8

 

Janie schob die Plastikkarte in den Schlitz der lackierten Metalltür zu ihrer Hotelsuite. Sobald sie eingetreten war, ließ sie ihre Aktentasche zu Boden fallen und sank auf einen Stuhl. Sie lehnte sich zurück und streckte ihren großgewachsenen Körper lang aus; einen Arm ließ sie schlaff hängen, mit dem anderen bedeckte sie ihre Stirn. Die frustrierenden Geschehnisse des Tages hatten sie völlig erschöpft.

»Nur zu, Welt, schlag mich zusammen«, sagte sie zu Caroline, die ihr in das Zimmer folgte und die Tür hinter sich schloß. »Ich könnte ein paar weitere blaue Flecken gebrauchen.«

Caroline nahm sofort den in Plastik gehüllten Stoffkreis aus ihrer Handtasche und legte ihn in Janies Kühlschrank. »Baden wir etwa gerade ein bißchen in Selbstmitleid?« sagte sie dann, während sie sich Janie gegenüber an den kleinen Tisch setzte.

»Und wie«, sagte Janie, den Arm noch immer über den Augen. »Unter den gegebenen Umständen ist das völlig angemessen.« Einen Moment später richtete sie sich auf, rieb sich die Augen und seufzte. Sie betrachtete den Stapel Papier auf dem Tisch vor ihr und sagte: »So, und jetzt sollten wir feststellen, woher die fehlenden Proben stammen.«

Sie blätterte in den Papieren und fand sowohl die Karte mit dem Gitternetz als auch die Liste der Eigentümer. Sie verglich die Liste der achtundvierzig vorhandenen Proben mit der Gesamtliste und machte eine separate Aufstellung der Proben, die fehlten. Dann verglich sie diese Aufstellung mit der Karte und versah die Herkunftsorte der fehlenden Proben jeweils mit einem Kreis, der ein stirnrunzelndes Gesicht darstellte.

»Natürlich«, sagte Janie. »Sie sind über ganz London verteilt. Warum habe ich gedacht, die fehlenden Proben würden in einer sauberen, ordentlichen Reihe liegen?«

Caroline sah ihr über die Schulter. »Ignoranz? Dummheit? Wunschdenken?«

»All das und noch mehr«, sagte Janie. »Sie weisen keine logische Ordnung auf. Wer auch immer die Röhren entfernt hat, er hat wohl einfach die sechs erstbesten gegriffen und woanders gelagert.«

»So, wie es im Moment aussieht, bestimmt an irgendeinem möglichst unzugänglichen Ort«, sagte Caroline.

Janie legte die Papiere auf den Tisch und rieb sich erneut die Augen. Sie stützte die Ellbogen auf und legte für einen Moment den Kopf in die Hände. »Aber ich darf mich davon nicht unterkriegen lassen«, sagte sie und richtete sich wieder auf. »Ich fange jetzt mit den Anrufen an, damit wir sofort neue Proben entnehmen können. Den ganzen Papierkram brauchen wir nicht zu wiederholen; für die zweite Probe sollte eine mündliche Einwilligung reichen.«

Caroline war überrascht. »Sind Sie sicher, daß Sie das machen wollen?« fragte sie. »Warum warten Sie nicht, bis Sie von Ihrem Freund hören, bevor Sie alles noch einmal wiederholen, was wir schon erledigt hatten?«

Caroline nahm die Liste der Eigentümer zur Hand und sah nach, welche Janie angekreuzt hatte. Sie runzelte die Stirn. »Zwei von denen waren schwer zu überreden«, sagte sie. »Möglicherweise gibt keiner die Einwilligung für eine zweite Probe. Aber Gott sei Dank haben wir den letzten nicht auf der Liste. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß wir noch mal zu dem alten Mann gehen und sagen: >Verzeihung, Mr. Sarin, erinnern Sie sich vielleicht an diese Bodenprobe, die wir bei Ihnen gestohlen haben? Tut mir leid, aber wir müssen noch eine stehlen.< Ganz davon abgesehen, daß eine nächtliche Fahrt zu dieser Wiese mir für den Rest meines Lebens reicht. Was war das für ein unheimlicher Ort!«

Janie stimmte ihr zu. »Ja, allerdings«, sagte sie. »Aber wissen Sie was? Obwohl ich nicht bekommen habe, was ich wollte, mochte ich diesen alten Mann irgendwie gern. Er hat uns auf sehr liebenswürdige Weise abgewiesen.« Sie stieß sich vom Tisch ab, kippte ihren Stuhl nach hinten, legte einen Arm quer über ihre Brust und kaute am Ende eines Stifts. »Was mag er für eine Geschichte haben? Er lebt allein in dem alten Häuschen, nur mit dem Hund als Gesellschaft. Vermutlich ist er zu verschroben, um eine Frau oder Kinder zu haben.«

»Ich habe keine Bilder bemerkt, die nach Familie aussahen. Allerdings gab es eins von einer Frau und einem Jungen, das irgendwie altmodisch aussah, vielleicht aus den vierziger Jahren. Es war schwarzweiß, und die Frau trug hochgestecktes Haar und Schuhe mit klobigen Absätzen; vielleicht waren das seine Mutter und er.«

»Vielleicht. Er wirkte fast ein bißchen zurückgeblieben, finden Sie nicht? Vielleicht hat er nie geheiratet.«

»Ja, irgendwie eigenartig, aber ich weiß nicht, ob ich das als zurückgeblieben bezeichnen würde. Langsam, vielleicht. Jedenfalls stimmt mit ihm etwas nicht.«

Bevor Janie zu einem Schluß darüber kommen konnte, was Robert Sarin so von anderen Menschen unterschied, läutete das Telefon. Sie sprang auf und nahm nach dem ersten Klingeln ab.

»Hallo?« sagte sie erwartungsvoll.

Eine männliche Stimme sagte: »Geben Sie bloß acht, sonst könnte ich den Eindruck bekommen, daß Sie begierig auf meinen Anruf warten.«

Sie konnte beinahe hören, wie er am anderen Ende der Leitung lächelte. »Bruce?« sagte sie.

»Ja, Bruce.«

»Haben Sie sie gefunden?«

Er lachte leise. »Mir geht’s gut, und wie geht’s Ihnen?«

»Entschuldigung«, sagte sie. »Verzeihen Sie meine Ungeduld. Mir geht es auch gut. Und ich bin froh, von Ihnen zu hören.«

»Sie werden noch froher sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich hier einen Versandschein vor mir liegen habe, auf dem sechs Metallröhren verzeichnet sind, jede einen Meter lang.«

»Das ist ja wunderbar!« sagte Janie aufgekratzt. »Wo sind sie?«

»Tja, das ist der weniger erfreuliche Teil. Ich weiß es nicht genau. Sie könnten an einem von zwei Orten sein. Wir haben zwei Depots für langfristige Lagerungen, eines in Manchester und eines in Leeds. Aus dem Versandschein geht nur hervor, daß Proben von hier in beide Depots geschickt worden sind, aber welche wohin gingen, ist nicht verzeichnet. Ich habe schon bei beiden Depots angerufen, und ich rechne damit, daß sie mich spätestens morgen nachmittag zurückrufen.«

»Nicht mehr heute?« fragte sie, unverkennbar enttäuscht.

»Vielleicht auch noch heute, aber ich bin nicht sicher. Mit Bestimmtheit jedenfalls nicht später als morgen. Können Sie sich noch ein kleines bißchen gedulden?«

Sie seufzte und ließ sich auf ihrem Stuhl ein wenig zurückfallen. »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Wir brauchen diese sechs Röhren. Wir haben ein Gitternetz von Grabungsstätten angelegt, sechs mal neun Reihen, also könnten wir jeweils eine Sechserreihe an jedem Ende weglassen und hätten trotzdem eine gültige Stichprobe. Aber wir haben die Proben nicht reihenweise entnommen; wir sind viel willkürlicher vorgegangen, je nachdem, ob der Papierkram für eine bestimmte Grabungsstätte schon erledigt war oder nicht, und deswegen sind die Proben nicht in einer bestimmten Reihenfolge gelagert worden. Die fehlenden sind auf das ganze Gitternetz verteilt, also müssen wir entweder die Originale zurückbekommen oder neue Proben entnehmen. Caroline hat mir gerade erzählt, daß zwei der Eigentümer die ersten Proben nur widerwillig zugelassen haben, also wäre es vielleicht sinnvoll, noch einen Tag zu warten, damit wir nicht erneut an die Leute herantreten müssen.«

»Hört sich umständlich an. Wenn ich Sie wäre, würde ich vermutlich auch warten.«

»Leider verurteilt uns das zum Daumendrehen.«

Bruce lachte. »Wußten Sie nicht, daß Daumendrehen in London illegal ist? Der Oberbürgermeister hält es für ein schweres Vergehen. Es gibt ein ganzes Ministerium voller Bürokraten, die nur dafür zu sorgen haben, daß innerhalb der Londoner Stadtgrenzen keine Daumen gedreht werden.«

»Das überrascht mich gar nicht. Hier scheint es für alles und jedes ein Ministerium zu geben.«

»Na, vielleicht könnte ich Ihnen helfen, den Fallstricken der Langeweile zu entgehen. Haben Sie das Britische Museum schon gesehen?«

»Außer dem Griff einer Bohrröhre habe ich überhaupt nichts gesehen. Wir waren zu beschäftigt für Besichtigungen. Wir haben unsere gesamten Proben innerhalb von vier Tagen entnommen.«

»Donnerwetter.«

Janie seufzte. »Das können Sie laut sagen. Am zweiten und dritten Tag hatte ich ganz schönen Muskelkater. Ich bin nicht daran gewöhnt, mich so oft zu bücken.«

»Na, ich war selbst länger nicht mehr im Museum, also, warum gehen wir nicht heute abend zusammen hin? Ich kann Ihnen versichern, daß Sie sich dort nicht bücken müssen. Hinterher könnten wir vielleicht etwas trinken oder sogar essen und uns ein bißchen unterhalten.«

Janie zögerte mit der Antwort, weil sie überlegte, ob die Beziehung nicht besser rein beruflich bleiben sollte. Aber die Einladung war ziemlich verlockend und Bruce war ein sehr attraktiver Mann. Sei nicht so verkrampft, Janie, sagte sie zu sich selbst. »Warten Sie einen Moment«, sagte sie. Sie legte eine Hand über die Sprechmuschel und flüsterte Caroline zu: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, heute abend allein zu sein?«

Caroline zog ein wenig die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.

Janie nahm die Hand vom Hörer und sagte: »Ja, das wäre nett. Würde mir gefallen.«

»Gut«, sagte er. »Wird Spaß machen. Soll ich Sie gegen fünf abholen?«

Sie sah auf die Uhr; es war halb vier. Zeit genug, um mich präsentabel herzurichten, dachte sie. »Hört sich gut an«, sagte sie. »Bis später dann.«

»Okay. Bis nachher.«

»Wiedersehen«, sagte sie und legte auf.

»Was gibt’s?« fragte Caroline. »Hörte sich nach einer sehr freundlichen Unterhaltung an, vor allem gegen Schluß. Ich vermute, das bedeutet gute Nachrichten.«

»Ja. Er hat festgestellt, daß die Röhren an einen von zwei Orten geschickt worden sind, und morgen wird er wissen, wo sie sind.«

»Wunderbar!« sagte Caroline. »Gott, bin ich erleichtert! Aber was hat das damit zu tun, daß ich heute abend allein bin?«

»Das ist die bessere Nachricht«, sagte Janie grinsend. »Er führt mich heute abend aus.«

»Na fein«, sagte Caroline. »Man kommt nach London, um Daten zu sammeln, und im Ende springt auch noch ein Rendezvous dabei raus.«

»Ich hab seit fast zwanzig Jahren keins mehr gehabt. Ich bin nicht sicher, daß ich noch weiß, wie man das macht.«

»Wird schon klappen. Nach den ersten fünf Minuten fällt Ihnen alles wieder ein.«

»Ich hoffe, Sie haben recht.«

Janie und Bruce beugten sich über eine Glasvitrine in einem dämmrig beleuchteten Saal im ersten Stock des Britischen Museums. Die Vitrine war mit einem Tuch verhängt und mit einem Schildchen versehen: »Die Besucher werden gebeten, zur Betrachtung des Dokuments das Tuch abzunehmen und nach erfolgter Besichtigung freundlicherweise wieder über die Vitrine zu breiten.«

Während sie das Tuch anhob, sagte Janie: »Diese Briten! Immer höflich, selbst wenn sie einem vorschreiben, was man zu tun hat.«

»Etikette ist hier der nationale Zeitvertreib.«

»Das begreife ich auch allmählich.«

Janie nahm das Tuch weg, und Bruce las die Beschriftung neben dem Ausstellungsstück. »Brief von Papst Clemens VI. an König Edward III. geschrieben während des Schwarzen Todes im Jahre 1348, betreffend die Entsendung eines päpstlichen Vertreters an den englischen Königshof, um die königliche Familie vor der Beulenpest zu schützen.«

Das Pergament war braun vor Alter und die Tinte ziemlich verblichen. Janie konnte einige Wörter erkennen, aber nicht genug, um den Brief zu lesen. »Hui«, sagte sie, »das Ding ist aber alt.«

»Wirklich alt«, sagte Bruce und breitete das Tuch wieder aus. »Das gehört zu den Dingen, an die ich mich am längsten gewöhnen mußte, als ich neu nach England kam. Alles ist so alt.«

»Sie kommen aus Kalifornien, nicht?« fragte Janie.

»Daran erinnern Sie sich?« sagte er.

