia haben ein paar Tage gewartet und dann Leute ausgeschickt, die die Schiffsladung an Land bringen sollten, ganz gegen den Willen des Hafenmeisters von Messina, der geschworen hat, die Angelegenheit zur richterlichen Entscheidung vor den örtlichen Dogen zu bringen.«

Alejandro war überrascht, wie beredt der Mann sich ausdrückte. Bei seinem zerlumpten Aussehen hatte er das nicht erwartet. Der Mann setzte seinen Bericht fort und schmückte ihn mit präzisen Einzelheiten über das Fortschreiten der Krankheit aus.

»Innerhalb weniger Tage wurden mehrere Mitglieder der Entladungsmannschaft krank; zuerst klagten sie über Halsschmerzen und ein Kratzen in der Kehle. Bald hatten sie alle Fieber, und ihre Zungen waren geschwollen und weiß. Einer nach dem anderen mußte sich zu Bett legen, und keiner stand mehr auf.«

Die Gäste der cantina hörten aufmerksam zu; sie waren entsetzt über die Geschichte des Mannes. »Nach ein paar Tagen wurden bei einem Mann die Gliedmaßen blau, dann schwarz; die Schwellung in seinem Hals war ein apfelgroßer Klumpen, gefüllt mit dickem gelbem Eiter und umgeben von blauen und schwarzen Flecken. Ebensolche Eiterherde erschienen bald an seinen Lenden und in den Achselhöhlen, und er hatte ständig Schmerzen. Seine Familie rief einen Arzt, der die riesigen Beulen öffnete.«

Die anderen Zuhörer stießen Rufe des Abscheus aus, aber Alejandro hörte aufmerksam zu und bedachte sorgfältig die möglichen Diagnosen. Er hörte, wie der Pilger von Delirien und Schweißausbrüchen, Perioden der Bewußtlosigkeit und anschließendem Schüttelfrost berichtete, bei dem der Kranke auf Eis zu liegen glaubte. Er erzählte auch davon, daß der arme Mann nicht mehr in der Lage gewesen war, seine Ausscheidungen zu beherrschen, und wie er nach und nach zum Skelett abmagerte, als der Körper einen letzten Versuch machte, die Krankheit zu überleben. Am Ende sei der Mann in tiefe Verzweiflung gestürzt und unter qualvollen Krampfanfällen gestorben.

Alejandro vergaß für einen Moment sein vorsichtiges Schweigen und fragte den Pilger: »Habt Ihr das mit eigenen Augen gesehen?«

»Nein, Herr, das nicht, ich habe die Geschichte von einem anderen Reisenden aus Messina. Aber ich zweifle nicht daran, daß er die Wahrheit sprach.«

Das tat auch Alejandro nicht; dennoch war die Geschichte nicht der Augenzeugenbericht, auf den er gehofft hatte.

Alle waren nun verstummt und dachten über die erschreckende Schilderung nach, die sie gerade gehört hatten. Der Berichterstatter wandte sich wieder seinem Mahl zu, tauchte sein restliches Brot in Bier und kaute entschlossen. Selbst der normalerweise überschwengliche Hernandez wirkte düster und zurückhaltend. Er erinnerte Alejandro daran, daß sie noch eine lange Reise vor sich hatten und daß es am besten wäre, das verbleibende Tageslicht auszunutzen, um vor Einbruch der Nacht das nächste Dorf zu erreichen. Sie brachen auf und machten sich in raschem Tempo auf den Weg zur Küstenstadt Carbere.

Das tiefblaue Mittelmeer glänzte im letzten Tageslicht; das Geräusch der Wellen, die sanft das Ufer liebkosten, beruhigte die beiden müden Männer; die Hufschläge ihrer Pferde hatten sie nun lange genug gehört. Alejandro hatte das Meer seit seiner Rückreise von der medizinischen Ausbildung in Montpellier nicht mehr gesehen, und sein Anblick war ihm willkommen.

