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Dies sollte der letzte Tag ihrer weiten Reise sein; der Spanier und der Jude erhoben sich also lange vor Tagesanbruch aus ihren bequemen Betten in dem Gasthof in Montpellier und ritten in flottem Tempo los. Beide waren begierig, die alte Mönchsstadt zu verlassen und endlich Avignon zu erreichen.

Nachdem sie ein gutes Stück Weges zurückgelegt hatten, hielten sie in einem kleinen Bauerndorf an, um ihre Pferde zu tränken. Die Sonne stand noch nicht hoch genug am Himmel, um die Feuchtigkeit der vergangenen Nacht zu vertreiben, und sie bewegten sich durch Wolken von feinem, grauem Dunst. Während sie am Brunnentrog standen und sich so gut wie möglich vom Straßenstaub reinigten, spritzte Alejandro sich Wasser ins Gesicht und sagte: »Ich werde froh sein, wenn ich einen Tag erlebe, an dem ich nicht aus einem weichen Bett aufstehen und mein Gesäß einem harten Sattel überlassen muß.«

»Beklagt Euch nicht, mein Freund«, sagte Hernandez kichernd. »Ein weniger vom Glück begüns- tigter Mann wäre vielleicht gezwungen gewesen, zu Fuß nach Avignon zu gehen.«

»Ach, wenn ich wirklich Glück gehabt hätte, hätte ich die Reise überhaupt nicht zu machen brauchen.«

»Ihr fordert das Schicksal heraus, mein Freund, wenn Ihr so etwas sagt; es gibt Menschen, die denken, daß es eine Art göttlichen Plan für den Verlauf eines Lebens gibt. Ich neige auch dieser Ansicht zu. Ihr wißt nicht, was Euch am Ende dieses Weges erwartet; vielleicht wird es eine angenehme Situation sein. Vielleicht werdet Ihr einsehen, daß Ihr nicht unglücklich seid. Und bis dahin solltet Ihr dankbar sein, daß Ihr reiten könnt.«

Das Geräusch knirschender Räder erregte ihre Aufmerksamkeit; aus dem Dunst in einiger Entfernung tauchte ein von einem Maultier gezogener Karren auf, der unter dem Gewicht seiner Ladung ächzte.

»Madre de Dios«, flüsterte Hernandez und bekreuzigte sich.

Sie wechselten bestürzte Blicke. Hernandez zeigte auf den Karren und sagte: »Ja, ein wirklich unglücklicher Mann wäre vielleicht auf diese Weise gereist.«

Als der Karren langsam deutlicher sichtbar wurde, erkannte Alejandro Hände und Füße, die seitlich herausragten. Ein Mann in einem schwarzen

Kapuzengewand, eine Peitsche in der Hand, ging vor dem Maultier her und drehte sich alle paar Schritte um, um auf das widerspenstige Tier einzuschlagen, das anscheinend die Reisenden auf dem Karren mit seinem jämmerlichen Gewieher aufwecken wollte.

Der Arzt spürte, wie seine Neugier wuchs. Endlich, dachte er bei sich. Jetzt werde ich selbst sehen, oh die Geschichten, die wir gehört haben, wahr sind.

Als der Karren näher kam, ließ er ihn nicht aus den Augen. »Seht nur, wie zerlumpt und schmutzig sie alle sind«, sagte er zu Hernandez. »Sie müssen zu Lebzeiten alle arm gewesen sein. Und schaut nur!« sagte er und zeigte auf den Karren. »Kein einziger trägt Schuhe!«

»Daraus kann man noch nicht auf Armut schließen«, sagte Hernandez in zynischem Ton. »Wahrscheinlich haben die Armen sie gestohlen, um ihren eigenen Füßen etwas Gutes zu tun.« Er bekreuzigte sich wieder, die zweite ungewöhnliche Geste für einen Mann, der es sonst mit den Vorschriften seiner Religion nicht zu genau nahm. »Gebe Gott, daß ich nie solche Entbehrungen kennenlerne.«

Alejandro bemerkte das beschützende Ritual und sagte: »Ihr seid viel zu einfallsreich, als daß Euch ein solches Schicksal beschieden sein könnte.«

Düster starrte Hernandez den Karren an. »Das stimmt wohl, denke ich, und die Jungfrau sei gelobt«, sagte er leise. »Aber ich würde mit Freuden mein Vermögen geben für die Gewißheit, nicht zu enden wie diese armen Seelen.«

So eine Gewißheit gibt es nicht, dachte Alejandro bei sich. Vor dieser Geißel sind wir alle gleich. Er wollte sich dem Karren nähern, und Hernandez begann sofort zu protestieren.

Alejandro beachtete die Ausrufe seines Begleiters nicht und ging so nahe an den Karren heran, wie seine eigene Furcht es zuließ. Ein ekelhafter Gestank ging von ihm aus, und Alejandro mußte ein paar Schritte zurücktreten. Er wandte den Kopf ab, weil es ihn würgte, und atmete mehrmals tief die frische Luft ein. Als er sich dem Karren erneut näherte, hielt er sich den Ärmel seines Hemdes vor die Nase.

Auf dem Totenkarren sah er die verrenkten Leichen von Frauen, Kindern, alten Männern; sie waren groß und klein, hell und dunkel, so verschieden, wie Menschen nur sein können. Hernandez hatte recht, dachte er bei sich, sie waren nicht alle arm. Einige wiesen Anzeichen von Beleibtheit auf und waren im Leben vielleicht wohlhabend gewesen; andere waren klapperdürr und verbraucht, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie für ihr tägliches Brot lange und hart gearbeitet hatten, bevor sie ein schmähliches Ende fanden. Neugierig spähte er nach den Leichen, sah sich die geschwollenen Hälse und aufgeschwemmten Finger der unglücklichen Opfer an und kam zu dem Schluß, daß keine der Erzählungen, die er gehört hatte, übertrieben gewesen war.

»Wohin bringt man sie?« sagte er zu dem Karrentreiber.

Der Mann blickte auf und sah ihn mit einem müden Blick an, der fast so tot wirkte wie seine grausige Fracht. Unwillkürlich jagte eine düstere Vorahnung Alejandro einen Schauder über den Rücken.

»Sie werden auf einen Acker nördlich der Stadt gebracht, wo der Priester für alle zusammen eine Totenmesse lesen wird. Gott gebe, daß sie nicht ohne Beichte gestorben sind!«

Obwohl er nicht genau verstand, was »ohne Beichte« bedeutete, nickte Alejandro, als habe er Mitgefühl für das Ungemach derer, die so gestorben waren, und hoffte insgeheim, daß der Gott der Christen den Wert der Seele nicht am Aussehen des Leichnams maß. Er würde Hernandez später bitten, ihm die Bedingung zu erklären. Etwas zittrig vom Anblick der grauenhaften Fracht des Karrens, kehrte er zum Brunnentrog zurück und fuhr mit seinen Waschungen fort.