»Hier und da weiß ich noch das eine oder andere. Aber ich muß sagen, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher.«

»Meins auch nicht«, sagte Bruce. »Aber Sie haben recht. Los Angeles. In fast jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von England. Na ja, es gibt in Kalifornien ein paar Altertümer aus der Zeit der spanischen Besiedelung, aber die sind mit den hiesigen nicht zu vergleichen. Und hier ist auch alles so klein. Viel kleiner als in den Staaten. Die Menschen waren kleiner, als London erbaut wurde. Sie sind aus Massachusetts, nicht?«

»Ich lebe noch immer dort«, sagte sie. »In einer kleinen Stadt ganz im Westen. Etwa hundertfünfzig Kilometer von Boston entfernt. Wir haben da ein paar ziemlich alte Dinge, einige Häuser aus dem siebzehnten Jahrhundert; malerisch, typisch Neuengland; und eine hübsche alte Main Street mit Gebäuden aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert.«

Sie schlenderten weiter und tauschten dabei Bemerkungen über die verschiedenen Ausstellungsstücke und allgemeine Kommentare über ihr Leben; schließlich erreichten sie einen Saal mit ägyptischen Exponaten, von denen einige ziemlich groß waren. Auf einer Seite des Saales stand eine leere Bank. Sie setzten sich und kamen sich in diesem Raum voller sehr großer Objekte recht klein vor.

»Ob sich ein Hund wohl so fühlt, wenn er neben einer Couch sitzt?«

Bruce sah sich um. »Ein kleiner Hund vielleicht.«

Janie sah ihn an. Keine einzige Falte, dachte sie bei sich. Er erwiderte ihren Blick, und für einen unbehaglichen Moment sahen sie sich in die Augen. Janie durchbrach ihn, indem sie sagte: »Wie lange sind Sie schon hier? In England, meine ich.«

»Achtzehn Jahre«, sagte er.

»Das ist eine lange Zeit.«

»Ich weiß nicht, mir kommt sie eigentlich gar nicht so lang vor. Ted hat mich direkt nach meiner Assistenzzeit angeworben. Er kannte Dr. Chapman, der mein Chef war, und Chapman hat ihm von mir erzählt. Er hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte.«

»Und das Sie offenbar auch nicht abgelehnt haben.«

»Nein. Nach all den Jahren bin ich immer noch hier. Und ich habe es eigentlich nie bereut. Ich war an einigen wirklich aufregenden Forschungsprojekten des Instituts beteiligt.«

»Aus irgendeinem Grund hört sich das sehr abschreckend an, wenn Sie es so nennen.«

»Für manche Leute kann es auch ein sehr abschreckender Ort sein. Je nachdem, was Sie machen, kann die Arbeit dort Ihr ganzes Leben auffressen. Aber ich liebe meine Arbeit. Jeden Tag, wenn ich aufstehe, freue ich mich darauf. Das einzige Haar in der Suppe ist, daß ich als Mediziner eigentlich nie wirklich praktiziert habe, und ich glaube, das hätte mir gefallen. Ich war in meinem Labor aus Glas und Chrom von der wirklichen Welt isoliert und habe bloß geforscht und geforscht und geforscht.«

»Ich habe ungefähr fünfzehn Jahre praktiziert«, sagte Janie.

»Sie haben?«

»Ja. Im Augenblick praktiziere ich nicht.«

»Warum nicht? Gehört das zu der langen, traurigen Geschichte, die Sie erwähnt haben?«

»Ja. Wollen Sie sie hören? Das dauert eine Weile.«

Er sah auf seine Uhr. »Vorerst wird man uns hier noch nicht raus werfen.«

»Okay, gut«, sagte sie. Sie atmete tief ein. »Als es zu den ersten Ausbrüchen kam und so viele Leute starben, hatte gerade die ganze medizinische Umorganisation stattgefunden. Sie hatten die Formel für die Verteilung der Ärzte noch nicht optimiert; wenn ich darüber nachdenke, haben sie das immer noch nicht getan. Jedenfalls gab es auf den verschiedenen Fachgebieten viele überschüssige Ärzte. Ich war Chirurgin; die Chirurgie gehörte zu den überbelegten Kategorien. Die Allgemeinärzte kamen regelmäßig mit Infizierten in Berührung, und infolgedessen starben viele von ihnen. Es war keiner übrig, um Halsschmerzen zu behandeln, und so erließ der Kongreß eine Notverordnung, in der bestimmte Spezialistengruppen der Allgemeinmedizin und anderen Mangelbereichen zugeteilt wurden. Aber es gab noch immer zu viele Ärzte für die verbliebene Bevölkerung, und ein großer Teil der Mittel für die Gesundheitsvorsorge wurde von den Kosten, die durch die Epidemie entstanden waren, aufgefressen; um das Bundesbudget auszugleichen, wurden etliche von uns buchstäblich kaltgestellt.«

»Kaltgestellt?« sagte er. »Ich verstehe nicht.«

»Man hat uns einfach befohlen, nicht weiter zu praktizieren.«

»Hört sich an wie ein gefundenes Fressen für Rechtsanwälte.«

»O ja, das war es auch. Die Klagen werden dauern bis in alle Ewigkeit. Ich bin an mehreren Gemeinschaftsklagen beteiligt. Aber mein Anwalt sagt, unter Notstandsbedingungen wären solche Maßnahmen im wesentlichen legal. Krieg, Hungersnot, Pest, solche Situationen. Der Kongreß kann durch Gesetze alles legal oder illegal machen. Letztlich liegt es bei den Gerichten, darüber zu entscheiden, ob die Gesetzgebung gegen die Verfassung verstößt oder nicht, und wir wissen ja alle, wie schnell die arbeiten. Also ist die eigentliche Frage nicht, ob diese Bestimmungen standhalten oder nicht, für mich jedenfalls nicht; die eigentliche Frage ist, wie lange es dauern wird, sie wieder loszuwerden. Und das kann eine Weile dauern. Inzwischen haben sie uns die Möglichkeit gegeben, an einer Lotterie teilzunehmen, bei der uns nach dem Zufallsprinzip neue medizinische Fachgebiete zugeteilt wurden, mit Umschulung, falls nötig.«

»Und Sie haben offenbar von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht«, sagte er.

Sie nickte.

»Und was ist dabei herausgekommen?«

»Forensische Archäologie.«

»Na, das ist so ziemlich das obskurste Spezialgebiet, von dem ich je gehört habe.«

Janies Ton wurde sehr sarkastisch. »Nicht so obskur, wie man meinen sollte. Die erforderlichen Fertigkeiten liegen irgendwo zwischen denen eines Archäologen und eines Leichenbeschauers. Da gab es nämlich viele freie Stellen, weil von denen auch eine Menge umgekommen sind. Sie hatten zuerst mit den Leichen zu tun.«

»Und starben zweifellos wie die Fliegen.«

Sie nickte.

»Sie sprachen heute nachmittag von einer Zulassung.«

»Ja. Ich muß bestimmte Kurse belegen, die ich vorher nicht gebraucht hätte, und dann muß ich eine Doktorarbeit schreiben. Darum dreht es sich bei der gegenwärtigen Reise.«

Bruce atmete tief aus und schüttelte den Kopf. »Ich vermute, es geht uns hier viel besser, als wir gedacht hatten. Vielleicht werde ich ganz hierbleiben.«

»Haben Sie Ihre Staatsbürgerschaft geändert?« fragte Janie.

»Nein«, sagte er, »und das werde ich wohl auch nie tun, denke ich. Ich bin zu gern Amerikaner. Zumindest hier verschafft mir das ein gewisses Prestige.«

»Wann waren Sie zuletzt in den Staaten?«

»Oh, Gott, wenn Sie mich das fragen ... das ist mindestens fünf oder sechs Jahre her.«

»Also vor dem Ausbruch.«

»Ja.«

Janie seufzte. »Ihnen würde vielleicht nicht so viel an Ihrer Staatsbürgerschaft liegen, wenn Sie seither dort gewesen wären. Es geht wirklich drunter und drüber.«

»Ich habe einiges gehört, Zeitungen gelesen, CNN gesehen; wahrscheinlich muß man es aus erster Hand erfahren.«

»Ja, wahrscheinlich«, sagte sie. »Das Leben in den Staaten hat heutzutage so etwas Martialisches, das in den Medienberichten nicht zum Ausdruck kommt. Keiner redet groß darüber, aber alle wissen, daß es da ist. Es ist nicht so, als würde überall eine Art Gestapo herumlaufen oder so; eher so, als hätte jemand während der Ausbrüche Gestapo- Parfum in die Luft gespritzt, und der Gestank ginge nicht mehr ganz weg. Wie ein totes Stinktier. Das riecht man auch ewig lange.«

»Davon hab ich ein bißchen was gehört; ich hab’s wohl ignoriert. Ich habe auch eigentlich keinen Grund, mich allzusehr darum zu kümmern, denn ich habe nicht vor, in nächster Zeit zurückzugehen. Ich habe versucht, den Kontakt mit den Leuten dort aufrechtzuerhalten, aber ich habe mich wohl nicht allzu geschickt angestellt. Mein ganzes berufliches Leben spielt sich hier ab. Ich habe drüben ein paar alte Freunde, aber das ist auch alles, und keiner von denen interessiert sich sonderlich für Politik. Meine Eltern sind tot, und Geschwister habe ich nicht.«

»Meine Eltern sind auch tot; es fühlt sich an, als wären wir bei den Ausbrüchen um ein oder zwei Generationen zurückgefallen. Früher hatten Leute in unserem Alter ihre Eltern noch. Bis vor zwei Jahren hatte ich sogar noch eine Großmutter; sie ist allerdings nicht während der Ausbrüche gestorben. Sondern an Altersschwäche. Wurde eines Morgens nicht mehr wach. Meine Eltern hatten nicht solches Glück.«

Sie senkte den Kopf und schwieg einige Augenblicke. Bruce sagte nur leise: »Das tut mir leid.«

»Danke«, sagte sie. »Mir auch. Sie fehlen mir.«

Er fragte sich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt war, um ihr die andere Frage zu stellen, die ihm keine Ruhe gelassen hatte. Naja, wir reden doch von der Familie, beschwichtigte er sich. »Sie sagten, daß Sie jetzt Crowe heißen. Sind Sie verheiratet?«

Nach einem tiefen Atemzug sagte sie leise: »Ich war es.«

»Haben Sie Kinder?«

Eine bedeutungsschwere Pause trat ein, und dann antwortete sie so leise, daß er sie kaum verstehen konnte: »Ich hatte ein Kind.«

»Oh, mein Gott ...«, sagte er betroffen, als ihm der Sinn dessen aufging, was sie gerade gesagt hatte. Sie hat alles auf einmal verloren, dachte er, bestürzt über die niederschmetternde Wucht dieser Vorstellung. »Janie, es ... es tut mir so leid. Ich hatte keine Ahnung. Sonst hätte ich das nicht angesprochen. Hier war es nicht so schlimm, und wir sind einfach nicht an den Gedanken gewöhnt, daß jeder jemanden verloren hat.«

Mit einem kleinen, schluchzenden Laut atmete sie einmal ein, und eine Träne lief ihr aus einem Augenwinkel. Sie rann bis zur Nasenspitze, hing dort ein paar Sekunden und fiel dann in ihren Schoß. Sie wandte den Kopf zur Seite und sah ihn an; er glaubte, noch nie ein so trauriges Menschengesicht gesehen zu haben. Sie versuchte zu lächeln. »Ist schon gut«, sagte sie. »Sie konnten es ja nicht wissen.«

Sie richtete sich auf, schniefte und wischte sich sehr unelegant die Nase am Ärmel ab. »Ich habe anscheinend nie ein Taschentuch bei mir«, sagte sie. »Glauben Sie, daß das Ministerium für Etikette versuchen wird, mich festzunehmen?«

Bruce lachte. Er war dankbar, daß sie nicht die Fassung verloren hatte. In ihrer Lage wäre ihm das sicher passiert. »Ich sag’s nicht weiter«, sagte er. »Aber wahrscheinlicher ist, daß Sie vom Gesundheitsministerium verhaftet werden, wegen öffentlicher Freisetzung von Körperflüssigkeiten. Aber das werde ich auch nicht weitererzählen.«

Sie wußte, daß er scherzte, aber etwas an seinem Ton, als er über das Gesundheitsministerium sprach, brachte sie zu der Annahme, daß es ein schwerer Verstoß war, in aller Öffentlichkeit Tränen zu vergießen und sich zu schneuzen. Sie schniefte noch einmal, leise und, wie sie hoffte, dezent. Niemand von den Leuten ringsum schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit, und so verging ihre Verlegenheit nach ein paar Augenblicken. »Danke«, sagte sie schließlich mit einem schwachen Lächeln. »Ich weiß Ihre Diskretion zu schätzen. Und was ist mit Ihnen?« fügte sie mit festerer Stimme hinzu. »Sind Sie verheiratet?«

»Nein«, sagte er. »Den Sprung habe ich nie gewagt.«

»Schande über Sie«, sagte sie gespielt spöttisch; überrascht merkte sie, daß ihr Anfall von Trauer ohne bitteren Beigeschmack vergangen war. Vielleicht wird es ein bißchen leichter, dachte sie im stillen. »Sie haben sich der moralischen Verantwortung entzogen, die Population der alleinstehenden Frauen zu verringern.«

Er lachte. »Sie sagen das mit soviel weiblicher Autorität! Wenn die richtige alleinstehende Frau vorbeigekommen wäre, hätte ich meine sozialen Pflichten nur zu gern erfüllt. Aber wie ich schon sagte, eigentlich bin ich mit meiner Arbeit verheiratet. Wenn bei uns ein interessantes Projekt läuft, wird mein Leben ziemlich hektisch. Ich kenne keine, die sonderlich scharf darauf wäre, das mitzumachen.«

»Hört sich an, als läge Ihnen wirklich an Ihrem Beruf.«

»Ich liebe ihn. Ich bin der glücklichste Einzelgänger der Welt.«

»Ich beneide Sie. Ich bin schon fast zwei Jahre keine Chirurgin mehr.«

Er warf ihr einen sehr mitfühlenden Blick zu. »Meine Güte, das muß hart für Sie sein. Kommen Sie denn zurecht?«

»Finanziell, meinen Sie?«

Er nickte.