In Carbere hatten sie ihre Wasserflaschen aufgefüllt und gedünsteten Fisch gekauft, der in große Blätter gewickelt war. Nun setzten sie sich bei Sonnenuntergang still an den Strand und genossen ihren Fisch, gefolgt von einem von Hernandez’ zahllosen Brotlaiben.

Im Unterschied zu Hernandez war Alejandro nicht ernüchtert über die Pestgerüchte, sondern unruhig und erregt. Er spekulierte über die Ursachen und machte sich laut Gedanken über die Schwierigkeit, ein solches Leiden zu behandeln.

»Niemals«, sagte er, »auch nicht in meinen Jahren auf der Medizinschule, habe ich von so gräßlichen Symptomen gehört. Sicher sind die Geschichten bei jeder Wiederholung stärker übertrieben worden; ich kann einfach nicht glauben, daß etwas so Entsetzliches einfach aus dem Nichts auftaucht.«

Hernandez hatte in seinen Kriegerjahren viele Fälle von Typhus und Cholera gesehen. »Trotz meiner glorreichen Geschichten«, sagte er traurig zu Alejandro, »ist der Krieg in Wirklichkeit selten glorreich. Die Geschichten helfen mir, das Elend zu vergessen, weil sie die Ehre des Sieges in den Vordergrund stellen; wenn ich mich genausooft an Blut und Pestilenz erinnern sollte, würde ich vor Kummer den Verstand verlieren. Das Schwert der Krankheit kostet ebenso viele Menschenleben wie das Schwert des Feindes.«

Alejandro merkte, daß diese Gedanken schwer auf Hernandez lasteten, denn seine übliche Fröhlichkeit war düsterem Schweigen gewichen. Als die Sonne untergegangen war, stand der alte Krieger auf, sammelte etwas trockenes Strandgras und zündete ein kleines Feuer an, damit sie noch eine weitere Stunde Licht hatten.

Sie schliefen im weichen Sand auf ihren Decken, eingelullt vom Rauschen des Meeres. Alejandro erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen am Horizont glänzten. Vergeblich bemühten sich die Seevögel, den morgendlichen Wellengang zu übertönen; sie kreischten und krächzten, als wollten sie Gott persönlich wecken.

Alejandro beschattete seine Augen gegen das helle Sonnenlicht und sah sich nach Hernandez um. Er fand ihn im kühlen Salzwasser, wo er sich in den Wellen erfrischte. Hernandez winkte ihm wild, er solle auch ins Wasser kommen, und Alejandro rollte schließlich seine Hosenbeine hoch und ging ein Stückchen hinaus; es gefiel ihm, Sand und Wasser zwischen seinen nackten Zehen zu spüren. Er kehrte auf den Strand zurück, zog sich aus und tauchte dann ganz in die Wellen.

Für ein paar Augenblicke waren sie so beide unbekümmert und sorglos; Hernandez schüttelte die verstörenden Erinnerungen an vergangene Kriege ab, und Alejandro fühlte sich sicher wie in der Zeit, als er noch nicht auf der Flucht gewesen war. Keiner von ihnen konnte die gestaltlose Bedrohung, die sich uneingeladen zu ihrem Reisegefährten gemacht hatte, ganz abschütteln. Sie saß ihnen in der Magengrube wie eine nagende, unterschwellige Angst. Beide wußten, daß diese kurze Idyll die Ruhe vor irgendeinem Sturm war, doch der Sturm blieb noch verborgen, war noch nicht bereit, sich zu zeigen.

Der Strand war fest und zum Reiten gut geeignet, und so ritten sie am Wasser entlang, wo es nur möglich war, genossen die kühlen Spritzer der Brandung und kehrten nur auf die Straße zurück, wenn der Strand für die Pferde zu felsig und gefährlich wurde. Sie kamen gut voran; Hernandez hoffte, gegen Abend die Uferstadt Narbonne zu erreichen, denn hinter Perpignan kannte er keine Süßwasserquelle mehr.