Die majestätischen Bögen der großen Brücke von St. Benezet spannten sich elegant über die Rhone; die schön gemeißelten Steine spiegelten sich im glänzenden Wasser. Alejandro hielt den Atem an, als sie in Sicht kam; sie waren auf einer baumbestandenen Straße um eine Biegung geritten, als die Brücke plötzlich aus dem Nichts auftauchte, massiv und prachtvoll. Jenseits des Flusses lag die Stadt Avignon, das Juwel der Provence. Trotz allem, was er durchgemacht hatte - seine Gefangennahme, die Brandmarkung, die Trennung von seiner Familie, der Mord -, war Alejandro aufgeregt wie ein Kind, dort zu sein, denn in Avignon würde sein neues Leben beginnen.

Die Türme des Papstpalastes ragten majestätisch empor, große, weiße Arme, die sich bittend gen Himmel reckten. Die blendend weißen Mauern leuchteten in der Nachmittagssonne und machten den Betrachter blind für die Umgebung. Alejandro fand den Palast schöner als alles, was er je gesehen hatte. Gerüste erhoben sich an einer der Mauern, doch Alejandro sah, daß sie leer waren. »Findet Ihr es nicht seltsam, Hernandez«, fragte er, »daß an einem so schönen Tag wie heute keine Arbeiter auf den Leitern stehen?«

Hernandez folgte seinem Blick. »Ihr habt recht«, sagte er. »Keine Steinmetze zu sehen. Vielleicht ist Avignon dieser Pest auch nicht entgangen.«

Als sie in die Stadt ritten, sahen sie ringsum, daß Avignon in der Tat nicht verschont geblieben war. Leute eilten hastig an ihnen vorbei, als trieben dringende Geschäfte sie an; die Bürger von Avignon zeigten keine Anzeichen der offenen Freundlichkeit, die Alejandro zu finden gehofft hatte, sondern drückten sich an ihnen vorbei, vermieden jeden Kontakt mit den Reitern und wirkten mißtrauisch, ja sogar regelrecht feindselig. Vor beinahe jedem dritten Haus, an dem sie vorbeikamen, lagen Leichen auf dem Boden und warteten auf den Karren. Die Karren selbst lösten einander in rascher Folge ab wie eine makabre Karawane auf dem Weg zu den Begräbnisstätten. Immer waren sie voll, und ihre hölzernen Räder bogen sich unter der Last.

»Wo werden diese Toten bloß alle begraben?« fragte Alejandro sich laut, als ein weiterer Karren vorbeifuhr.

»Wichtiger noch: Wer wird sie begraben?« erwiderte Hernandez. »Diese Plage rafft so viele dahin! Bei allen Göttern, Arzt, ich fürchte, sie wird auch mich ergreifen! Wie sollen wir das verhindern?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Alejandro entmutigt und seufzte. »Ich weiß es nicht.«

»Seid Ihr sicher, daß dieses Zeichen bedeutet >Zimmer zu vermieten<?« fragte Hernandez. »Vielleicht habt Ihr die richtigen Wörter vergessen ...«

»Ich habe sie nicht vergessen«, antwortete Alejandro. Das Geräusch der zufallenden Tür klang ihm noch in den Ohren; die verwitwete Wirtin hatte ihnen den Eintritt verweigert und gesagt, sie glaube keinem mehr, daß er nicht die Pest habe. Sie hatte ihnen geraten, in einem anderen, in der Nähe gelegenen Haus nach Unterkunft zu fragen, und so machten die beiden müden Reiter kehrt und gingen die enge Treppe wieder hinunter auf die kopfsteingepflasterte Gasse.

Die zweite Witwe, eine ältere Frau, deren Mann erst vor drei Tagen der Seuche zum Opfer gefallen war, war nur zu froh, sie aufzunehmen, denn sie war ganz allein und sehr verängstigt und hatte keine Verwandten, bei denen sie Hilfe suchen konnte. Sie brauchte allerdings mehr Geld als nur die Miete für das Zimmer, denn der Tod ihres Mannes hatte sie mittellos zurückgelassen. Sie bot Alejandro an, ihm ihr ganzes Haus zu vermieten und ihm den Haushalt zu führen, und zwar gegen ein geringes Entgelt, wenn er dafür versprach, ihr bei Dingen zu helfen, die sie als alte Frau nicht allein bewältigen konnte.

Diese Vereinbarung schien für beide vorteilhaft, doch bevor er einwilligte, nahm Alejandro Hernandez beiseite und fragte ihn nach seiner Meinung zu dem Vorschlag der Witwe.

Der Spanier billigte ihn. »Ein Mann hat immer Glück, wenn eine Frau sich um ihn kümmert«, sagte er, »selbst wenn sie es nicht ohne Bezahlung tut.« Er wandte sich nach der Witwe um, die eine Entscheidung erwartete. »Zumindest wird diese nicht Eure Zeit vergeuden, indem sie versucht, Euch zum Altar zu schleppen.«

Nachdem die beiden Männer sich kurz zu ihrer glücklichen Entdeckung gratuliert hatten, sagte Hernandez: »Ich bringe unsere Pferde in den Stall und gehe dann zum Bankhaus, um meinen Vertrag mit Eurem Vater zum Abschluß zu bringen. Ich komme vor dem Abendessen zurück, und dann werden wir sehen, ob die Dienste dieser Witwe ihren Preis wert sind. Wir trinken auf Euer neues Heim und darauf, daß Euch das Glück weiter hold bleibt.«

Alejandro trug seine wenigen Habseligkeiten in das kleine Haus; es war nicht groß, aber gut mit soliden und praktischen Möbeln ausgestattet. Die Böden aus gestampfter Erde im unteren Geschoß waren sauber gefegt und eben; es gab einen langen, schmalen Tisch mit Bänken zu beiden Seiten, einen Sessel und eine kleine Pritsche zum Schlafen. Oben fand er zwei getrennte Schlafkammern, von denen eine, nach der Größe des Bettes zu urteilen, einst einem Kind gehört zu haben schien. Der zweite Schlafraum war groß und bequem und hatte ein Fenster, da er auf der Vorderseite des Hauses lag.

Das Strohlager befand sich auf einem Bettgestell; bei näherem Hinsehen merkte Alejandro, daß, das Stroh frisch und ziemlich frei von Insekten war, die Laken, wenn auch sichtlich alt, in gutem Zustand und sehr sauber. Er stellte seine Sachen in dem kleineren Zimmer ab, denn er wollte dem beleibten Hernandez, solange dieser in Avignon war, das größere Bett überlassen. Nach seiner Abreise würde er als Hausherr es dann selbst übernehmen.

Nachdem er sich eingerichtet hatte, machte Alejandro sich auf, um Avignon zu besichtigen. Er hoffte, passende Räumlichkeiten für seine chirurgische Praxis zu finden. Nicht weit von seiner neuen Unterkunft stieß er auf den Laden eines Apothekers und fragte den Mann, ob in diesem Viertel irgendwelche Ärzte praktizierten.