»Alle in meiner Familie waren gut versichert. Und sie kamen alle schon zu Beginn der Ausbrüche um, als die Versicherungen noch zahlten. Dann hinterließ meine Großmutter mir ihr ganzes Vermögen, und das war ziemlich beträchtlich. Geld ist meine allerletzte Sorge. Und das ist gut so, weil ich viel davon für Reisen verbraucht habe, um dieses Projekt durchzuziehen. Sie können sich nicht vorstellen, wie kompliziert es ist, heutzutage Visa zu bekommen. Man läßt Sie die Ein- und die Ausreise bezahlen.«

»Na ja, ich vermute, all die Einschränkungen, die man hier eingeführt hat, waren letzten Endes doch eine gute Idee.«

»Ich glaube auch. Hier bei Ihnen war es nicht annähernd so schlimm wie bei uns. Und die britische Regierung hat keine Zeit verloren. Wir haben unsere Grenzen erst fast ein Jahr nach dem Ausbruch dichtgemacht, und das war meiner Meinung nach ein großer Fehler. Dumm, vor allem wenn man bedenkt, daß es aus Mexiko zu uns kam. Ich meine, Gott behüte, wir wollen den Menschen, die nicht einmal unsere Staatsbürger sind, ja nicht das Recht wegnehmen, tödliche und hochinfektiöse Krankheiten einzuschleppen. Und wir würden ungern die Gelegenheit versäumen, für ihre Behandlung zu bezahlen.«

»Klingt da etwas von einem Redneck durch, Mrs. Crowe? Was ist aus Ihrem hippokratischen Eid geworden?«

Sie sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte: »Wenn ringsum die Leute zu Hunderten sterben und Sie nichts, aber auch gar nichts dagegen tun können, dann kommt Ihnen der hippokratische Eid ziemlich blödsinnig vor. Sie tun einfach, was getan werden muß, mit oder ohne Eid.«

Er fühlte sich getadelt. »Ich war noch nie in so einer Situation. Wahrscheinlich kann ich sie mir gar nicht vorstellen.«

»Ich hatte auch nie gedacht, daß ich so etwas erleben würde. Ich dachte, ich würde meine ganze berufliche Laufbahn damit zubringen, in aller Ruhe irgendwelche Dinge aufzuschneiden und andere zuzunähen. Aber einiges von dem, was ich gesehen habe, Bruce, würden Sie einfach nicht glauben. Haufen von toten Babys mit schwärenden Wunden, alle aus einer einzigen Säuglingsstation. Leute mit sichtbaren Anzeichen der Infektion vor erhobenen Gewehren, die erschossen wurden, wenn sie wegzulaufen versuchten. Sogar Kinder. Es war einfach unbeschreiblich. Ich könnte endlose Horrorgeschichten erzählen.«

Darauf hatte Bruce nicht viel zu antworten, und Janie war es leid, über die Ausbrüche zu sprechen; das hatte sie schon viel zu oft getan. Also saßen sie schweigend da und starrten vor sich hin. Über Lautsprecher erklang eine Frauenstimme, die verkündete, das Museum werde in zehn Minuten geschlossen.

»Also«, sagte Bruce und stand auf, »sollen wir etwas essen gehen?«

»Ach, wissen Sie, ich glaube, ich habe im Augenblick keinen großen Hunger«, sagte Janie. »Vielleicht sollte ich einfach in mein Hotel zurückgehen.«

»Aber der Abend ist noch jung«, protestierte Bruce.

»Leider fühle ich mich im Moment nicht sonderlich jung. Ich glaube, ich habe gar nicht gemerkt, wie mich all diese Komplikationen ermüdet haben. Ich bin ohnehin noch nicht an den Zeitunterschied gewöhnt. Vielleicht sollte ich mich mal richtig ausschlafen. Darf ich ein andermal auf Ihr Angebot zurückkommen?«

Bruce war enttäuscht und machte auch keinen Versuch, das zu verhehlen, nahm den Korb aber recht liebenswürdig hin.

»Natürlich«, sagte er. »Jederzeit.«

Mit dem Versprechen, sie am nächsten Tag anzurufen, sobald er etwas aus einem der beiden Lagerungsdepots hörte, brachte er sie mit einem Taxi zu ihrem Hotel zurück. Janie ging sofort nach oben, nahm eine sehr heiße Dusche und legte sich zu Bett. Sie hatte unzusammenhängende Träume von ihrem Mann und ihrer Tochter.

Als das Telefon am nächsten Morgen läutete, fühlte Janie sich nicht so, als hätte sie zehn Stunden geschlafen. Benommen nahm sie den Hörer ab.

»Guten Morgen«, sagte Bruce.

Ohne die Augen zu öffnen sagte Janie: »Sind Sie morgens immer so fröhlich?«

»Habe ich Sie geweckt?« fragte er.

Sie schlug die Augen auf und schaute auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war bereits viertel nach zehn. »Ich gebe es ungern zu, aber das haben Sie. Ich muß den Schlaf nötig gehabt haben. Sonst stehe ich mit den Hühnern auf.«

»Soll ich Sie zurückrufen, wenn Sie richtig wach sind?«

»Nein. Sie hören sich so fröhlich an, daß ich lieber hören möchte, was Sie zu sagen haben.«

»Aha«, sagte er amüsiert, »Sie haben meinen Enthusiasmus bemerkt. Gut. Das hatte ich gehofft. Ich habe die Proben gefunden, und sie befinden sich im näher gelegenen der beiden Depots.«

Janie hatte mindestens fünfzig Fragen, aber sie war noch zu schläfrig, um sie in ihrem Kopf zu organisieren. Sie setzte sich im Bett auf, schüttelte den Kopf, um die Schlaftrunkenheit zu vertreiben, und fragte dann: »Wie schnell kann ich sie zurückbekommen?«

»Das kommt darauf an, welchen Stellenwert sie da oben haben. Ihre Arbeit ist für die Leute dort bestimmt nicht vorrangig. Die schnellste Art, sie zu beschaffen, wäre wahrscheinlich, mit dem Auto hinzufahren und sie zu holen.«

»Nicht mit dem Flugzeug? Das ist eine lange Fahrt, nicht?«

»Ja; ich glaube, wenn Sie sie mit dem Flugzeug transportieren wollten, dürften Sie auf etliche bürokratische Hindernisse stoßen. Ich weiß ja nicht, wie das in den Staaten ist, aber hier muß alles, was im Frachtraum eines Flugzeugs transportiert wird, gewisse Kriterien erfüllen. Deswegen könnte Fliegen sogar länger dauern als Fahren. Soweit ich im Labor gesehen habe, sehen Ihre Proben ein bißchen zu sehr wie Bomben aus.«

»Okay, ich werde einen Wagen mieten ...«

Er unterbrach sie. »Da gibt es noch ein kleines Problem. Sie brauchen bestimmte Genehmigungen, um die Einrichtung betreten zu dürfen. Ich habe die meisten, die man braucht. Ted hat sie alle. Aber wenn Sie allein fahren, müssen Sie wochenlang da rumsitzen, während irgendein Unterminister entscheidet, ob Sie in Ihrem eigenen Land eine loyale Bürgerin waren und ob Sie wissenschaftlich qualifiziert sind, mit biogefährlichen Materialien zu hantieren. Sie können sich sicher vorstellen, daß man Ihnen alle möglichen Schwierigkeiten machen wird.«

»Hat Ihr Direktor, wie hieß er noch .«

»Ted.«

»Hat Ted irgendwelchen Einfluß?«

»Hat er. Er kann Dinge ziemlich schnell bewegen. Aber leider war in diesem Fall Frank derjenige, der alle Trümpfe in der Hand hatte. Er kannte die Leute, die diese Depots leiten, beim Vornamen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß Sie keine solchen Schwierigkeiten hätten, wenn er nicht gestorben wäre.«

»Erinnern Sie mich nicht daran. Aber gut, okay, ich muß mich also auf Teds Hilfe verlassen, um da reinzukommen.«

»Langsam, langsam. Vielleicht läßt man Sie trotzdem nicht rein, und Sie müssen warten, bis überhaupt jemand Zeit für Sie hat. Und schon stehen Sie wieder am Anfang.«

Jeder Vorschlag, den sie machte, warf irgendein Problem auf. »Es ist doch kein radioaktiver Abfall!« sagte sie wütend. »Es handelt sich bloß um schlichte Erde! Die Art Erde, in der früher unsere Nahrung wuchs!« Sie verfiel in den jammernden Tonfall von jemandem, der sich selbst bedauert. »Ach, zum Teufel damit«, sagte sie schließlich. »Es wäre viel einfacher, die ganze Sache zu vergessen und nach Hause zu fahren. Es war bloß eine Riesenverschwendung von Zeit und Geld.«

»Ich habe eine Idee«, sagte Bruce. »Ich werde Ted bitten, vorher dort anzurufen, damit die Sache schneller geht. Dann fahre ich mit Ihnen hin, und wir bringen die Proben in meinem Wagen zurück. Ich habe relativ leicht Zutritt; Sie brauchen also bloß durchs Fenster zu gucken und die Röhren zu identifizieren, damit wir sicher sein können, daß es die richtigen sind.«

Janie war von seinem Angebot überwältigt. »Das ist ein großer Aufwand von Zeit und Mühe für jemanden, der bloß ein zufälliger Bekannter von vor zwanzig Jahren ist. Wahnsinnig nett von Ihnen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Sagen Sie: >Danke, Bruce, ich fände es wunderbar, wenn Sie mit mir fahren würden.<«

Sie lachte. »Okay. Danke, Bruce, ich fände es wunderbar, wenn Sie mit mir fahren würden.«

»Das hört sich schon besser an.«

Sie schwieg einen Augenblick und fragte dann: »Warum tun Sie das?«

»Aus dem besten Grund, den es gibt«, antwortete er. »Weil ich es möchte. Es ist schön, hin und wieder hilfreich sein zu können. Gibt mir ein gutes Gefühl.«

Janie lächelte in den Hörer. »Und mir gibt es ein sehr gutes Gefühl. Ich hatte gerade eine Aufmunterung nötig.«

»Freut mich, daß ich sie Ihnen geben kann. Aber richten Sie sich darauf ein, daß Sie sich sogar noch besser fühlen werden. Ich glaube, ich kann es so einrichten, daß Sie im Labor Ihre Arbeit selbst durchführen können. Ich habe etwas freie Zeit, bis unser neues Projekt anfängt, und ich kenne die meisten Apparate. Ted hat schon gesagt, er könne Ihnen die notwendigen Genehmigungen beschaffen, sofern keine von Ihnen in den letzten paar Jahren Bomben auf ein Regierungsgebäude geworfen hat.«

»Mein Gott, Bruce, ich bin sprachlos. Ich weiß schon wieder nicht, was ich sagen soll.«

»Sagen Sie: >Ja, Bruce, Sie können mit mir daran arbeiten<.«

»Das ist das sprichwörtliche Angebot, das ich nicht ausschlagen kann. Ich bin einverstanden.«

»Gut. So, und wenn Sie sich jetzt aus dem Bett aufraffen und heute nachmittag herkommen könnten, könnte ich anfangen, Ihnen alles zu zeigen. Wenn Ihre Assistentin tüchtig genug ist, kann sie allein arbeiten, wenn ein Wachmann dabei ist. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, sich jemanden zuteilen zu lassen. Auf diese Weise kann sie arbeiten, während Sie und ich nach Leeds fahren.«

»Das ist zuviel.«

»Nein, ist es nicht; es ist nur ordentliche britische Gastfreundschaft.«

»Dann ziehe ich vielleicht auch hierher. Zu Hause geht man nicht so freundlich mit mir um. Es hat den Anschein, als würden sie denken, daß nette Behandlung die Leute womöglich glücklich machen könnte oder etwas ähnlich Schlimmes.«

»Na, na«, sagte er, um ihre gute Laune wieder- herzustellen. »Die Polizei für Etikette schätzt Sarkasmus überhaupt nicht.«

»Ich werde versuchen, mir das zu merken«, sagte sie mit einem bitteren Unterton. »Also dann, bis später.«

»Ich freue mich.«

Sie suchten Bruce in seinem Privatbüro auf. Janie sah sich um, während sie im Vorzimmer warteten. Die Einrichtung war sehr männlich, dunkel und gepflegt, fast wie er selber. Die Sekretärin hinter dem Schreibtisch in Schwarz und Chrom war eine ältere Frau, ziemlich großmütterlich mit Rüschen und Perlen und stark toupierten Haaren, die etwas bläulich schimmerten. Die hat er sich vermutlich nicht ausgesucht, und sie hat diese Möbel ganz bestimmt nicht ausgesucht, dachte Janie und nahm an, daß Bruce sich persönlich um die Einrichtung gekümmert hatte. Ihr gefiel die Vorstellung, daß er das wahrscheinlich nicht von seiner Untergebenen hatte erledigen lassen.

Er kam aus dem inneren Büro und sah frisch und sauber gewaschen aus, und während sich alle begrüßten, dachte Janie, daß er sich sehr wohl fühlte, sowohl in seiner eigenen Haut als auch in den Räumen, die sein berufliches Reich waren. Alles um ihn herum schien ordentlich an seinem Platz zu sein; offensichtlich war es ihm gelungen, seine

Arbeitsumgebung so zu beeinflussen, daß sie perfekt zu ihm paßte. Sie kam gar nicht auf die Idee, es könne womöglich umgekehrt sein und er habe sich seiner Umgebung angepaßt. Obwohl sie ihn viele Jahre nicht gesehen hatte, erinnerte sie sich noch, daß seine Persönlichkeit auf positive Art zu stark war, um sich von den Umständen formen zu lassen. Einen Moment lang empfand sie Neid auf die augenscheinliche Leichtigkeit, mit der er sich im Leben bewegte, und den Einfluß, den er auf die Dinge seiner Umgebung zu haben schien.