In Narbonne erfuhren sie, daß die Krankheit in Genua angelangt war. Alejandro war nicht sonderlich überrascht, daß sie den wichtigsten Handelshafen der Region erreicht hatte. Genua war das ursprüngliche Ziel des Pestschiffes gewesen, und seine verpestete Fracht war mit einer anderen Galeone dorthin befördert worden. Wenige Tage nach der Ankunft hatten einige Mannschaftsmitglieder, die nach der kurzen Reise wieder an Land gegangen waren, die gleichen Krankheitssymptome bekommen wie die Mannschaft des Geisterschiffs. Andere Matrosen und Handelsagenten hatten sich auf anderen Schiffen zu anderen Häfen aufgemacht, unter anderem nach Marseille, und hatten die unbekannte Ursache der Pestilenz mit sich genommen.

Zuerst breitete sich die Krankheit unter den Schiffsruderern aus, und nach und nach wurden sie alle in ihren Ketten sich selbst überlassen, tot oder sterbend. Man erzählte sich eine grauenhafte Geschichte über einen Galeerensklaven, den man tagelang schreien hörte; er flehte, man möge ihn freilassen, denn auf wunderbare Weise war er der Ansteckung entgangen. Doch statt durch die Pest starb er an Wassermangel, umgeben von den stinkenden Leichen seiner Schiffsgefährten, denn keiner wollte an Bord gehen, um das Wasserfaß in seine Reichweite zu stellen.

Alejandro und Hernandez verbrachten die Nacht in der Küstenstadt, da sie einen geeigneten Gasthof mit einem freien Zimmer gefunden hatten. Im Wirtshaus der Stadt drehte sich die Unterhaltung den ganzen Abend um neue Berichte von der Ausbreitung der Pest; kein anderes Thema weckte auch nur annähernd soviel Interesse. Man sprach in gedämpftem und ängstlichem Ton; unter den Bürgern herrschte große Furcht, die geheimnisvolle Krankheit könne auch ihren Bezirk erreichen.

Beim ersten Morgenlicht machten Hernandez und Alejandro, die ihre Vorräte schon am Abend erneuert hatten, sich wieder auf den Weg; irgendwie schien ihre Reise auf einmal dringender. Obwohl sie schon zuvor schnell vorangekommen waren, beeilten sie sich nun noch mehr, denn Montpellier war nur noch einen harten Tagesritt entfernt.

Als die Sonne unterging, trugen die schweißglänzenden Pferde ihre Reiter über die letzte kleine Erhebung zum Tor der alten Klosterstadt, wo Alejandro in seiner Jugend seine Ausbildung erhalten hatte.

»Ich sehe alles wieder so deutlich vor mir«, sagte er zu Hernandez, »obwohl die Stadt sich sehr verändert hat! Jetzt stehen Häuser, wo früher freies Land war, und einige der Straßen sind gepflastert!« Sie ritten in die Stadt hinein, und Alejandro zeigte auf das Haus, wo er bei einer bekannten jüdischen Familie gewohnt hatte. »Vielleicht sollte ich sie begrüßen«, sagte er zu Hernandez. Montpellier war ein Teil seiner Vergangenheit und erinnerte ihn an eine glückliche Zeit seines Lebens; plötzlich spürte er eine unerklärliche Sehnsucht nach etwas Vertrautem.

»Das solltet Ihr besser lassen«, sagte Hernandez nüchtern, »es sei denn, daß Ihr keinen Grund habt, Entdeckung zu fürchten.«

Alejandro wich seinen Blicken aus und ließ die Angelegenheit ohne Entscheidung fallen. Schweigend entfernten sie sich von dem Haus. Ein Stück weiter die Straße hinunter erreichten sie die ersten Gebäude der Universität, und Alejandro geriet sichtlich in Erregung. »Hier kann ein Jude studieren, ohne Mißhandlungen fürchten zu müssen«, sagte er. »Obwohl diese Schule von Priestern ge- gründet wurde. Die Familie, bei der ich wohnte, hielt mich unter strenger Aufsicht, so daß ich bei meinem Aufenthalt wenig mehr getan habe als studieren. Heute bereue ich, daß ich mir nicht die Zeit genommen habe, mehr über diese Stadt zu erfahren.«

Es herrschte geschäftiges Treiben in der Stadt, als sie durch die überfüllten Straßen ritten. Sie wollten unbedingt eine Unterkunft für die Nacht finden und hielten viele Leute an, um sie um Auskunft zu bitten; die meisten waren höflich, aber einige wirkten zerstreut und eilten nach einer kurzen Entschuldigung davon. Alejandros eingerostetes Französisch war bestenfalls bruchstückhaft, doch Hernandez, der die Sprache noch weniger beherrschte, verließ sich auf ihn.