»Früher gab es hier in der Gegend zwei Ärzte und einen Bader für die Bewohner«, sagte der Apotheker. »Aber alle sind an derselben furchtbaren Krankheit gestorben, die auch ihre Patienten umgebracht hat, und ich fürchte, Ihr werdet dort keine Hilfe finden.«

Alejandro erklärte ihm, er sei selbst Arzt und nicht der Dienste eines Arztes bedürftig. »Ich bin eben erst nach Avignon gekommen und erwarte die Ankunft meiner Familie. Ich suche Räume für meine chirurgische Praxis.«

»Dann schlage ich vor, daß Ihr bei Dr. Seligs Witwe nachfragt. Seine Praxis war zwei Häuserblocks östlich von hier in einer engen Gasse neben der Werkstatt eines Schuhmachers. Vielleicht ist die Witwe auch bereit, Euch seine Gerätschaften zu verkaufen.« Sein Gesichtsausdruck wurde traurig. »Sie hat Kinder zu ernähren.«

Der Apotheker beugte sich dichter zu Alejandro, als wolle er ihm ein großes Geheimnis anvertrauen. »Der gute Doktor und ich hatten eine Vereinbarung, was seine Patienten betraf. Wenn seine Behandlung keine Heilung herbeiführte, schickte er die Leute zu mir, und ich verschrieb ihnen weitere Medikamente und Arzneien, um ihnen zu helfen.«

Alejandros Interesse war geweckt. »Hattet Ihr Erfolg bei der Behandlung dieser Pestilenz?«

»Pah!« lachte der Apotheker. »Keine unserer Behandlungen hat irgend etwas bewirkt! Niemand kann sagen, was die Quelle der Ansteckung ist! Sogar bei der Behandlung der Symptome habe ich wenig Erfolg.« In vertraulichem Ton fuhr er fort: »Es heißt, Juden würden die Brunnen vergiften. Ich persönlich bin geneigt, das zu glauben.«

Alejandro war bestürzt, versuchte sich das aber nicht anmerken zu lassen; er hörte diese lächerliche Anschuldigung nicht zum ersten Mal. Nun, da er nicht mehr aussah wie ein traditioneller Jude, glaubten die Leute offenbar, in seiner Gegenwart schlecht über sein Volk sprechen zu dürfen. Er zog den Kragen seines Hemdes enger zusammen und ging auf das Spiel des Mannes ein. Flüsternd sagte er: »Schrecklich! Was kann man dagegen tun?«

»Oh, es wird bereits eine Menge getan! In Arles sind drei Jüdinnen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, nachdem ein Priester leere Glasampullen in ihren Häusern gefunden hat. Nur Stunden zuvor waren sie am Brunnen gesehen worden. Jetzt wissen die Einwohner nicht, was mit ihrem Wasser ist - einige sagen, der Brunnen sei sauber, andere wollen ihn nicht mehr benutzen und erklären, lieber verdursten zu wollen, als sich der Gefahr auszusetzen, an dieser Seuche zu sterben.«

Kühner, als er sich fühlte, sagte Alejandro: »Das zeugt sicher von einer gewissen Weisheit, aber ich glaube nicht, daß die Pest vom Wasser ausgeht. Wir alle trinken Wasser, und doch sind viele von uns noch am Leben; und wären inzwischen nicht alle Einwohner von Arles bis auf den letzten Mann gestorben, wenn das Gift aus dem Brunnen käme? Es scheint nur logisch, daß wir das Wasser nicht zu fürchten brauchen.«

»Aber das ist eine Geißel, eine Strafe Gottes«, protestierte der Apotheker. »Mit Logik können wir ihre Ursache nicht entdecken.«

»An jede Entdeckung muß man mit Logik herangehen«, sagte Alejandro. Darauf erwiderte der Apotheker nichts. Alejandro hielt es für besser, die

Diskussion damit zu beenden; er hatte aus dem Munde des Mannes genug Unsinn gehört. Er entschuldigte sich so höflich wie möglich und machte sich auf die Suche nach der Witwe Selig. Dabei schwor er sich, niemals einen Patienten zu diesem Mann zu schicken, der selbst so voller Gift war.

Die Witwe öffnete die Tür zur chirurgischen Praxis ihres verstorbenen Gatten, und nachdem Alejandro sein Begehren erklärt hatte, bat sie ihn herein. Er ging ein Weilchen umher und sah sich die Räumlichkeiten und die Gerätschaften aufmerksam an. Die Frau wartete an der Tür, blieb zurückhaltend und beantwortete Alejandros Fragen höflich, aber kurz.

Er fragte sie nach dem Preis von Räumlichkeiten und Ausrüstung und äußerte Interesse, alles auf einmal zu kaufen. Die Geräte kamen ihm gut zupaß; sie waren nicht von allererster Qualität, aber weit besser als die, die er in Cervere benutzt hatte. Die Frau nannte einen Preis, und er zögerte einen Augenblick, weil er dachte, er sei zu gering für den wahren Wert des Ganzen. Dann sagte er zu ihr: »Madame, gewiß wäre eine höhere Summe angemessen.«

»Ich habe diesen Preis genannt, weil ich schnell verkaufen muß. Ich muß für meine Kinder sorgen.«

Er zählte einige Münzen mehr ab, als dem Preis entsprach, und drückte sie ihr in die Hand. Nach- dem sie ihm überschwenglich gedankt hatte, gab sie ihm den eisernen Türschlüssel und wollte gehen, doch Alejandro hielt sie zurück.

»Madame«, sagte er, »hat Euer Gatte viele Patienten behandelt, die die Seuche hatten?«

Noch immer sah sie ihn nicht an, sondern antwortete mit niedergeschlagenen Augen: »In seiner letzten Lebenswoche hat er nichts anderes getan. Es hat ihn aufgezehrt. Als sie seinen Leichnam abholten, war er mit Beulen bedeckt; aber ich weiß, daß er an gebrochenem Herzen gestorben ist.« Und damit ging sie, in einer Hand alles tragend, was von der jahrelangen Hingabe ihres Mannes an seinen Beruf übriggeblieben war.

Alejandro stand in der leeren Praxis und musterte seine neuen Besitztümer; er empfand eine eigenartige Mischung aus Erregung und Angst. Die Praxis war größer und dunkler als seine in Cervere; er wußte, daß er für heikle Tätigkeiten eine Lichtquelle würde schaffen müssen. Licht für mein neues Leben, dachte er, als er die Tür hinter sich absperrte. Auf der Tür war noch immer ein Schild mit Se- ligs Namen. Morgen, dachte er, werde ich einen Schildermacher suchen und mein eigenes Schild anbringen.

Wie versprochen kam Hernandez rechtzeitig zum Abendessen zu Alejandros Haus zurück und be- richtete vom Erfolg seines Besuchs im Bankhaus. »Wir sollen uns in drei Tagen zusammen dort einfinden, und dann werde ich hübsch dafür belohnt, daß ich Eure unwissende Haut gegen Straßenschurken verteidigt habe.« Er warf Alejandro einen vielsagenden Blick zu und fuhr fort: »Ich bin dankbar, daß uns keine Schurken in der Verkleidung spanischer Soldaten belästigt haben.« Dann lachte er und sagte: »Aber ich glaube, man bezahlt mir zuviel; die schlimmste Gefahr, der wir ausgesetzt waren, war wohl die Hitze der Sonne.«

»Trotzdem, Señor«, antwortete Alejandro, »Eure Aufgabe war nicht leicht, und Ihr habt sie gut erfüllt. Niemand mißgönnt Euch Eure verdiente Belohnung. Sie wurde im voraus vereinbart.«

Im Licht von zwei Kerzen auf dem Tisch verzehrten sie ihr gekochtes Fleisch und das knusprige Brot. Die Witwe servierte ihnen einen köstlichen Wein, den ihr Mann gekeltert hatte, und sie tranken einander zu, wie sie es sich versprochen hatten.