»Sehr schön«, sagte sie zu ihm.

»Danke«, sagte er und bestätigte dann ihren Verdacht, als er fortfuhr: »Das habe ich vor ein paar Jahren gemacht. Vorher war alles ein bißchen zu voll.«

Aus dem Augenwinkel nahm Janie wahr, daß die großmütterliche Sekretärin sich leicht versteifte, als sei sie hochbeleidigt über seinen Kommentar, würde aber eher eine Kröte schlucken, als sich das anmerken zu lassen. Vielleicht hat sie Bruce ausgesucht, spekulierte Janie, zu einer Zeit, als dieses Büro eher zu ihr paßte, und leidet jetzt mit stoischer britischer Würde unter der Einrichtung, die er ausgesucht hat. Sie nahm sich vor, diese Frage in die Liste derer aufzunehmen, die sie ihm auf der langen Fahrt nach Leeds stellen wollte.

Als sie durch die Korridore des Instituts gingen, kam Janie sich sehr klein vor. Wände und Decken waren alle im gleichen matten Weiß gehalten, und der Fußboden bestand aus hellem Linoleum. Alte Rohre, die wohl einst zur ursprünglichen Heizanlage des Gebäudes gehört hatten, waren in weichen, pastelligen Regenbogenfarben lackiert und bemerkenswert frei von Staub, woraus sie schloß, daß das Ventilationssystem fabelhaft sein mußte.

»Das ist ein toller Bau«, sagte sie zu Bruce. »Er sieht wirklich gepflegt aus. Nicht dieses Kleb-ein- Pflaster-drauf-Aussehen, das so viele alte Gebäude haben.«

»Ich weiß«, sagte Bruce. »Sie halten es wirklich gut in Schuß. Es ist seit dem späten neunzehnten Jahrhundert ständig in Gebrauch. Ursprünglich wurde es als Krankenhaus gebaut. Während der Grippeepidemie 1918 war es überfüllt. Und dann, im Ersten Weltkrieg, gab es hier auf den Gängen eine Menge verwundeter Soldaten. Die Stationen konnten sie einfach nicht mehr aufnehmen. Überall wurden Operationsräume eingerichtet, um die vielen Verwundeten zu versorgen. Man hat hier auch zahlreiche Opfer von Senfgas behandelt.«

Sie dachte an das Grauen dieser Zeit und konnte förmlich spüren, wie es aus den Wänden drang, während sie weiterging. Vor ihrem inneren Auge sah Janie Reihen von Bahren, die die Korridore säumten, und in jedem schmalen Bett irgendeinen leidenden Jungen von knapp zwanzig Jahren oder eine alte Frau im heißen Klammergriff der Influenza. Sie sah das öde Hospitalgrün, das man damals in der irrigen Hoffnung bevorzugt hatte, die kühle Farbe vermittle ein heiteres Gefühl von Keimfreiheit, einem Zustand, den man erst fünfzig Jahre später mit der Entwicklung der Antibiotika erreichen sollte. Was war die Ära der Antibiotika für eine berauschende Zeit, dachte sie bei sich, wir konnten fast alles heilen. Das ist jetzt vorbei. Sie konnte die Rohre an der Decke beinahe zischen hören und die ölige Rußschicht sehen, während sie weiterging; stöhnende Landser zupften an ihr und flehten sie an, ihnen etwas zur Linderung ihrer Schmerzen zu geben; die alten Frauen, die nach Tod rochen, seufzten nur, da sie wußten, daß ihnen nicht mehr zu helfen war. Die Bilder standen ihr so klar vor Augen, daß sie blaß wurde; sie schauderte leicht, versuchte die imaginäre Szene abzuschütteln und war dankbar, als sie wieder klar sehen konnte und die Wände wieder weiß waren.

Bruce sprach noch immer über die Geschichte des Gebäudes, als Janie aus der grüngestrichenen Phantasie in die weiße Realität ringsum zurückkehrte; nach einer weiteren Biegung des Korridors erreichten sie die Metalltür des Labors mit dem kleinen Fenster aus dickem, drahtverstärktem Glas. Bruce legte die rechte Hand flach auf ein graugrünes Paneel rechts von der Tür, und nach ein paar Sekunden hörte Janie das elektronische Schloß klicken. Bruce bewegte die Türklinke. Die Tür ließ sich schwer öffnen, und er winkte sie herein. Während sie die Tür passierten, hörte Janie ein elektrisches Summen, sie drehte sich um und sah, daß der graugrüne Schirm einen blauen Ton angenommen hatte, der nach ein paar Sekunden verblaßte.

»Er reinigt sich«, erklärte Bruce. »Nachdem wir diese Schlösser installiert hatten, stellten wir fest, daß Erkältungen unter dem Laborpersonal häufiger waren als in anderen Abteilungen. Deshalb versahen wir einen der Techniker mit einem harmlosen, nicht infektiösen Virus. Im Labor haben wir es nicht gefunden; offenbar hielten sich alle an die vorgeschriebenen Prozeduren. Aber es war überall auf den Platten, die den Handabdruck identifizieren, und deshalb rüsteten wir sie so nach, daß sie sich selbst sterilisieren. Ein elektrischer Strom fließt durch die Oberfläche des Schirms, nicht stark genug, um irgend jemanden zu verletzen, aber ausreichend, um alle Tierchen zu töten, die sich da herumtreiben. Das wird wiederholt, bis keine Mikroben mehr zu entdecken sind.«

»Sehr clever«, sagte Janie. »Sehr effizient.«

»Wir geben uns Mühe«, sagte Bruce. »Und jetzt möchte ich Ihnen die Geräte zeigen.« Er führte Janie und Caroline im Labor herum, wies auf Sperrzonen, die von niemandem als speziell dazu ermächtigten Mitarbeitern betreten werden durften, und prüfte dabei, ob alle diese Bereiche ordnungsgemäß gesichert waren. Er erklärte ihnen die Arbeitsweise aller Geräte, die sie für ihre Bodenanalysen benutzen würden, und zeigte ihnen, wo die Bedienungsanleitungen waren, falls sich Probleme ergeben sollten. Er erklärte die Entsorgungssysteme und zeigte ihnen, wie man in Notfällen das Sicherheitspersonal alarmierte. Er zeigte ihnen auch das Kommunikationssystem und erläuterte, wie er und Ted zu erreichen waren.

»Die meisten dieser Geräte habe ich früher schon benutzt«, sagte Caroline, »aber sie sind alle verbessert worden. Ich glaube allerdings nicht, daß ich lange brauchen werde, um mich daran zu gewöhnen. Das Problem ist bloß, daß ich frustriert sein werde, wenn wir in unser Labor an der Universität zurückkommen und ich wieder mit den veralteten Apparaten arbeiten muß.«

»Da kann ich Ihnen leider nicht helfen«, sagte Bruce.

»Vielleicht müssen Sie auch nach England ziehen«, sagte Janie zu Caroline. »Gut, daß Sie mit den meisten dieser Geräte vertraut sind, ich fühle mich nämlich ziemlich verloren. Sie müssen mir alles noch einmal erklären, wenn wir mit den fehlenden Proben aus Leeds zurückkommen.«

»Kein Problem«, sagte Caroline zuversichtlich. »Bis dahin sollte ich mich bestens auskennen.«

»Prima«, sagte Bruce. »Wenn Sie morgen früh herkommen, liegt am Empfang ein Passierschein für Sie bereit. Gehen Sie als erstes hin und holen Sie ihn sich. Und dann lassen Sie sich vom Empfang einen Sicherheitsmann zuteilen.«

Auf dem Weg nach draußen verschwand Caroline in der Damentoilette. Janie und Bruce warteten auf dem Gang auf sie. Er wandte sich Janie zu, als hätte er auf eine Gelegenheit gewartet, unter vier Augen mit ihr zu sprechen.

»Es hat mir gefallen, mit Ihnen ins Museum zu gehen«, sagte er.

»Ja, hat Spaß gemacht.«

»Ich habe mir überlegt, ob Sie vielleicht Lust hätten, auf mein Angebot mit dem Abendessen zurückzukommen. Heute. Ich kenne ein großartiges indisches Restaurant in South Kensington.«

Janie spürte, wie in ihrem Inneren Sperren hochgingen, ähnlich wie bei dem Mann, den der Compudoc bei den medizinischen Untersuchungen in Heathrow festgehalten hatte. Das geschah völlig unwillkürlich und passierte ihr regelmäßig und zuverlässig, seit sie bei dem Ausbruch den ersten Angehörigen verloren hatte; sie hatte sich traurigerweise daran gewöhnt. Mit jedem weiteren Verlust waren die Schutzwälle dicker und undurchdringlicher geworden, und sie hatte gerade erst entdeckt, daß sich einzelne Steine daraus lockern ließen, wenn sie sich Mühe gab. Doch Janie fand einen gewissen Trost in dem Wissen, daß sie vor dem potentiellen Trauma weiterer Verluste geschützt war, solange es diese Wände gab, und unternahm kaum Versuche, über sie hinaus in die freiere Gefühlswelt auf der anderen Seite zu schauen. Wie ein Gefangener, der an die Sicherheit und Einfachheit der Gefangenschaft gewöhnt ist, war sie nicht ganz sicher, ob eine Flucht in ihrem Interesse lag.

Sie antwortete nicht gleich, und das Schweigen zwischen ihnen wurde drückend. Bruces Miene verdüsterte sich, weil er anscheinend eine Zurückweisung erwartete; in der Damentoilette rauschte die Wasserspülung, und Janie wußte, daß Caroline gleich wiederkommen würde.

Sie setzte zu einer Erklärung an. »Es fällt mir schwer, mich nach draußen zu trauen, seit ...« Sie suchte nach Worten. »Seit den schlimmen Sachen, die mir passiert sind. Ich würde gern, aber in sozialen Situationen bin ich immer noch nicht besonders standfest. Ich schätze, ich habe Angst, die Fassung zu verlieren.«

»Ich verstehe«, sagte er. Er sah sie mit einer Wärme an, die deutlich sagte: Vertrau mir. Und dabei beließ er es. Kein Druck, nur eine Einladung, die stillschweigend besagte, daß er sie so akzeptieren würde, wie sie war.

Sie suchte in seinen Augen nach irgendeinem Anzeichen dafür, daß es nicht klug wäre, Zeit mit ihm zu verbringen. Sie fand nichts, gegen das vernünftige Einwände zu erheben waren. »Ach, zum Teufel«, sagte sie und atmete tief ein. »Ich nehme Ihre Einladung an. Wann?«

»Ich hole Sie um sieben ab.« Er lächelte. »Ich werde heute nachmittag einen Tisch reservieren.«

»Schön«, sagte sie. In diesem Augenblick kam Caroline zu ihnen zurück. »Bis später also.« Sie verabschiedeten sich und gingen auseinander.

Es wurde schneller sieben Uhr, als Janie erwartet hatte, und als in ihrer Suite das Telefon läutete, spürte sie einen leichten Schauer von Nervosität. Sie versuchte ihn abzuschütteln und sah in den Spiegel, ehe sie nach unten ging. Sie ertappte sich dabei, daß sie attraktiv aussehen wollte und sich mit ihrem Äußeren Mühe gegeben hatte; das war ihr seit dem Ende der Ausbrüche selten passiert.

Sie war nicht enttäuscht von dem, was sie sah. Mit fünfundvierzig war sie immer noch schlank, im wesentlichen wegen ihres zwanghaften Drangs zu körperlicher Bewegung; sie schien die einzige Möglichkeit, der Wut und dem Schmerz Luft zu machen, die sie in sich trug. Ihr dunkelbraunes Haar wies erste Anzeichen von Grau auf, und während sie ein paar Strähnen zurückstrich, kam ihr nicht zum ersten Mal der Gedanke ans Färben in den Sinn. Ihre Haut war hell und relativ faltenlos, wenn man bedachte, welchem Streß sie in den letzten paar Jahren ausgesetzt war; allerdings gab es dünne Linien in den Mundwinkeln, und zwischen den Augenbrauen zeichnete sich auch eine ab. Sie runzelte die Stirn, und die Linie wurde tiefer. Sie lächelte, und die Linie verging, dafür sah man die Lachfalten. Hoffnungslos, dachte sie. Ihre Beine, gut geformt und straff von jahrelangem täglichem Joggen, hielt sie für ihren größten Vorzug. Deswegen hatte sie einen kniefreien Rock angezogen, um sie zu zeigen, und Schuhe mit kleinem Absatz, um ihre Größe zu betonen. Es gefiel ihr, großgewachsen zu sein, denn das bot ihr einen Ausblick, wie ihn üblicherweise nur Männer hatten, und was sie aus dieser Höhe gesehen hatte, war bei mehr als einer Gelegenheit recht aufschlußreich gewesen.

Sie war zufrieden, denn mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, hatte sie ihr Bestes getan. Das einzige, was sie enttäuschte, war die tiefsitzende Traurigkeit in ihren Augen. Sie hatte noch kein Makeup gefunden, mit dem sie sich hätte verbergen lassen.

»Sie sehen toll aus«, sagte Bruce, als sie durch die Halle kam. »Besser, als ich Sie von vor zwanzig Jahren in Erinnerung habe.«

Zufrieden, daß ihre Bemühungen erfolgreich gewesen waren, sagte sie: »Danke, gleichfalls. Ich kann immer noch nicht glauben, wie jung Sie aussehen.«

»Ich glaube, das ist eine Folge des feuchten englischen Klimas«, sagte er sarkastisch. »Da wir gerade vom Wetter reden, heute abend ist es bemerkenswert gut. Das Restaurant ist nicht weit. Möchten Sie ein Taxi nehmen, oder sollen wir vielleicht zu Fuß gehen?«

»Ich würde gern zu Fuß gehen«, sagte sie. »Seit ich hier bin, bin ich ziemlich träge. Zu Hause laufe ich gewöhnlich drei Meilen am Tag, und das fehlt mir.«

»Also gehen wir«, sagte er und bot ihr seinen Arm.