Als sie schließlich untergekommen waren, fragte Alejandro den Gastwirt nach der hektischen Aktivität in der Stadt.

»Monsieur, eine schreckliche Krankheit sucht unsere Region heim. Wir dachten, sie wäre auf Marseille beschränkt, aber heute morgen kam ein Bauer in die Stadt und berichtete, daß er seine gesamte Schafherde tot auf der Weide gefunden hat. Ein Massensterben. Die Leute haben es eilig, die Stadt zu verlassen; sie fürchten die Ansteckung, denn keiner weiß, wer diese Pest mitgebracht hat und wie sie sich ausbreitet. Ich bin zwar froh über die Münzen, die ich von Euch bekomme, doch Ihr tätet gut daran, weiterzureisen und Euch schnellstens von diesem Ort zu entfernen.«

Nach dem Gespräch nahm Hernandez Alejandro beiseite. »Ich bin auch der Meinung, daß wir gut daran tun, diese Stadt so schnell wie möglich hinter uns zu lassen, doch heute nacht bleiben wir hier. Es paßt mir gar nicht, daß ich mich in Gesellschaft eines Arztes befinde, denn ihr könntet von einem Priester oder Behördenvertreter zum Dienst gezwungen werden. Verbergt Euren Beruf vor jedem, der danach fragt, oder sagt, Ihr wärt ein Gelehrter.«

»Hernandez«, antwortete Alejandro ihm, »Ihr verlangt zuviel von mir! Mein Eid verpflichtet mich, den Kranken und Verletzten uneigennützig zu dienen.«

»Junger Freund, ich flehe Euch an, schützt jetzt Eure eigene Gesundheit. Wenn Ihr unbedingt dienen wollt, dann seid Ihr vielleicht wesentlich nützlicher, wenn die Pest sich noch weiter ausbreitet. Wenn Ihr tot seid, könnt Ihr niemandem helfen, Euch selbst am allerwenigsten.«

Diese letzte Feststellung bewirkte, daß Alejandro ein ahnungsvoller kalter Schauer über den Rücken lief. Wenn Ihr tot seid, wiederholte er im stillen.

»Wenn ich tot bin, Hernandez, seid Ihr nicht mehr für mich verantwortlich.«

»Dann bitte ich in aller Bescheidenheit darum, daß Ihr mir gestattet, meine Vereinbarung mit Eurer Familie einzuhalten, indem ich Euch sicher in Avignon abliefere, denn die volle Bezahlung erhalte ich erst, wenn Ihr Euch unversehrt bei dem Bankier präsentiert, der den Schuldschein einlösen wird, den ich von Eurem Vater bei mir trage.«

Alejandro versprach Hernandez, auf sich achtzugeben, bis sie sicher in Avignon waren. »Bitte verzeiht mir, Hernandez, ich wußte nichts von dieser Vereinbarung. Ihr wart ein edler Gefährte und ein ehrenwerter Begleiter. Ihr habt mich beschützt, und dafür bin ich Euch dankbar. Ihr sollt Euer kleines Vermögen haben, denn Ihr habt es verdient. Allein wäre ich auf dieser Reise mit Sicherheit umgekommen.«

Hernandez verbeugte sich gravitätisch, schwenkte einen Arm vor dem Körper und sagte: »Zu Euren Diensten, Señor. Es war mir eine Ehre, Euch bei Eurer Reise in ein neues Leben beizustehen.«

Die streitsüchtige Atmosphäre war vergangen, und die beiden Reisenden schickten sich an, zu Bett zu gehen. Sie einigten sich darauf, am frühen Morgen zu ihrem eigentlichen Ziel Avignon aufzubrechen.