Alejandro fragte den Spanier nach seinen Zukunftsplänen. »Was werdet Ihr tun, da Eure Aufgabe nun erfüllt ist? Vielleicht solltet Ihr eine Weile hier in Avignon bleiben. Dieses Haus ist viel zu groß für mich, und ich glaube, die Witwe wäre froh um eine zusätzliche Münze jede Woche.«

Hernandez dankte ihm für das Angebot. »Ich habe Euch tatsächlich liebgewonnen, junger Herr, und ich weiß, daß Eure Gesellschaft mir fehlen wird. Seit unserer ersten Begegnung im Kloster von Cervere haben wir einen langen Weg zurückgelegt.«

Er trank einen Schluck von dem ausgezeichneten Wein und fuhr fort: »Für einen Mann wie mich ist es eine zu große Versuchung, ein gutes Pferd und eine kleine Börse mit Gold zu besitzen; jetzt kann ich reisen, wohin ich will, und viele Nächte unter den Sternen zubringen. Außerdem bin ich meiner alten Geschichten überdrüssig; ich glaube, es ist Zeit, daß ich ein paar neue erlebe.«

Dann senkte der Spanier die Stimme, da er die Wirtin nicht an ihren jüngsten Verlust erinnern wollte. »Ich habe vor, dieser Pest davonzureiten. Ich glaube, Avignon ist gefährlicher für mich als ein Platz am Lagerfeuer.«

Diese Erklärung seines tapferen Freundes ernüchterte Alejandro. Er versuchte, die herzliche Stimmung wiederherzustellen, und prophezeite kühn: »Ihr werdet nach Avignon zurückkehren, und ich werde Euren nächsten Besuch ungeduldig erwarten; ich rechne fest damit, daß Ihr mich mit Erzählungen über Eure neuesten Abenteuer unterhaltet. Bis dahin werde ich Eure angenehme Gesellschaft und unsere Gespräche bitter vermissen.«

Mit einer höflichen Verneigung trank Hernandez seinem jungen Gastgeber nochmals zu. Ale- jandro dachte an zukünftige Abendmahlzeiten, bei denen ihm nur seine Hauswirtin Gesellschaft leisten würde, und er wußte, Hernandez würde ihm tatsächlich fehlen.

»Und jetzt, mein Freund, verlasse ich Euch für heute abend und suche die Gesellschaft einer fröhlichen Dirne. Ich verspüre das Bedürfnis, meine alten Geschichten noch einmal zu wiederholen.«

Am Vorabend des Tages, an dem sie das Bankhaus aufsuchen sollten, entschuldigte sich Hernandez und stand vom Tisch auf, bevor er seine Mahlzeit beendet hatte, er klagte über Magenbeschwerden.

»Dieses französische Essen ist zu reichhaltig für mich. Ich habe in dieser Woche mehr Eier und Käse gegessen als während der ganzen Zeit in Aragon. Ich glaube, heute nacht gewähre ich meinen Verdauungsorganen eine Verschnaufpause.«

Gegen Mitternacht schwitzte und fror er abwechselnd; mal zog er seine Decke eng um sich, mal warf er sie heftig ab. Gegen alle Vernunft hoffte Alejandro, die Symptome seines Freundes seien nur die einer vorübergehenden Influenza oder einfach ein Anfall von la grippe; also behandelte er Hernandez entsprechend, flößte ihm Tee ein und wischte ihm mit kaltem Wasser und einem Schwamm das Gesicht ab.

Von der Wirtin borgte er sich eine Lampe mit dem Versprechen, den Ölbehälter am folgenden Tag wieder aufzufüllen. Dann lief er rasch in seine nahe Praxis und suchte die Geräte zusammen, die er für die Behandlung von Hernandez’ Krankheit brauchen würde, falls seine schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheiten sollten. Er würde sein Messer, sein Skalpell und eine Schüssel zum Auffangen des Blutes nötig haben, etwas Laudanum, um den Schmerz zu lindern, und viel Wein, den er seiner Wirtin abkaufen würde.

Als Alejandro in sein Haus zurückkehrte, ging es Hernandez sichtlich schlechter. Sein Atem war flach, und sein normalerweise gerötetes Gesicht sah bleich und teigig aus. Alejandro wies die Wirtin an, einen großen Becher zu bringen, füllte ihn mit starkem Wein und zwang Hernandez, diesen zu trinken. Der Wein schien ihn zu beruhigen.

Doch kurz darauf setzte der beleibte Mann sich ohne Vorwarnung im Bett auf, seine Augen traten hervor, und er übergab sich so heftig, daß der unverdaute Inhalt seines Magens durch das ganze Zimmer spritzte. Die Wirtin ächzte voller Ekel und eilte aus dem Zimmer; Alejandro hörte ihre hastigen Schritte auf der Treppe, versuchte aber nicht, ihr zu folgen.

Hernandez beruhigte sich ein wenig, nachdem er seinen Mageninhalt losgeworden war. Alejandro öffnete die Fensterläden, um den unangenehmen Geruch zu vertreiben, und zog einen Stuhl neben das Bett des Kranken. »Ich werde bei Euch wachen, Hernandez, und für Eure Bedürfnisse sorgen«, sagte er. Dann legte er den Kopf auf die Arme und fiel in unruhigen Schlaf, wobei er immer wieder kurz von Carlos Alderon träumte.

Das Zwitschern einer Amsel auf dem Sims des offenen Fensters weckte ihn auf. Er schaute nach Hernandez und sah, daß der Kranke noch friedlich schlief. Die grobe dunkle Decke war bis zum Hals des Soldaten hochgezogen, und sein kalkweißes Gesicht hob sich unheimlich davon ab. »Euch muß sehr warm sein, mein guter Freund«, sagte Alejandro und legte eine Handfläche auf Hernandez’ schweißnasse Stirn.

»Ja, tatsächlich«, antwortete er sich selbst und zog die Decke ein wenig hinunter.

Er hatte die scheußlichen Schwellungen an den Hälsen der Leichen gesehen, doch der Anblick eines so entstellten Lebenden drehte ihm den Magen um. Hernandez’ Hals war unförmig aufgequollen. Blaue und schwarze Flecken umgaben eine große, runde Beule. Alejandro streckte die Hand nach Hernandez aus und spürte, daß das Fleisch immer wärmer wurde, je näher seine Finger dem Hals kamen; er legte die Fingerspitzen leicht auf die heiße Haut, tupfte sanft auf die runde Schwellung und war überrascht, wie fest sie sich anfühlte. Er wußte ganz sicher, daß sie mit dem dicken, wolkigen Sekret gefüllt war, das Beobachter dieser Seuche so oft beschrieben hatten. Er beschloß, Hernandez von dem Schmerz dieser riesigen Beule zu befreien, indem er sie öffnete.