Wie charmant, dachte sie, als sie sich unterhakte. Sie gingen durch die Halle zur Drehtür und mußten sich gleich wieder trennen. Lachend glitten sie in verschiedene Abteile der Tür und wurden auf die Straße gewirbelt, wo sie sich von neuem bei ihm einhängte.

Die Straßen Londons waren um die Essenszeit nur wenig bevölkert, und auf dem Weg nach South Kensington fühlte Janie sich sehr wohl. Sie hatte sich seit ihrer Ankunft noch keine Zeit genommen, sich etwas anzusehen, und während sie die verschiedenen Läden und Bürofenster betrachtete, fiel ihr auf, wie schlicht und einfach alles wirkte. Die Auslagen in den Schaufenstern waren zurückhaltend und auffallend frei von der grellen Werbung und den aufdringlichen Anpreisungen, die man in den Vereinigten Staaten überall antraf. Sie erinnerte sich an eine Reihe von Werbespots im Fernsehen, in denen ein derber und offensichtlich neureicher Texaner eine wohlgeborene britische Lady so schockierte, daß sie in Ohnmacht fiel, als er sie bat, ihr die Marmelade zu reichen, und sie fand, daß diese Werbespots den Unterschied zwischen Amerika und England ganz gut zusammenfaßten. Amerika besaß eine Zivilisation, deren Standards je nach Bedarf neu definiert wurden. England war zivilisiert, und die zivilisierten Maßstäbe wurden niemals angetastet. Ihr wurde klar, daß sie ungern zwischen den beiden hätte wählen müssen.

»Sie leben schon so lange hier«, sagte sie. »Gibt es irgend etwas, das Sie vermissen?«

»Kaltes Bier«, sagte er und lachte. »Die ein oder zwei Tage mit fünfunddreißig Grad, die ich im Juli gern hatte. Aber man gewöhnt sich daran. Ich habe total vergessen, wie es ist, auf der rechten Straßenseite zu fahren. Ich schalte mit der linken Hand. Und ich verschwende kein Wasser mehr.«

»Mir ist aufgefallen, daß das Wasser hier nicht allzu gut schmeckt«, meinte Janie. »Ich habe mir Mineralwasser gekauft.«

»Das tun alle, einheimisch oder nicht«, sagte er. »Ihr seid durch die Qualität des Wassers in den Staaten verwöhnt. Übrigens, ich wohne nicht weit von hier.« Er zeigte auf ein schmales Haus in einer der Seitenstraßen, als sie über eine Kreuzung gingen. »In einem kleinen Stadthaus, so ähnlich wie dieses. Ich habe die beiden oberen Geschosse. Das Haus ist schmal, aber die Zimmer sind für London recht groß und die Decken ziemlich hoch. Manchmal, wenn ich mich darin bewege, kommen sie mir für mich allein viel zu groß vor. Aber ich habe gern Platz, und ich denke, ich werde ihn schließlich ausfüllen. Ich habe die Wohnung vor ein paar Jahren gekauft, unmittelbar vor dem ersten Ausbruch.«

»Wenn Sie ein Jahr gewartet hätten, hätten Sie sie wahrscheinlich viel billiger bekommen. In den Staaten fielen die Wohnungspreise in den Keller, als die Nachfrage geringer wurde.«

»Hier sind sie leicht gefallen, aber nicht so sehr, wie Sie vielleicht denken. Sie waren vorher ohnehin inflationär. Jeder akzeptiert irgendwie, daß er zuviel bezahlt. Jetzt sind die Preise eher angemessen. Aber ich bin nicht unglücklich. Ich mag die Wohnung.«

»Gibt es irgend etwas an Ihrem Leben, was Ihnen nicht gefällt?« fragte sie beinahe mißmutig. »Alles hört sich so perfekt an.«

Er dachte einen Moment lang über ihre Frage nach. »Manchmal gefällt mir das Alleinsein nicht, und gelegentlich bedaure ich, daß ich keine Kinder habe, vor allem an Feiertagen.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich bin sicher, daß das für Sie schwere Zeiten sind.«

Sie seufzte. »Feiertage und Geburtstage. Und Jahrestage sind auch nicht gerade erfreulich. Solche Zeiten stehe ich nur schwer durch.«

»Was machen Sie dann gewöhnlich?«

»Ich versuche, so weit wie möglich von vertrauten Dingen und Orten entfernt zu sein«, sagte sie, »aber es ist schwer, nicht auf Erinnerungen zu stoßen. Sie scheinen überall zu sein. Wenn ich meine Ausbildung beendet habe, hoffe ich, ein bißchen mehr reisen zu können, innerhalb der Staaten, meine ich, weil das viel einfacher ist, als das Land zu verlassen. Wenn ich erst eine neue Stellung habe, sollte ich mir das einrichten können. Reisen macht es leichter, weil nichts vertraut ist.«

»Ist es hier einfacher?«

Sie überlegte einen Moment und sagte dann: »Ja, vielleicht. Im Augenblick geht’s mir ganz gut.«

»Das freut mich«, sagte er. »Ich hatte gehofft, daß Sie das sagen würden.« Er lächelte und drückte ihren Arm. Dann führte er sie durch die Tür des Restaurants.

Der Duft von Kardamom und Fenchel hieß sie willkommen, und im Hintergrund hörte man leise eine Sitar spielen, die die indische Atmosphäre angenehm betonte. Kunstvolle bunte Stickereien auf schwarzem Samt hingen an den Wänden, Szenen mit Ranis und Elefanten und Buddhas im vertrauten zweidimensionalen Stil des Orients.

Sie teilten sich eine halbe Flasche Rotwein, die sie erwärmte und entspannte; sie sprachen über ihr Leben und darüber, wie verschieden ihre Wege gewesen waren. Das Essen schmeckte so gut, wie es roch, und Janie war von ihrem eigenen Appetit überrascht. »So viel habe ich nicht in der gesamten Zeit gegessen, seit ich angekommen bin«, sagte sie, faltete ihre Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch. »Jetzt bin ich voll bis zum Platzen.«

»Wir machen noch einen Spaziergang, wenn wir von hier weggehen«, sagte Bruce.

»Gute Idee.«

Sie nahmen einen anderen Weg, als sie gekommen waren, und befanden sich bald in einem Wohnviertel. Ihr fiel auf, daß es fast keine Geschäfte gab. Bruce führte sie, bog in eine Straße ein, dann in eine andere, und Janie hatte den Eindruck, daß sie zu einem bestimmten Ort gebracht wurde. Ihre Vermutung bestätigte sich, als Bruce vor einem weißen Stadthaus aus Ziegelsteinen mit hübschem Vorgarten stehenblieb.

»Hier ist es«, sagte er und zeigte auf das Haus. »Hier wohne ich.«

Janie betrachtete es argwöhnisch. »Es ist reizend«, sagte sie und fragte sich, ob er auf irgendein Signal wartete, daß sie hineingebeten werden wollte. Sie entschied, der Frage auszuweichen und fing an, sich die anderen Häuser anzusehen. »Das ist ein sehr hübsches Viertel.«

»Und ruhig«, sagte er. »Ein paar Hunde, aber sonst ist es sehr friedlich.«

In dem kurzen Schweigen, das folgte, ging Janie eine Liste von Selbstbeschuldigungen durch, die ihrem Therapeuten Tränen in die Augen getrieben hätten. Ich bin eine pubertierende Fünfundvierzig- jährige, dachte sie bei sich, die mit einem tollen Mann auf der Schwelle zu einer heißen Nacht steht. Ich könnte durch diese Tür gehen und vermutlich ein paar schöne Stunden haben, vielleicht ein bißchen Dampf ablassen. Oder ich könnte nicht durch diese Tür gehen.

Beide setzten im gleichen Moment zum Sprechen an. Janie sagte: »Wissen Sie, wie spät es ist ...« Bruce sagte im selben Augenblick: »Möchten Sie mit raufkommen . « Und dann sprachen sie wieder gleichzeitig: »Ich würde es sehr gern sehen, aber wir müssen früh aus dem Haus ...«, sagte Janie, und Bruce sagte: »Natürlich, wie gedankenlos von mir, Sie müssen erschöpft sein .«

Dann lachten beide über die komische Situation. Bruce sah auf seine Uhr. »Es ist fast elf«, sagte er.

»Wir können bis zur nächsten Ecke gehen; da ist eine Hauptstraße, und ich kann Ihnen sicher ein Taxi rufen.«

»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Janie. Ihre Wangen waren heiß und rot. »Ich sollte morgen wirklich ausgeschlafen sein.«

Als sie vor ihrem Hotel aus dem Taxi stieg, stand ihr der Sinn nach allem anderen als nach Schlafen. Sie eilte in den Aufzug und fuhr nach oben, wo sie rasch in ihren Jogginganzug schlüpfte. Dann fuhr sie wieder nach unten und rannte durch die Straßen, bis der Schweiß in Strömen floß und ihr Herz so schnell schlug, als würde es explodieren.

Um ein Uhr in der Nacht stellte sie sich unter die Dusche und verschwendete Wasser in amerikanischer Manier. Sie ließ das dampfende Wasser wie heiße, spitze Nadeln auf ihre verschwitzte Haut prasseln. Von ihren Dämonen befreit, zumindest vorübergehend, und von der Sünde der Faulheit geläutert, trocknete sie sich ab und schlüpfte nackt zwischen die Laken. Sie machte die Augen zu und schlief diesmal traumlos.

Für alle Fälle, dachte Janie und warf einen sauberen Slip und eine Zahnbürste in ihre Aktenmappe, ehe sie nach unten in die Halle ging, um auf Bruce zu warten. Er kam in der Morgendämmerung, wie er tags zuvor telefonisch versprochen hatte. Hoffen wir, daß die Mission Erfolg hat, dachte sie bei sich, als Bruce vom Hotel abfuhr und sich in den Londoner Verkehr einfädelte.

Sie fuhren fast den ganzen Vormittag auf großen Schnellstraßen. Sie schaute häufig auf die Karte, während Bruce fuhr, und verglich die pastellfarbe- nen, zweidimensionalen Darstellungen auf dem Papier mit der üppiggrünen Wirklichkeit der ländlichen Umgebung Londons. Meist unterhielten sie sich über die Gegend, durch die sie fuhren; sehr persönliche Dinge wurden nicht berührt, und Janie war darüber irgendwie erleichtert. Für eine ganze Weile lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück und schloß die Augen, glitt in einen friedlichen Zustand, soweit das bei ihren persönlichen Unsicherheiten möglich war. Bruce störte sie nicht, wenn sie sich in diesen privaten Raum zurückzog. Kurz vor Mittag verließ er die Schnellstraße und nahm eine Abzweigung, die nach Norden führte.

Janie erwachte aus ihrer Tagträumerei, als der Straßenbelag sich veränderte und ihre Fahrt langsamer wurde. Sie schaute auf die Karte und sagte: »Das kann nicht unsere Ausfahrt sein!«

»Nein«, sagte er, »Sie haben recht. Es ist meine Ausfahrt.«

»Wie bitte?« sagte sie.

»Mein Lieblingspub in ganz England befindet sich hier. Und es ist Zeit zum Mittagessen. Wir haben ungefähr noch zwei Stunden bis Leeds. Ich glaube nicht, daß mein Magen mir verzeiht, wenn ich jetzt nichts esse.«

Als sie das kleine Gebäude im Tudor-Stil betraten, sagte Janie: »Wir scheinen eine Menge Zeit mit Essen zu verbringen.«

»Aber wir essen gut, nicht?«

Sie konnte nicht widersprechen; als der Kellner ihm eine Speisekarte reichte, gab Bruce sie ihm sofort wieder zurück. »Ich weiß schon, was ich möchte«, sagte er und bestellte Yorkshire-Pudding. Janie entschied sich rasch für einen Teller Suppe und ein Brötchen. Die Speisen kamen schneller als erwartet.

Während sie Bruce beim Essen zusah, ließ Janie ihre Gedanken zwischen dem Mann, den sie vor sich sah, und dem Jungen, an den sie sich aus ferner Vergangenheit erinnerte, hin und her wandern. Der Mann widerlegte alle Gründe, die sie vielleicht gehabt hatte, den Jungen nicht zu mögen; er war eine zunehmend angenehme Überraschung. Sie fragte sich, ob sie in seiner Vorstellung auch so gut wegkam oder ob er sich überhaupt die Mühe machte, das Mädchen, das er vor zwei Jahrzehnten flüchtig gekannt hatte, mit der Frau zu vergleichen, deren tiefste Geheimnisse er hatte sehen können. Er aß rasch und mit offenkundigem Genuß und leckte sich hin und wieder die Finger ab, wenn er große Brocken von dem teigigen Pudding in die Sauce auf dem Teller stippte. Janie erinnerte sich, daß sie ihn früher einmal Gebäck in Kaffee hatte tauchen sehen, und verglich im stillen den Bruce von damals mit dem heutigen, während sie jeden Bissen ihres eigenen kargen Mahls sorgfältig kaute. Es war ein aufschlußreicher Moment, ein ruhiges Studium der Unterschiede zwischen ihnen, eine Bestätigung ihrer persönlichen Überzeugung, daß die Eßgewohnheiten das waren, woran man jeden Mann und jede Frau messen konnte. Sie fragte sich, was dieser Augenblick für ihn bedeutete.

Als antworte er auf ihre unausgesprochene Frage, sagte er: »Also, das ist mal ein richtiges Mittagessen.«

Sie lachte laut auf.

Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an und sagte: »Es ist so schön, Sie lachen zu hören. Ich dachte schon, Sie hätten vergessen, wie es geht. Was ist so lustig?«

Sie ignorierte diesen Köder und sagte: »Ach, nichts Besonderes, einfach das Leben. Wenn ich gewußt hätte, daß so ein netter Mann aus Ihnen wird, hätte ich Sie mehr beachtet, als Sie jünger waren.«

»Äh ... na ja, danke.«

»Bitte, gern geschehen.«

Obwohl er sehr charmant sein konnte, lag unter Ted Cummings glatter Oberfläche ein aufreizend spartanisches Wesen, das immer pünktlich zur Arbeit kam, nie krank war, nie äußerlich zerknittert, und bei dem jedes Haar am richtigen Platz saß. Als er am Freitag morgen mit einem stechenden Schmerz in der rechten Schläfe aufwachte, war er völlig überrascht; er hatte nicht einmal Aspirin im Haus, weder legal verschriebenes noch anderes. Er hatte seit Jahren keines mehr gebraucht.

Beinahe hätte er verschlafen, und als er es schließlich schaffte, sich aus dem Bett zu quälen, ging das nur langsam vonstatten. Steif hievte er ein Bein nach dem anderen heraus und ließ es auf den Boden plumpsen. Seine nackten Füße waren so schwer, als trage er Schuhe mit Stahlkappen, und ein paar benommene Momente lang fragte er sich, ob die Schwerkraft über Nacht irgendwie intensiver geworden war, denn sein ganzer Körper fühlte sich unerträglich bleiern an. Sein Haar war von den Kissen zerzaust und stand in alle möglichen Richtungen vom Kopf ab; er mußte es ziemlich gewaltsam zähmen, ehe es halbwegs präsentabel aussah.

Zum ersten Mal in seiner von Ritualen bestimmten Amtszeit im Institut kam er später ins Büro als seine Sekretärin. Nachdem er seine E-Mails durchgesehen hatte, stellte er die Lautsprecher seines Computers ab, denn schon nach wenigen Minuten konnte er dessen Stimme und Signaltöne kaum noch ertragen. Aus dem gleichen Grund schaltete er auch seinen Piepser aus.

Er ging bei einem der medizinischen Büros des Instituts vorbei und verlangte von der Assistentin des Arztes zwei Aspirintabletten. Diese machte sich prompt über ihn lustig.

»Am besten suchen Sie Ihren freundlichen Com- pudoc auf«, sagte sie grinsend, ein Vorschlag, den Ted sofort zurückwies. Trotz der Rolle des Instituts bei der Entwicklung der Compudocs und bei der Überwachung ihrer Tätigkeit haßte Ted sie und vermied sie bis auf die obligatorische monatliche Untersuchung. Er hatte genug Leute gesehen, die von diesen verdammten Maschinen am rechten Handgelenk festgehalten wurden und heftig gegen die Zwangshaft protestierten, die stets folgte, wenn die Maschine bei einer Routineüberprüfung irgendeine bösartige Mikrobe entdeckte.

Inzwischen war sein Unwohlsein so groß, daß er das Aspirin trocken schluckte und das saure Brennen spürte, mit dem die Tabletten durch seine rauhe Kehle glitten. Obwohl er sich immer schlechter fühlte, schaffte er es, die erste Hälfte seiner Tagesarbeit erfolgreich hinter sich zu bringen, wenn er auch nicht hätte behaupten können, sich groß daran zu erinnern; später diktierte er Aktenvermerke über die Aktivitäten, an die er sich erinnern konnte; darunter war auch ein erster Blick auf die Liste der Bewerber um Franks Stellung. Er hatte gerade seine Aktenmappe gepackt und wollte nach Hause gehen und sich ins Bett legen, als ihm der Stoffkreis wieder einfiel. Er wußte irgendwie noch, daß er jemanden anrufen mußte, aber an mehr erinnerte er sich nicht; er kramte in seinem Gedächtnis, fand aber nicht die notwendige Information. Wen muß ich anrufen? Was muß ich sagen? Ich muß kränker sein, als mir bewußt ist, wenn mein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt ist, dachte er bei sich, und zum ersten Mal kam ihm die Möglichkeit in den Sinn, daß das, was ihm zu schaffen machte, vielleicht mehr war als eine schlichte Erkältung. Vielleicht ist es eine Sommerinfluenza. Er wollte sie aggressiv mit Bettruhe, Flüssigkeiten und mehr Aspirin bekämpfen, wenn er sich welches beschaffen konnte (wenn Bruce hier wäre, könnte er einfach ein Rezept ausstellen!), und er war sicher, nach einem Tag wieder arbeiten zu können und sich viel wohler zu fühlen, ohne daß jemand etwas merkte.

Er schob die Gedanken an den Anruf beiseite und konzentrierte sich auf den Stoffkreis. Das Labor war noch immer der naheliegendste Ort, um danach zu suchen, und so ging er hin. Er hoffte, Erfolg zu haben, denn während der Tag voranschritt und sein Zustand sich verschlimmerte, wurde ihm klar, daß er sich nicht allzusehr anstrengen durfte, bevor er sich wieder bei Kräften fühlte. Er legte die Hand flach auf den grauen Schirm vor der Haupttür des Labors und hörte das Klicken, mit dem das Schloß sich öffnete. Er ging hinein und hörte sofort ein anderes Klicken, das Geräusch von Fingern auf der Tastatur des Computers; Caroline saß an einem der Geräte und war in ihre Arbeit vertieft.

Da Ted auch vergessen hatte, daß sie an diesem Tag im Labor arbeiten würde, überraschte ihn ihre unerwartete Anwesenheit. Er hatte sie nur zweimal gesehen, erkannte sie aber sofort an dem roten Haar, das ihr in weichen Wellen auf den Rücken fiel. Er hatte den Impuls, die Hand auszustrecken und in das Haar zu fassen, solange sie ihm noch den Rücken zuwandte, um es an seiner Wange zu reiben. Er fragte sich, ob sie wohl schockiert wäre, wenn er das täte.

Als eine Hand schon nach der Lockenfülle greifen wollte, nahm er sich zusammen und zog sie rasch zurück, tief beschämt über die untypische Handlung, die er beinahe begangen hätte. Normalerweise hätte er eher die Mähne eines Löwen gestreichelt als unaufgefordert das Haar einer Frau zu berühren, und er war schockiert über sein eigenes Verhalten. Guter Gott, was ist bloß in mich gefahren, fragte er sich hektisch. Er fühlte sich schon unwohl, mit ihr zusammen in diesem Labor zu sein, ohne daß sie von seiner Anwesenheit wußte. Er machte sich mit einem diskreten Räuspern bemerkbar, vergaß dabei aber seine rauhe Kehle und zog eine Grimasse bei dem Schmerz, den das leise Geräusch ihm verursachte.

Caroline hörte ihn und drehte sich um. Ihr Anblick verschlug ihm fast den Atem, aber er konnte sich gerade noch beherrschen, ehe er sie kränkte; das war gewiß Caroline, aber wie anders sah sie aus! Nichts mehr von dem rosigen Schimmer auf ihren Wangen, den er gesehen hatte, als sie sich das letzte Mal trafen; ihre Haut war teigig und weiß, die Augen rot gerändert. Es schien ihr schwerzufallen, den Kopf zu drehen.

Caroline sah seinen schockierten Gesichtsausdruck und errötete vor Verlegenheit, ein starker Kontrast zu der kränklichen Blässe. Am Morgen hatte sie im Spiegel gesehen, daß sie aussah, als würde sie krank; wie Ted hatte sie auf den Beginn einer Erkältung getippt.

»Guten Tag, Caroline«, sagte Ted. »Wie geht’s denn heute?«

Sie hustete zweimal, ein harter, trockener Husten, den sie mit der Hand dämpfte. »Ehrlich gesagt, mir ging’s schon mal besser«, antwortete sie. »Anscheinend habe ich mir eine scheußliche Erkältung eingefangen.«

»Dann haben wir wohl dasselbe«, sagte er. »Eine Erkältung, die unbesiegte Geißel der modernen Medizin. Ich bin froh, daß ich nicht allein bin, aber ich bedaure, daß Sie meine Gefährtin im Elend sind.«

»Danke.« Sie lächelte schwach. »Ich glaube, das könnte sogar mehr sein als bloß eine Erkältung. Seit ich heute morgen aufgestanden bin, habe ich gräßliche Kopfschmerzen. Ich muß bloß noch ein paar Dateien kopieren, und dann gehe ich schnurstracks ins Hotel und ins Bett. Ich hoffe, ich kann das loswerden, ohne das Interesse der hiesigen Biocops zu erregen. Ich denke, wenn ich mich jetzt hinlege, merkt es keiner. Ich bin in aller Kürze aus dem Weg.« Sie wandte sich ab und schneuzte sich die Nase.

»Oh, Sie sind überhaupt nicht im Weg. Ich muß nur ein paar Sachen im Gefrierschrank suchen. Dann bin ich für heute auch fertig. Übrigens, haben Sie von unseren Freunden in Leeds gehört? Ob sie diese Bodenproben wohl gefunden haben?«

Das Wort Leeds ließ ihn wieder an den Anruf denken. Irgendein Zusammenhang bestand da, aber er kam nicht darauf. Heiße Frustration stieg in ihm auf, und er begann wütend zu werden. Er überhörte den ersten Teil von Carolines Antwort auf seine Frage und bekam nur das Ende mit.

»... heute abend, wenn sie sie loseisen können.«

Sie glaubte also, daß die beiden vielleicht am gleichen Abend noch zurückkommen würden. Ted wußte, es war höchst unwahrscheinlich, daß sie so bald wieder in London sein würden, weil die Mühlen der Bürokratie, insbesondere der britischen Wissenschaftsbürokratie, in der Tat sehr langsam mahlten. Aber er äußerte seine Zweifel nicht, sondern versuchte statt dessen, Caroline in ein Gespräch über das kontaminierte Stück Stoff zu verwickeln. »Sie hatten also ein bißchen Zeit, mit diesem Ding zu arbeiten, das Sie in einer der Röhren gefunden haben - diesem Stoff? Ein ziemlich interessanter Fund; sicher waren Sie recht neugierig, ihn zu untersuchen.«

Caroline setzte zu einer Antwort an: »Nein, heute hatte ich keine Zeit, ich hatte zuviel zu tun, und wir wollen ohnehin .« Ein fast gewaltsamer Hustenanfall unterbrach sie mitten im Satz. Sie stand von ihrem Stuhl auf, beugte sich vor, noch immer hustend, und legte die Hände auf die Knie, um leichter atmen zu können.

Beunruhigt trat Ted näher. Er legte ihr tröstend die Hand auf den Rücken und rieb ihn mit einer sanft kreisenden Bewegung, was sie zu beruhigen schien. Nach ein paar Augenblicken richtete sie sich wieder auf und hustete nur noch leicht.

Als sie wieder sprechen konnte, lachte sie ein wenig und sagte: »Entschuldigen Sie. Das war wirklich ziemlich unfein. Ich glaube, ich gehe am besten jetzt gleich ins Hotel zurück.«

Nein! dachte er verzweifelt. Nicht, ehe du mir gesagt hast, wo du dieses verdammte Stück Stoff hingetan hast! Er suchte nach einer Möglichkeit, sie zurückzuhalten, aber sein Gehirn fühlte sich an wie Tapiokapudding, dick und trübe und mit großen Klumpen irgendeiner geleeartigen Substanz, die darin herumschwammen. Denk nach, Ted! schalt er sich selbst. Und endlich, nach einer Phase qualvoller Leere, verging seine Benommenheit, und er kam auf die Idee, ihr Hilfe anzubieten. Er war zutiefst erleichtert, endlich etwas Sinnvolles gefunden zu haben.

Er setzte sein mitfühlendstes Gesicht auf. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte er mit besorgt gerunzelter Stirn. »Vielleicht brauchen Sie etwas. Vor allem, solange Ihre Freundin nicht zurück ist. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

Caroline setzte sich wieder, hustete noch ein paarmal und begann, ihre Katalogisierungen einzupacken. »Wenn es schlimmer wird, könnte es sein, daß ich Ihre Hilfe brauche. Das Gesundheitssystem hier ist so verwirrend, und ich möchte die Sache nicht komplizierter machen als nötig, wenn ich versuche, auf dem üblichen Weg Hilfe zu bekommen. Wenn ich festgenommen werde, haben wir alle möglichen Schwierigkeiten, und Janie hat eine morbide Angst vor dem Bodyprinting. Sie ist entschlossen, in die Staaten zurückzukehren, bevor man es von ihr verlangt.«

Was das Bodyprinting betraf, war er anderer Meinung; er und Bruce waren maßgeblich an der Vervollkommnung der Technik beteiligt gewesen. Er hätte zwar bereitwillig zugegeben, daß die Erfahrung eines Bodyprinting von keinem normalen Menschen als »angenehm« bezeichnet werden würde, aber nur wenige fanden es nicht faszinierend. Trotzdem stimmte er mit Caroline überein, was die potentiellen Schwierigkeiten für die Reise betraf. »Verständlich. Das könnte ziemlich problematisch sein.«

Caroline sprach weiter. »Wenn Janie hier wäre, würde sie sich um mich kümmern, aber sie ist nicht hier, und ich weiß nicht, wann sie wiederkommt. Könnten Sie mir den Namen eines richtigen Arztes sagen, falls ich einen brauche? Jemand, der mich nicht reinlegen wird? Ich meine, ich glaube, es ist bloß eine Erkältung, aber sie hat sich anscheinend schrecklich schnell entwickelt.«

Es gab jede Menge mit dem Institut verbundener Ärzte, die gern diskret geholfen hätten, selbst wenn das technisch gegen das Gesetz verstieß, und Ted hatte mühelos Zugang zu ihren privaten Telefonnummern. Aber er zögerte, Caroline an jemand anderen zu verweisen. Selbst in seinem benommenen, verwirrten Zustand wußte Ted, daß er es sich nicht leisten konnte, sie frei herumlaufen zu lassen, solange er diesen Stoff nicht in der Hand hatte, das Potential an Katastrophen war einfach zu groß. Er nahm einen Stift aus der Brusttasche seines Kittels und einen Notizblock aus der Seitentasche und schrieb eine Reihe von Zahlen auf.