Als er nach der Wirtin rief, damit sie Wasser brachte, erhielt er keine Antwort. Er ging nach unten und sah, daß die Laken auf ihrer Schlafpritsche neben dem Herd unberührt waren, und schloß daraus, daß sie die Flucht ergriffen hatte. Er nahm das dünne Leintuch von der Pritsche und riß es schnell in schmale Streifen. In der Küche fand er zwei Eimer mit Wasser, einer ganz voll, einer halb. Er trug einen Eimer und die Stoffstreifen nach oben und stellte alles auf dem kleinen Tisch neben Hernandez’ Bett bereit.

Nachdem er sich rasch die Hände gewaschen und an einem der Leintuchfetzen abgetrocknet hatte, nahm er ein kleines Fläschchen Laudanum heraus. Er schüttelte Hernandez sanft, um ihn aufzuwecken, und bat ihn, den Mund zu öffnen.

»Streckt die Zunge heraus, Hernandez; ich will Euch eine Arznei geben, die Eure Schmerzen lindern wird.«

Benommen tat der Spanier, worum er ihn gebeten hatte. Ihre Rollen waren jetzt vertauscht. Hernandez war das hilflose und unwissende Kind, Alejandro der weise und erfahrene Krieger, bereit, den unsichtbaren Angreifer seines Freundes zu bekämpfen.

Alejandro wandte sich ab, um saubere Luft zu atmen, denn Hernandez’ Zunge war von einem kreidigen Belag bedeckt und verströmte einen unbeschreiblichen Geruch. Von der frischeren Luft gestärkt, sagte Alejandro: »Ruhig jetzt, denn das schmeckt unangenehm.« Dann träufelte er eine kleine Menge der Droge auf die Zunge seines Freundes. Um seinen Patienten aufzuheitern, fügte er hinzu: »Ich fände es sehr freundlich, wenn Ihr es nicht wieder von Euch geben würdet wie Eure letzte Mahlzeit.« Hernandez versuchte zu lächeln, doch statt dessen zuckte er zusammen; das bloße Verziehen der Lippen ließ den Schmerz in seinem Hals wild pochen. Tapfer unterdrückte er einen Schrei, doch er konnte nicht verhindern, daß ihm Tränen über die bleichen Wangen liefen.

»Nur Geduld, Hernandez, gleich werde ich meine bescheidenen Fertigkeiten an Eurem gequälten Hals anwenden. Ihr braucht nicht mehr lange zu leiden.«

Hernandez konnte nicht sprechen. Langsam bewegte er seine Hand, klopfte leicht auf Alejandros Hand und dann auf seine Achselhöhle. Alejandro versuchte zu erraten, was der Kranke ihm sagen wollte, öffnete Hernandez’ Hemd und zog es über die Schulter herunter, um besser sehen zu können.

Er entdeckte die gleichen fleckigen Schwellungen. Als er die apfelgroßen Beulen berührte, zuckte Hernandez zurück; diesmal konnte er seine Qual nicht verbergen. Er schrie vor Schmerzen.

Langsam tat das Laudanum seine wundersame Wirkung, und der Patient lag still, unempfindlich und benommen von der Droge. Alejandro arbeitete schnell, da er nicht wußte, wieviel Zeit er haben würde, bevor Hernandez wieder bei vollem Bewußtsein war. Er säuberte seine Instrumente und wischte sie sorgfältig an einem der Leinenstreifen ab. Einen anderen tauchte er in Wasser und wusch den Bereich rings um die Beule von dem Schweiß sauber, der Hernandez über den Hals gelaufen war. Sorgfältig legte er dann mehrere schmale Streifen Stoff um das gelbliche Zentrum der Beule, um das Sekret aufzufangen, das nach dem Öffnen austreten würde, denn er hatte nicht die Absicht, es zu berühren. Er setzte das Skalpell in der Mitte der Beule an, legte einen weiteren Stoffstreifen darum und drückte zu. Hernandez begann sich schwerfällig zu winden, da er trotz seines Laudanumrau- sches Schmerz verspürte. Alejandro hielt den starken Druck aufrecht und fühlte, daß die Schwellung kleiner wurde.

Endlich versiegte das Sekret, keinen Augenblick zu früh, denn Hernandez kam langsam wieder zu Bewußtsein. Alejandro glaubte, betäubt sei er besser daran, und bot ihm mehr Laudanum an. Doch Hernandez machte mit der Hand eine schwache, verneinende Geste; er schien etwas sagen zu wollen.

Seine Stimme klang trocken und erschöpft. »Vergeudet Eure Arznei nicht an mich, Alejandro; ich empfinde in der Achselhöhle und in der Nähe meiner Männlichkeit den gleichen Schmerz wie im Hals. Bald werde ich nur noch aus Beulen bestehen, und Ihr werdet mir nicht helfen können. Ich glaube nicht, daß ich je wieder von diesem Bett aufstehen werde; bitte gestattet mir, in Würde zu sterben.«

Hernandez hatte all seine Kraft gebraucht, um diese wenigen Worte zu sprechen; er schloß die Augen und lag still, erschöpft von der Anstrengung, seine Wünsche zu bekunden.

Alejandro hatte gehört, daß die Opfer der Seuche in ihren letzten Stunden unter schrecklicher, verzweifelter Hoffnungslosigkeit litten, und er spürte, daß das jetzt auch bei Hernandez so war, doch er hatte nicht geahnt, daß dieselbe Verzweiflung auch die Überlebenden ergriff. Er umfaßte die schwarz gewordene Hand des Mannes und flüsterte ihm zu: »Wie Ihr wollt, mein Freund. Ich werde Eure Leiden nicht vergrößern.«

Um die Mitte des Nachmittags waren beide Hände des Spaniers vollkommen schwarz. Alejandro hatte nicht gewagt, sich die Füße anzusehen, vermutete aber, daß sie in ähnlichem Zustand waren. Untätig saß er am Bett des Spaniers und empfand abwechselnd tiefe Betrübnis und hilflose Wut. Er dachte zurück an den Tod des Schmiedes Carlos Alderon und seine Enttäuschung, weil er das Fortschreiten seiner Krankheit nicht hatte verhindern können. »Wollt Ihr mir nicht Zeit lassen, mich vorzubereiten?« fragte er Hernandez, der ihn nicht mehr hören konnte.

Alejandro betrachtete den verfallenen Körper und erinnerte sich, wie kräftig und stark er einmal gewesen war. Der Leib hatte sich während der kurzen Krankheit im Fieber verzehrt und wirkte viel kleiner und knochiger, als sei das Leben schon aus ihm entwichen. Der Hals war wieder geschwollen, da er sich rasch mit schwarzem Blut aufgefüllt hatte, das jetzt aus der Wunde tropfte und in körnigen Klumpen an den Seiten des Halses gerann.

In dem verzweifelten Wunsch, den Kontakt mit dem Mann nicht zu verlieren, den er inzwischen bewunderte und der nun sein einziger Freund auf der Welt war, sprach Alejandro leise auf ihn ein, während Hernandez dem Tode näher und näher kam, obwohl er wußte, daß der Spanier ihn nicht hören konnte.

»Ich verfluche mein Schicksal, Hernandez«, sagte er. »Ich wäre noch immer in Cervere bei meinen Freunden und meiner Familie, wenn dieses Mädchen nicht gewesen wäre. Und wenn der Bischof sich ehrenhaft benommen hätte - Ihr habt mir gezeigt, daß Christen dazu imstande sind -, dann hätte ich auf dieser Reise nicht die Angst vor Entdeckung kennengelernt.« Beschämt ließ er den Kopf hängen. »Und ich hätte auch keinen Grund gehabt, Euch mein Geheimnis zu verschweigen. Ich habe ihn getötet, wißt Ihr; ich habe ihm mein Messer in die Brust gestoßen. Ich wollte, daß sein Leben vor meinen Augen rot aus ihm herausströmt. Das belastet meine Seele; irgendwie werde ich diese Tat büßen müssen.«

Hernandez stöhnte, und Alejandro wischte ihm die Stirn ab. »Aber wenn das alles nicht passiert wäre, hätte ich nicht das Privileg gehabt, Euch kennenzulernen, mein Freund; es war eine größere Freude, als ich mir je hätte vorstellen können. Ihr werdet mir wirklich fehlen.«

Hernandez starb bei Sonnenuntergang, nachdem er die Augen kurz geöffnet und sich ein letztes Mal umgesehen hatte. Er flüsterte: »Madre de Dios.« Dann schloß er die Augen und tat seinen letzten Atemzug.

Alejandro wußte, daß er nun nichts mehr für Hernandez tun konnte. Er bedeckte ihn mit dem Laken, ging dann langsam in seine eigene Schlafkammer und fiel erschöpft ins Bett. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Kleider abzulegen.

Papst Clemens saß in seinen privaten Gemächern und fächelte sich in der drückenden Hitze. Wozu ist das gut? fragte er sich im stillen. Hier hat es keine frische Luft mehr gegeben, seit dieser Schurke de Chauliac mich eingeschlossen hat, und noch dazu auf meinen eigenen Befehl, welche Ironie! Er wischte sich den Schweiß von der roten Stirn; das feuchte Tuch hatte er seit dem Beginn seiner Gefangenschaft bei sich.

Das leise Klingeln einer Glocke lenkte ihn für einen Augenblick von seinem Elend ab. Oh, Herr Jesus, laß es etwas Schmackhaftes sein, oder etwas mit Honig, oder vielleicht etwas Wollüstiges und Williges! Ich bin dieser Langeweile so müde!

Doch zu seiner Enttäuschung wurde ihm nur eine Schriftrolle überbracht, wenn auch von eindrucksvoller Größe. Eifrig öffnete er sie, gierig nach Abwechslung von der Langeweile als Gefangener seines Arztes. Er sah sich nicht einmal vorher das Siegel an, sondern begann gleich zu lesen.

 

Eure Heiligkeit,

 

mit großer Traurigkeit schreibe ich Euch über Angelegenheiten, die sehr wichtig für die Heilige Kirche Christi und das Königreich England sind. Nun sind auch wir mit der Geißel geschlagen, die schon in ganz Europa wütet. Wir hatten gehofft, durch unsere Isolation von Frankreich ihren Ver- heerungen zu entgehen, doch sie hat starrsinnig das Meer überquert und ihr böses Gift an unsere schönen Ufer getragen. Sie begann vor nicht ganz einem Monat in Southampton und hat nun in unserer guten Stadt London und Umgebung festen Fuß gefaßt.

Ich habe die traurige Pflicht, Euch vom Tode John Stratfords zu unterrichten, unseres hingebungsvollen Erzbischofs, der am sechsten Tage des August in Canterbury verstarb. Seine Eminenz verließ diese Erde nach fünftägiger Krankheit, umsorgt von seinem Arzt und mehreren Mitgliedern seiner Familie, die über den Verlust tief betroffen und untröstlich sind.

Doch nun müssen wir von unserer eigenen Trauer sprechen, denn ich muß Euch einen weiteren Verlust melden, der mich und meine gute Königin Phillippa in noch größere Verzweiflung stürzt. Unsere liebe Tochter Joanna ist auf ihrer Brautreise nach Kastilien derselben schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen. Während sie durch Bordeaux reiste, erkrankte sie zusammen mit mehreren Mitgliedern ihres Hofstaates.

Der Tod unserer schönen Joanna stürzt unsere Familie in unaussprechliche Trauer und bedroht außerdem unsere Allianz mit König Alfonso. Ich fürchte, die Weigerung meiner Isabella, seinen verachtungswürdigen Sohn Pedro zu heiraten, hat die Verständigung zwischen unseren beiden Reichen nicht gerade gefördert, und Ihr wißt, daß ich gegen die danach beschlossene Vermählung zwischen ihm und Joanna war. Eure Heiligkeit erinnert sich vielleicht, daß es viel Zwietracht über die Frage gab, ob diese Heirat weise wäre. Wir haben uns sehr bemüht, Alfonso davon zu überzeugen, daß Joanna ein angemessener Ersatz für ihre Schwester wäre, und das Mädchen selbst war willig. Möge Gott im Himmel ihr die Gnade gewähren, die sie für so edlen Gehorsam verdient. Ihr unzeitiges Hinscheiden hat nun ohne Zweifel die Spaltung zwischen Kastilien und England vertieft. Der Verlust Joannas ist nicht gutzumachen, es sei denn mittels einer anderen annehmbaren Tochter in heiratsfähigem Alter, und meine Königin weigert sich nun, eines ihrer Kinder aus den Augen zu lassen, da sie Angst hat, es sonst niemals wiederzusehen. Ich habe sie überredet, die jüngeren Kinder mit unserem königlichen Arzt, Master Gaddesdon, nach Eltham Castle reisen zu lassen, um dort das Ende der Seuche abzuwarten. Aber sie will nichts davon hören, den jungen Edward und Isabella ebenfalls dorthin zu lassen, und in Wahrheit wollen die beiden das auch nicht.

Meine Minister und Berater können sich im Augenblick nicht einig werden, und alles ist in Verwirrung. Niemand möchte in London bleiben, da man die Ansteckung fürchtet, die unsere Bevölkerung in ihren schwarzen Klauen hat. Meinem Hof mangelt es an Dienerschaft, und ich mußte das Parlament auf unabsehbare Zeit auflösen. In Windsor fehlen mir fähige Berater, und Geschäfte meines Hofes werden gefährlich vernachlässigt. An meiner Grenze sammeln sich vergnügte Schotten, die gedenken, unsere vorübergehende Schwäche zu nutzen, weil sie sich in dem Irrglauben wiegen, sie würden der Pest nicht zum Opfer fallen.

In aufrichtiger Demut erbitte ich den Rat Eurer Heiligkeit, wie wir diese Angelegenheiten regeln sollen. Insbesondere brauchen wir einen Nachfolger für den verstorbenen Erzbischof; gewiß gibt es unter Avignons fähigen Bischöfen einen passenden Kandidaten, vielleicht auch einen Prälaten aus unserem eigenen Volk, der diesem Amt gerecht werden kann. Ich überlasse diese Entscheidung Gott und Eurer Heiligkeit, aber ich erinnere Euch in aller Bescheidenheit an unseren Wunsch, den Posten eilig zu besetzen.