»Das ist meine Privatnummer«, sagte er und gab Caroline den Zettel. Da er sie nicht merken lassen wollte, daß er keine Pläne hatte, fügte er hinzu: »Ich habe verschiedenes zu erledigen und bin immer mal wieder unterwegs, aber wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie an und hinterlassen Sie eine Nachricht. Ich denke, ich kann dann einen Arzt auftreiben, der Sie sofort behandelt.«

Sie nahm den Zettel und lächelte erleichtert. »Danke«, sagte sie. Sie sah wirklich dankbar aus.

»Wissen Sie«, sagte Ted zu ihr, »ich verstehe wirklich nicht, warum Ihr Amerikaner so heftig gegen das Bodyprinting seid. Es ist kaum schlimmer als früher die Mammographien, und es ist bestimmt nicht schlimmer als eine Testigraphie.« Ihn schauderte, als er sich erinnerte, wie er zuletzt nach dem ersten Ausbruch auf testikuläre Anomalien untersucht worden war. »Das Bodyprinting ist ein wunderbares diagnostisches Werkzeug; mit so geringen Mitteln können wir so viel über den Körper erfahren.«

»Genau das ist das Problem, glaube ich, Ted.«

»Nun, ich denke, das kommt ganz auf den Standpunkt an. Aber diese Diskussion sollten wir ein andermal führen.« Er lächelte honigsüß und sagte: »Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn ich am Wochenende ein- oder zweimal bei Ihnen vorbeischaue, falls Sie allein sind. Wo wohnen Sie?«

Ohne eine Sekunde zu zögern, gab Caroline ihm die Hoteladresse.

»Gut, ich melde mich dann«, sagte er. Etwas widerstrebend verließ er sie und ging zum Katalog des Gefrierschrankes. Als er das Labor vorhin betreten hatte, war ihm wieder eingefallen, daß er einen Ersatz für P. coli finden mußte, und er war entschlossen, diese Aufgabe noch zu erledigen, bevor er in sein Bett fiel. Das Experiment schien eine Million Lichtjahre entfernt; er tat nichts weiter, als die Bezeichnungen auf seiner Liste zu überprüfen und festzustellen, daß die gewünschten Proben zur Verfügung standen, was bei allen der Fall war. Danach dachte er nicht mehr an seine Arbeit.

Er ging auf die Herrentoilette, ehe er nach Hause fuhr; während er sich die Hände wusch, sah er sich im Spiegel an.

Sein Hals begann anzuschwellen.

Auf der restlichen Fahrt nach Leeds unterhielten Janie und Bruce sich ruhig miteinander; einmal übernahm Janie das Steuer auf einem Autobahnstück, wo der Verkehr sehr schwach war. Als sie sich Leeds näherten, wurden die Fahrzeuge zahlreicher, und Bruce übernahm wieder. Kurz darauf verließ er die Autobahn und fuhr über eine Nebenstraße zu der ehemaligen Spielzeugfabrik. Er parkte den Wagen auf dem Parkplatz daneben, und während beide sich die Steifheit vom zweiten Teil der Wegstrecke aus den Gliedern schüttelten, schaute Janie auf ihre Uhr. »Es ist Viertel vor drei. Wenn wir unsere Sache in einer Stunde oder weniger erledigen kennen, müßten wir eigentlich noch die Rückfahrt schaffen.«

Bruce schloß den Wagen ab und antwortete: »Wir haben gute Chancen. Hoffen wir nur, daß Ted sein Gewicht für uns in die Waagschale werfen konnte.«

Nachdem er Bruce einige Fragen gestellt hatte, suchte der Wachmann in seinen Computerdateien nach einer Mitteilung Teds über die fehlenden Röhren. Bruce und Janie warteten ungeduldig vor den Sicherheitsscannern. Sie waren dem, was Janie brauchte, nun sehr nahe, aber noch immer draußen. Eine Nachricht von Ted gab es nicht.

»Ich habe versucht, über den Computer direkt sein Büro zu erreichen, aber da antwortet niemand. Vielleicht haben Sie eine andere Möglichkeit, mit ihm Kontakt aufzunehmen.«

Bruce wählte auf seinem Handy sofort Teds persönlichen Piepser an, erhielt aber keine Antwort.

»Verdammt!« sagte er mit offensichtlicher

Frustration. »Er meldet sich nicht. Das ist ganz ungewöhnlich. Ich habe ihn noch nie ohne seinen Piepser gesehen.«

Obwohl Bruce es in der folgenden halben Stunde immer wieder versuchte, war Ted nicht zu erreichen. Sie beschwerten sich heftig, und der Wachmann verwies sie direkt an den Chef des Sicherheitsdienstes, da er sich ihr unberechtigtes Geschimpfe nicht länger anhören wollte. Man sagte ihnen, wenn sie die Papiere sofort ausfüllten, würden die entsprechenden Genehmigungen am nächsten Morgen vorliegen, auch ohne Teds Autorisation.

»Aber was ist mit meinen eigenen Genehmigungen?« fragte Bruce empört. »Zählen sie denn überhaupt nicht?«

»Aber doch, Dr. Ransom«, sagte der Sicherheitschef mit einem zuckersüßen Lächeln. »Ohne die würden Sie das Material frühestens in einer Woche bekommen können.«

Bruce führte Janie außer Hörweite des Wachmannes. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es ist mir wirklich peinlich. Und es tut mir wirklich leid. Ted ist in solchen Details normalerweise sehr zuverlässig. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er nicht angerufen hat. Sonst kümmert er sich immer penibel um alle Einzelheiten.«

Janie versuchte, ihre Frustration zu verbergen, doch das mißlang jämmerlich. Sie spürte die An- spannung in ihrer Stirn und fühlte sich auf einmal schrecklich gereizt. Sie rieb ihre Schläfen, weil sie eine Migräne fürchtete, und stand einen Augenblick reglos und schweigend da. Dann schaute sie Bruce an und sagte: »Was ist das für ein Mist! Kein Wunder, daß die Welt auseinanderfällt.«

Bruce sagte nichts, da er keine sofortige Lösung anzubieten hatte. Nach ein paar Augenblicken meinte er: »Wie die Briten sagen würden: >Wie un- angenehm<.«

Angewidert von ihrem lächerlichen Dilemma, ließ Janie jeden Anschein von Wohlerzogenheit fallen und sagte: »Wirklich ziemlich unangenehm - eine verdammte Scheiße ist das!«

Bruce war nicht überrascht von der Heftigkeit ihrer Wut. Statt dessen versuchte er, einer Lösung näher zu kommen. »Was möchten Sie jetzt machen? Ich richte mich ganz nach Ihnen.«

Janie seufzte tief. »Ich denke, ich möchte es trotzdem weiter versuchen. Wenn wir morgen früh hier wegkommen, ist das immer noch besser, als wenn ich neue Proben ausgraben muß. Ich finde, wir sollten weiter versuchen, uns mit Ted in Verbindung zu setzen. Vielleicht erreichen wir heute doch noch etwas.«

Da er nicht wollte, daß sie sich vergebliche Hoffnungen machte, sagte er: »Ich glaube, das ist unwahrscheinlich.«

»Wann machen sie hier zu?«

»Vermutlich um halb sechs.« Er sah auf seine Uhr. »Damit haben wir zwei Stunden, um Ted zu erreichen und den Papierkram zu erledigen. Wenn uns das gelingt, bedeutet es immer noch, daß wir mehr als die halbe Nacht fahren müssen. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Vielleicht müssen wir hier übernachten, es sei denn, Sie wollen sofort zurückfahren und morgen in aller Frühe mit neuen Grabungen anfangen.«

Janie ging ziellos umher, die Arme schützend vor der Brust verschränkt, die schwere Aktenmappe an einem Riemen über der Schulter. »Ich habe die Eigentümer noch nicht wieder angerufen«, sagte sie. »Ich war so sicher, daß wir das heute erledigen würden. Ich weiß nicht mal, ob irgend jemand mir neue Grabungen gestatten würde.«

Ihre Enttäuschung und Wut, für die er sich teilweise verantwortlich fühlte, lasteten schwer auf Bruce. »Hören Sie«, sagte er, »wir brauchen einen Plan. Ich habe nichts dagegen, heute nacht hierzubleiben, und selbst wenn wir sofort abfahren würden, würden wir erst so spät zurückkommen, daß Sie heute zu nichts mehr kämen. Es gibt ein sehr hübsches Hotel im Zentrum von Leeds, und ich bin sicher, daß es da ein freies Zimmer geben wird.«

Sie warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Freie Zimmer«, berichtigte er sich rasch.

Sie stieß einen Seufzer aus. »Wir haben wohl keine Wahl. Wir müssen bleiben. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Formulare ausfüllen würden, für alle Fälle. Aber wenn wir die Röhren nicht gleich morgen früh bekommen, muß ich nach London zurück. Selbst wenn ich dann sofort mit den Grabungen anfange, muß ich zwei Tage lang wie ein Maulwurf graben.«

»Tut mir wirklich leid, daß wir all diese Schwierigkeiten haben.«

»Das ist nicht Ihre Schuld, Bruce, und Sie waren wirklich ein Schatz und haben mir sehr geholfen. Ich denke, ich sollte Caroline anrufen. Dann kann sie schon mal anfangen, sich mit den Eigentümern in Verbindung zu setzen. Dürfte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen?«

Er reichte ihr das Handy, und sie wählte die Nummer ihres Londoner Hotels. In Carolines Zimmer meldete sich niemand, also hinterließ Janie eine Nachricht und detaillierte Anweisungen auf dem Anrufbeantworter. Dann versuchte Bruce noch einmal, Teds Piepser zu erreichen, aber er erhielt keine Antwort.

Nachdem Bruce in der medizinischen Abteilung des Depots ungefähr ein Dutzend Formulare ausgefüllt hatte, fuhren er und Janie in eisigem Schweigen nach Leeds hinein. Sie erkundigten sich nach dem Weg und wurden zu der in ein hübsches kleines Hotel umgebauten Mühle gewiesen, an die Ted sich von einer früheren Reise erinnerte. Sie fanden sie ohne Mühe im Zentrum der einst blühenden Stadt im edwardianischen Stil, die jetzt um ihr Steueraufkommen zu kämpfen hatte. Das Viertel, in dem das Hotel lag, erlebte eine Renaissance als schickes Wohngebiet mit zahlreichen Lokalen. Vor der Renovierung des Hotels war der jahrealte Schmutz mit einem Sandstrahlgebläse entfernt worden, und die Ziegelfassade war einheitlich rötlich-braun; in der Abendsonne wirkte die Farbe sehr anheimelnd, und Janie spürte, wie etwas von ihrer Anspannung wich, als sie den warmen rötlichen Schein auf sich wirken ließ.

Während sie und Bruce aus dem Auto stiegen, war sie froh, daß sie frische Unterwäsche und eine Zahnbürste mitgenommen hatte. Dann sah sie, wie Bruce eine Reisetasche aus dem Kofferraum nahm, und ihre Selbstzufriedenheit wich einem Gefühl totaler Inkompetenz, noch ehe er die Hecktür wieder geschlossen hatte.

»Ich bin gern vorbereitet«, sagte er, als er die Tasche dem Hoteldiener übergab. »Ich hätte Ihnen sagen sollen, daß wir vielleicht übernachten müssen.«

Am liebsten hätte sie geflucht, aber sie nahm sich zusammen und sagte liebenswürdig: »Das ist schon okay. Ich hatte irgendwie damit gerechnet, daß wir Schwierigkeiten haben würden, und habe selbst auch das Nötigste bei mir.«

»Gut gemacht«, sagte er. »Melden wir uns an, und dann sehen wir, daß wir etwas zu essen bekommen.«

Sie verabredeten, wann sie sich in der Halle treffen wollten, und bezogen dann zwei reizvolle Zimmer an entgegengesetzten Enden des sechsten Stocks. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, ging Janie in das nahe Geschäftsviertel, wo einige Läden noch geöffnet hatten. Sie kaufte sich ein Kleid und ein Paar hübsche Ohrringe und eilte ins Hotel zurück.

Es geht doch nichts über einen schönen, langen Dauerlauf, dachte sie bei sich, während sie ihre Schritte beschleunigte; als sie ins Hotel zurückkam, fühlte sie sich beinahe wieder normal. Sie wusch sich und zog das Kleid an. Dann legte sie die Ohrringe an und betrachtete sich im Spiegel.

»Nicht übel für so eine alte Schnepfe«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild und ging nach unten.

Als sie sich dem Tisch näherte, stand Bruce auf und zog einen Stuhl für sie zurück. »Ich habe mir die Freiheit genommen, eine Flasche Wein zu bestellen, der Ihnen vielleicht schmeckt. Ich habe den Kellner gebeten, sie erst zu servieren, wenn Sie da sind.«

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erschien be- reits der Kellner mit zwei Gläsern, einer Flasche und einem Korkenzieher. Geschickt vollzog er das übliche Ritual, zeigte Bruce das Etikett der Flasche und zog nach ein paar Drehungen des hölzernen Griffs den Korken. Er goß ein wenig Wein in ein Glas und trat diskret zurück, während Bruce die Blume des Weins prüfte und ihn kostete. Bruce nickte, und der Kellner trat wieder vor und füllte die dunkelrote Flüssigkeit in ihre Gläser.

Janie beobachtete ihn prüfend und neugierig und verglich ihn erneut mit dem Jungen, an den sie sich erinnerte. Sie kam zu dem Schluß, daß der reife Bruce sehr viel eleganter und charmanter war als der unreife. Die Jahre in der wohlgeordneten englischen Gesellschaft hatten ihm ein Verständnis für soziale Formen beigebracht, das den meisten amerikanischen Männern einfach abging. Er hatte gute Manieren, und all seine rauhen Kanten schienen geglättet. Er war wirklich ein überaus attraktiver Mann.