Unsere Gesandten sagen, daß Euer Arzt über weise Methoden verfügt, die Ausbreitung der Ansteckung zu verhindern; als Beschützer Eurer heiligen Person ist er seiner Rolle wahrhaftig gerecht geworden. Ich hätte gern, daß Ihr uns einen Arzt schickt, der sich gut auf diese Vorbeugungsmaßnahmen versteht, denn wir haben wenig Erfahrung und müssen dafür sorgen, daß unsere Isabella vor dem Schicksal ihrer Schwester bewahrt bleibt. Sie ist der Liebling ihrer Mutter, die schon den Schmerz erleiden mußte, daß eine ihrer Töchter ihr in die Ewigkeit voranging. Ich möchte meiner guten Königin einen weiteren Verlust dieser Art mit Gottes Hilfe ersparen.

Ich habe angefangen, andere Heiratsmöglichkeiten für Isabella in Betracht zu ziehen. Es besteht die Möglichkeit einer Verehelichung mit der Familie von Brabant; der Herzog hat den Vorschlag gemacht, seinen ältesten Sohn mit unserer Tochter zu vermählen. Ich zögere, diese Heirat fest zuzusagen, da ich fürchte, unsere Blutlinie zu schwächen. Isabella wäre mit ihrem Bräutigam nahe verwandt, und Eure Heiligkeit hat ja die Ansicht kundgetan, daß solche Verbindungen zu kränklicher und oft geistesschwacher Nachkommenschaft führen können. Wir sind zwar von der Lebenskraft unserer Linie überzeugt, nicht aber von der Brabants. Meine Königin und ich suchen Euren Rat bezüglich der vorgeschlagenen Verbindung. Und Isabella selbst leidet noch immer unter der Schmach ihrer jüngsten Zurückweisung, an die die Gegenwart der Bra- banter erinnert.

Wir befinden uns auf unserer schönen Insel noch nicht im Zustand der Anarchie, sind aber nicht weit davon entfernt. Mein Feldzug in Frankreich ist zum Stillstand gekommen; dort herrscht große Ungewißheit, und meine guten Ritter raten davon ab, die Belagerung gerade jetzt fortzusetzen. Jeden Tag fordert die Seuche mehr Opfer und macht keinen Unterschied zwischen niedrig und hoch Geborenen. Die Bauern können die Ernte nicht einbringen, weil es an fähigen Helfern fehlt, die die Sichel schwingen. Die Gerste auf den Feldern schießt ins Kraut, der Honig wird nicht eingesammelt, daher gibt es keinen Honigwein. Unser Vieh wird nicht versorgt; einige Tiere sind bereits der gleichen Seuche zum Opfer gefallen, und ihre Kadaver verderben die Weiden und verpesten die Luft. Unsere ganze Welt windet sich in den Händen des Teufels und bemüht sich, der Pest aus dem Weg zu gehen, doch von Tag zu Tag sind es mehr, die auf entsetzliche Weise zugrunde gehen.

Meine Königin und ich mit unserem ganzen königlichen Haushalt erwarten Eure weise Antwort auf unsere Bitten. Wir beten, sie möge von schnellen Reitern geschickt werden, denn diese fürchterliche Krankheit rafft ihre Opfer aufs Geratewohl dahin und nimmt nicht einmal auf die besten Pläne der mächtigsten Lords Rücksicht. Ich werfe mich Eurer Heiligkeit zu Füßen, erflehe Euren apostolischen Segen und verbleibe, Heiliger Vater, in tiefer Verehrung Eurer Heiligkeit,

 

Euer demütigster und bescheidenster Diener und Sohn

Edward Rex

 

Papst Clemens VI. las den Brief des Königs zu Ende und fächelte sich dann nachdenklich mit der Schriftrolle. Die Ereignisse, die Edward in seiner Botschaft schilderte, verlangten gründliche Überlegung, und in der ausgeklügelten Isolation, die sein Leibarzt Guy de Chauliac ihm auferlegt hatte, hatte er reichlich Zeit zum Nachdenken.

Monsieur le docteur hatte angeordnet, daß der Papst wenig oder keinen Kontakt mit anderen Menschen haben sollte, solange die Seuche andauerte. Er hatte Clemens in seinen Privatgemächern eingesperrt und befohlen, in allen Kaminen der großen Zimmerfluchten Feuer zu machen. Die Fenster waren mit Läden verschlossen, und die Türen wurden nur mit besonderer Erlaubnis des Arztes geöffnet. Clemens wurde angeraten, langärme- lige, eng sitzende Gewänder zu tragen und stets sein Haupt bedeckt zu halten. Sein fade zubereitetes Essen wurde in winzigen Portionen serviert, denn de Chauliac glaubte, die Sünde der Völlerei verstärke die Krankheitsanfälligkeit eines Menschen.

Clemens rieb sich bedrückt das Kinn und dachte bei sich, daß dieses mönchische Leben für einen Mann mit seinen weltlichen Vorlieben schlimmer war als der Tod. De Chauliac war fest davon überzeugt, die Infektion sei eine Folge direkten Kontakts mit der Krankheit, doch er konnte nicht erklären, auf welche Weise die Ansteckung erfolgte, und hatte daher einfach angeordnet, Clemens sei von allem zu isolieren.

So war der Papst aller Freuden beraubt und daher natürlich recht reizbar, ein Zustand, der sich durch Edwards Brief nicht verbesserte. Er zog an dem samtenen Klingelzug, der neben seinem Divan hing, und wartete auf Guy de Chauliac. Leise trat der Arzt ein, kniete vor dem Papst nieder und küßte unterwürfig seinen Ring.

»Steht auf, de Chauliac, denn ich finde Eure Geste unaufrichtig. Wir wissen beide, daß ich mich Euch unterwerfe und nicht umgekehrt. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem diese Pest vergangen ist und ich Euch angemessen züchtigen kann für die Strafe, die Ihr mir auferlegt habt.«

Aber Clemens war kein Narr; er wußte, daß Avignon den größten Teil seiner Einwohner an die Pest verloren hatte, und er selbst war noch immer sehr lebendig. Er wußte, seine anhaltende Gesundheit war mehr als schlichtes Glück.