Die Fenster des Speiseraums gingen auf einen nahen Kanal hinaus, und das Licht der untergehenden Sonne glitzerte auf dem langsam fließenden Wasser. Alles, was von ihren Strahlen berührt wurde, glänzte flammend rot, und Janie war fasziniert von der Wärme dieser Farbe. Die Magie des Weins floß aus dem Glas in ihre Adern; mehr als einmal erschien der Kellner unaufgefordert, um ihre Gläser nachzufüllen und dann diskret wieder zu verschwinden. Janie bemühte sich zwar, ihre Schutzwälle aufrechtzuerhalten, doch sie spürte, wie der Streß des langen, anstrengenden Tages allmählich von ihr abfiel, und lehnte sich entspannt zurück. Sie schloß einen Moment die Augen und fühlte sich beinahe heiter. Als sie sie wieder öffnete, stellte sie fest, daß sie Bruce anstarrte. Rasch wandte sie den Blick ab.

Er war neugierig auf sie; das wußte sie zweifelsfrei, und soweit sie es zulassen konnte, fühlte sein unverhohlenes Interesse an ihr sich wunderbar an. Sie wußte, er konnte sich nicht vorstellen, was sie durchgemacht hatte und wie hart sie dabei geworden war, wie schwer es ihr fiel, einen tieferen Kontakt zu ertragen. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem sie ihren Mann beerdigt hatte, ließ Janie den ungeheuren Schmerz das Verlangens nach Berührung an die Oberfläche treten. Da saß sie unter Bruces wohlwollendem Blick, und die Elektrizität des Begehrens prickelte auf ihrer Haut. Dieses eine Mal machte sie keinen Versuch, es zu unterdrücken. Ihre Augen verschleierten sich, und sie biß sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten; sie wollte nicht, daß Bruce ihren emotionalen Aufruhr sah.

Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm, deren Wärme sie verblüffte. Als hätte er ihre Ängste erraten, sagte er: »Janie, ich verspreche, ich werde nicht schlecht von Ihnen denken. Aber ich möchte wirklich wissen, was Ihnen zugestoßen ist.«

Ihre Unterlippe zitterte, und sie senkte den Blick.

»Es ist gut«, sagte er beruhigend. »Bei mir sind Sie sicher.«

Um den gelösten Zustand zu erreichen, in dem Hemmungen schwinden, leerte sie ihr Glas. Nach einem kleinen, zarten Schluckauf sagte sie leise: »Fünfundvierzig Jahre alt, und es macht mir immer noch angst.«

Er lächelte. »Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Sie erwiderte das Lächeln, aber nur zögernd. »Also gut.« Sehr vorsichtig sagte sie dann: »Die Geschichte fängt gut an, aber gegen Ende wird sie häßlich.«

»Ich verstehe. Aber ich würde sie trotzdem gern hören, wenn Sie bereit sind, sie zu erzählen.«

Sie sprach langsam und bedächtig, als sei die Geschichte, die sie erzählte, zerbrechlich, obwohl sie wußte, daß die wirkliche Zerbrechlichkeit in ihr selbst lag. Der Wein ließ ihre Worte ein wenig zögernd klingen. »Nach meiner Assistenzzeit heiratete ich einen Mann namens Harry Crowe. Harry war Kinderarzt. Wir hatten ein sehr schönes Leben, Harry und ich ... ein behütetes Leben. Alles war richtig. Alles. Ich pflegte mich jeden Morgen zu kneifen und zu denken: >Was habe ich für ein wunderbar geordnetes Leben.< Ungefähr so, wie sie Ihr Leben schildern. Zufrieden, wissen Sie? Erfüllt.«

Sie hielt inne und streckte die Hand aus, um sich Wein nachzuschenken, aber Bruce nahm ihr die Flasche ab und sagte: »Lassen Sie mich das machen.« Dann goß er ein wenig in ihr Glas und sagte: »Sprechen Sie weiter.«

Sie konnte spüren, wie sie in die alte, vertraute Melancholie fiel, aber sie machte weiter, da sie wußte, Bruce würde erst zufrieden sein, wenn die Geschichte zu Ende war. »In den Reagan-Jahren kauften wir Aktien und verkauften unmittelbar vor dem Crash. Wir kauften unser Haus, bevor die Preise in den Himmel wuchsen, und behielten es, bis sie sich wieder stabilisiert hatten. Anfang der neunziger Jahre investierten wir in Technologiefonds. Wir liebten beide unsere Arbeit. Unsere Tochter besuchte wunderbare Privatschulen und entwickelte sich prächtig; sie hatte Musikstunden und trieb Sport ...«

Bruce beobachtete sie aufmerksam, während das Drama sich entfaltete; als sie sichtlich um Fassung ringen mußte, nahm er ihre Hand. Er spürte, wie sie sich dabei anspannte. »Sprechen Sie weiter, Janie.«

Sie atmete einmal schnell ein und ließ dann den Schmerz zu. »Eines Morgens sah ich sie zusammen weggehen; normalerweise wäre ich an der Reihe gewesen, Betsy zur Schule zu fahren, aber Harry hatte an dem Tag ein Seminar an der Uni, und die Schule lag auf seinem Weg. Ich hatte an diesem Tag Bereitschaft und mußte nirgends hin. Um acht Uhr morgens war ich noch im Pyjama. In Ärztekreisen hörte man gerade die ersten Berichte über Epidemien; die Gesundheitsbehörde hatte bereits ein Bulletin herausgegeben, aber die Medien hatten es nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Also war die Schulbehörde nicht gewarnt. Nun, am Vortag hatte eine der Mitarbeiterinnen der Schul- cafeteria über Magenschmerzen und Fieber geklagt und war nach Hause gegangen. Bevor sie ging, hatte sie noch die Pausensnacks für den nächsten Tag hergerichtet.

Um zwei Uhr fühlten sich alle Kinder, die davon gegessen hatten, krank. Da war die Mitarbeiterin der Cafeteria schon gestorben. Als sie zum Notarzt ging, hatte einer der Ärzte gerade das Bulletin der Behörde gelesen und inzwischen festgestellt, wo sie arbeitete. Er rief das Gesundheitsministerium an und ließ die Schule unter Quarantäne stellen.

Am späten Vormittag war ich zu einem Notfall gerufen worden, also hatte ich Harry bereits angerufen und ihn gebeten, Betsy am Nachmittag von der Schule abzuholen. Als er hinkam, war die Quarantäne bereits verhängt, aber irgendwie kam er hinein, wahrscheinlich, indem er sagte, daß er Kinderarzt war. Wenn ich einer von den Polizisten gewesen wäre, hätte ich ihn vermutlich auch hereingelassen. Von den vierhundert Leuten, die in dieser Schule unter Quarantäne gestellt wurden, infizierten sich dreihundertsechsundfünfzig. Dreihundertzweiundvierzig starben. Harry und Betsy gehörten nicht zu denen, die Glück hatten. Alle Leichen wurden zur Sektion beschlagnahmt. Ich habe beide nie wiedergesehen. Nach einer Woche wurden sie verbrannt.«

»Oh, Janie, mein Gott, wie schrecklich ... Es tut mir so leid ...«

»Es kommt noch schlimmer«, sagte sie. Tränen liefen jetzt über ihre Wangen. »Ich ließ einen Gedenkgottesdienst abhalten; es gab keine Leichen, die ich begraben konnte, aber ich brauchte irgendeinen Abschluß, das Gefühl, das getan zu haben, was man eben tut, wenn jemand stirbt. Meine Eltern kamen; sie waren in Pennsylvania, als es passierte, und so fuhren sie los, um bei mir zu sein und an dem Gottesdienst teilzunehmen. Unterwegs hielten sie bei einer Raststätte auf dem Jersey Turnpike, um etwas zu essen .«

Sie unterdrückte ein trunkenes Schluchzen, und Bruce sagte: »Und dort infizierten sie sich?«

Sie nickte rasch und kniff die Augen zu. Ströme von Tränen liefen ihr über die Wangen und tropf- ten auf ihren Arm, auf Bruces Hand, auf die Tischdecke. »Oh, Gott ...« sagte sie. »Schauen Sie mich nur an. Schon wieder undicht.«

Unwillkürlich mußte Bruce schmunzeln. »Vielleicht muß ich Sie wegen unerlaubter Freisetzung von Körperflüssigkeiten in der Öffentlichkeit melden .«

Janie wischte sich mit der Hand die Augen, schniefte kurz und sagte: »Gut, daß das in den Staaten nicht illegal ist. Sonst säße ich schon im Gefängnis.«

Bruce stand von seinem Stuhl auf, ging um den Tisch herum und stellte sich hinter Janie; ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm er sie von hinten in die Arme und legte sein Kinn auf ihre Schulter. So hielt er sie zärtlich umfaßt, während sie lautlos weinte. Sie wehrte sich nicht gegen seinen Versuch, sie zu trösten.

Ringsum starrten die Leute sie an; sie waren leise gewesen, doch Bruces abruptes Aufstehen hatte bewirkt, daß sich alle Köpfe nach ihnen umdrehten. Janie sah nicht, welche Aufmerksamkeit sie erregten; Bruce wollte nicht, daß sie es sah. Er blickte in die Runde und schaute alle Neugierigen mit einem Blick an, der besagte: Bitte, nicht starren ... Nach und nach verwandelten sich die verächtlichen Blicke in mitfühlende.

Nach ein paar Minuten hob Janie eine Hand und tätschelte seinen Arm zum Zeichen, daß er sie loslassen sollte. Er begriff sofort und zog sich zurück. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Mit roten, verschwollenen Augen sah sie ihn an und sagte zu ihrer eigenen Überraschung: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut sich das anfühlte. Danke, vielen Dank.«

»Gern geschehen. Jederzeit. Ich weiß nicht, ob ich all das durchgestanden hätte, was Sie durchgemacht haben. Es ist sehr tapfer von Ihnen, daß Sie so schnell ins Leben zurückgekehrt sind.«

»Na ja, nach so etwas wird man ziemlich hart. Eine Zeitlang war ich danach wirklich sehr hart. Ich fühlte mich wie jemand, dem man die Eingeweide aus dem Leib gerissen hat, und ich habe seither immer versucht, sie irgendwie wieder zurückzuschaufeln.«

Ein paar Augenblicke saßen sie schweigend da, während Janie sich die Augen trocknete; die Stille im Raum wurde nur durch die Gespräche an den Nachbartischen unterbrochen. Bruce winkte den Kellner weg, der mit einer neuen Flasche Wein näher kam. Nach einer angemessenen Pause sagte er: »Ursprünglich hatte ich gedacht, wir könnten zum Essen anderswo hingehen, aber vielleicht sollten wir einfach bleiben.«

»Schon wieder Essen«, sagte sie. »Anscheinend ist uns beschieden, jedesmal zu essen, wenn wir uns sehen. Ich weiß nicht, ob ich nüchtern genug bin, um die Speisekarte zu lesen.«

»Ich kann für uns beide bestellen.«

Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf seine. »Wie nett Sie heute sind. Bestellen Sie, was Sie wollen, nur keine Schnecken«, sagte sie undeutlich. »Ich hasse diese Dinger.« Sie verharrte in trunkenem Schweigen, während der kluge und bedächtige Erwachsene, der sich im Körper des einst eher rücksichtslosen Bruce breitgemacht hatte, verschiedene Gerichte bestellte, in denen keine Schnecken vorkamen.

Die Speisen wurden sehr bald serviert, und während sie aß, wurde Janie langsam wieder nüchtern. Etwas verärgert fragte sie sich, wie Bruce so nüchtern hatte bleiben können, während sie völlig betrunken geworden war. Doch im Laufe des Abends hellte ihre Stimmung sich etwas auf, und das Gespräch wandte sich anderen Details ihres Lebens zu. Das Gift der Trauer wich langsam, und nach dem Essen fühlte Janie sich unerwartet wohl in Bruces Gesellschaft.

Als sie durch die Halle zu den Aufzügen gingen, spürte Janie noch immer die Nachwirkungen ihres kurzen, aber intensiven Kontakts. In ihrem gelösten Zustand hatte sich die Wärme seiner attraktiven männlichen Gegenwart einen Weg in ihr Inneres gebahnt und bewegte sich langsam, aber stetig auf ihren Schoß zu. Sie sah Bruce an und dachte: Es ist so offensichtlich, du kannst spüren, wie es aus meinen Poren dringt, ich weiß, daß du es kannst. Es war spät, niemand war in der Nähe, und während sie auf den alten, käfigartigen Aufzug warteten, legte Bruce die Arme um sie, diesmal von vorn, und zog sie an sich. Sie widerstand, aber nur ein wenig; er sah ihr in die Augen, näherte den Mund ihren Lippen und streifte sie leicht. Dann zog er sich wieder zurück und lächelte. Gleich darauf berührte sein Mund wieder ihre Lippen, und er schloß dabei die Augen.

Doch der Rausch des Weins war vergangen, und als sich die Aufzugstüren öffneten, zog Janie sich von ihm zurück. Sie dachte an sich und an die Arbeit, die noch zu tun war, teils beruflich, teils privat. So gern sie sich ihrem erstickenden Griff auch entzogen hätte, die Angst, sich an jemanden zu binden, der ihr wieder genommen werden könnte, ließ sie nicht los. Sie fand ihre normale Stimme wieder und sagte entschieden: »Ich denke, ich gehe zu Fuß nach oben. Ich brauche ein bißchen Bewegung.« Dann drückte sie seine Hand und sagte: »Danke für den schönen Abend. Es geht mir viel besser.« Während Bruce ihr verwirrt nachsah, ging sie entschlossen auf das Leuchtschild mit der Aufschrift Treppe zu.