De Chauliac erhob sich wie befohlen; er überragte den sitzenden Papst, der angewidert zu ihm aufsah. »Euer Heiligkeit«, sagte der Arzt mit zuckersüßer Stimme, »womit darf ich Euch dienen?«

»Wahrhaftig, Monsieur, Ihr habt mir bereits allzugut gedient. Ich möchte, daß Ihr mich aus dieser unheiligen Gefangenschaft entlaßt.«

De Chauliac war auf diese Klage seines verwöhnten Patienten immer vorbereitet. »Ich erinnere Euer Gnaden bescheiden daran, daß unsere Anstrengungen, Eure Gesundheit zu bewahren, bislang recht erfolgreich waren.«

»Euer Erfolg ist mir bewußt, de Chauliac, aber ich bin Eurer spartanischen Methoden müde. Sicher sind sie nicht mehr lange notwendig.«

»Euer Heiligkeit, erst heute morgen habe ich den Bericht der medizinischen Fakultät der Universität von Paris erhalten, der auf Befehl unseres edlen Königs Philip geschrieben wurde. Eine höchst gelehrte Gruppe von Ärzten und Astrologen hat ihren beträchtlichen Geistesgaben die Aufgabe gestellt, diese sehr heikle Frage zu lösen. Sie sind der Ansicht, daß diese Pestilenz von einem überaus ungewöhnlichen Himmelsgeschehnis ausgelöst wurde. Gott der Allmächtige hat den Planeten Saturn, einen starrsinnigen, aber ziemlich ungeduldigen Himmelskörper, in eine fast vollkommene Linie mit dem unzüchtigen und verspielten Jupiter gestellt, normalerweise eine nicht weiter bemerkenswerte Verbindung; ihre sich überschneidenden Pfade am Himmel stehen bekanntlich unter dem Einfluß des Aquarius. Dieses himmlische Zusammentreffen hat schon früher einige ungewöhnliche Ereignisse ausgelöst, etwa kleine Überschwemmungen, schlechte Ernten und dergleichen. Unglücklicherweise hat das Eintreffen des Mars mit seinem kriegerischen Temperament dem, was sonst kaum bemerkt worden wäre, einen tödlichen Charakter gegeben. Mars liebt den Krieg und hat Jupiter und Saturn veranlaßt, miteinander zu kämpfen. Es ist diese unglückselige Mischung von Eigenschaften, die der Pestilenz gestattet hat, unser Leben zu beherrschen.«

Clemens bedauerte den anhaltenden Einfluß der Astrologie auf die Anhänger des Christentums, konnte aber die Ausübung der fatalistischen Wissenschaft anscheinend nicht verhindern. »Seid Ihr mit diesen Feststellungen einverstanden, Monsieur?«

De Chauliac, stets ein vorsichtiger Diplomat, antwortete: »Mein Fürst, meine Weisheit reicht nicht aus, um nicht damit einverstanden zu sein. Es handelt sich um sehr weise Männer, die gelehrtesten in unserem Reich, und sie haben sich mit Fleiß an die Aufgabe gemacht, die Seine Majestät ihnen stellte. Die himmlischen Bedingungen, die sie beschreiben, könnten leicht Ereignisse auf der Erde in höchst böswilliger Weise beeinflussen.«

Der Papst, der sich ärgerte, weil de Chauliac mit vielen Worten nichts gesagt hatte, fächelte sich erneut. »Ich möchte trotzdem wissen, wie lange meine Gefangenschaft hier wohl noch dauern wird, und Ihr habt mir nicht geantwortet.«

De Chauliac lächelte seinen Herrn liebenswürdig an und entzog sich mit gewohnter Wortgewandtheit der möglichen Falle. »Wir sind nur Menschen, die versuchen, den Plan Gottes zu erklären, und Gott teilt seine Pläne niemandem mit. Ich bitte Euch, seid geduldig und bleibt in Eurer Abgeschiedenheit. Zu gegebener Zeit wird sie zu Ende sein.«

Geduld gehörte zwar nicht zu den herausragenden Eigenschaften des Papstes, doch Clemens war klug genug, um zu wissen, daß die Worte seines Arztes zumindest zur Hälfte stimmten, und er fand sich mit der verhaßten Isolation ab. »Monsieur, die Engel werden lachen, wenn ich diese Geißel nur überlebe, um danach zufällig von Gottes Blitz gefällt zu werden. Wenn ich zum Himmel aufsteige, werde ich Euch diese Gefangenschaft sehr übelnehmen.«

De Chauliac gestattete sich ein kleines Lachen, erleichtert, die Situation wieder in der Hand zu haben.

Clemens nahm Edwards Brief und reichte ihn de Chauliac, der ihn rasch überflog. »Das sind höchst bestürzende Ereignisse, Euer Heiligkeit.«

»In der Tat!« antwortete Clemens. »Diese Heiratsfrage war doch schon geregelt! Und nun sind all unsere klugen diplomatischen Bemühungen zunichte gemacht. Eine Allianz zwischen Spanien und England wäre für unsere Heilige Kirche von großem Nutzen gewesen. Wenn Pedro König von Spanien ist, wird er größere Rücksicht auf Dinge nehmen, die die Kirche betreffen, als Edward in England; vielleicht hätte er durch dessen Tochter Joanna auch Edward in diesem Sinne beeinflußt.«

De Chauliac murmelte: »Hat Prinzessin Isabella Pedro nicht bereits abgewiesen?«

»Ja! Und sie wirkt auf höchst verwerfliche Weise auf ihren Vater ein! Sie ist ein verwöhntes, halsstarriges Ding. Kaum war die kastilische Heirat vorgeschlagen, hat sie Edward schon wissen lassen, daß sie Pedro nicht mag. Dieser Narr begeht gelegentlich den Fehler, sich mit seinen Kindern zu beraten, bevor er eine Vereinbarung schließt, als ob deren Meinung für das Ergebnis so gewichtiger Entscheidung von irgendeiner Bedeutung wäre! Er ist zu duldsam mit ihr; von meinem Gesandten habe ich gehört, daß diese Tochter ihn an seine Mutter erinnert.«

»Der er auf einem Umweg seinen Thron verdankt«, bemerkte de Chauliac. Er wußte, daß Clemens’ »Gesandte« nichts anderes waren als Spione, die ständig den Einfluß der katholischen Kirche auf den englischen Hof im Auge behalten sollten; auch Edward wußte das. »Dann verstehe ich nicht, warum es für uns vorteilhaft ist, sie zu beschützen. Wenn sie so eigenwillig und wild ist, wie man sich erzählt, werden wir es schwer haben, sie zu kontrollieren.«

»Aber wir dürfen nicht unterschätzen, wie wichtig sie als Mittel ist, unseren Einfluß auf England zu wahren. Daß sie verschwenderisch und verwöhnt ist, spielt für uns keine Rolle. Ihre größte Bedeutung liegt darin, daß sie die Mutter zukünftiger Könige ist und eines Tages vielleicht selbst als Königin Einfluß hat. So Gott will, wird sie ihr unverschämtes Verhalten ablegen, wenn ihre Schönheit schwindet, und sich ihrer königlichen Abstammung würdig erweisen. Sie ist schließlich die Tochter des Königs von England und Abkömmling einer sehr edlen Familie.«

»Dann werde ich fleißig zu Gott beten, daß er Euch in diesen Dingen weise führt.« De Chauliac wußte, daß Clemens Edwards Bitte mit seinem beträchtlichen politischen Geschick behandeln und eine gute Wahl für das Bistum Canterbury treffen würde. Die unmittelbarere Sorge des Arztes bezog sich auf Edwards zweite Bitte um einen Arzt, der seine Kinder beschützen konnte, wie de Chauliac Clemens beschützt hatte.

Er wußte, daß seine medizinischen Fähigkeiten nicht mit der diplomatischen Finesse zu vergleichen waren, die sein gerissener Herr besaß, obwohl er seine Unwissenheit niemals eingestanden hätte. Trotz seiner umfassenden Bildung und seiner offiziellen Stellung als Leibarzt des Papstes war de Chauliac sicher, daß er über die Ursache der schrecklichen Seuche nicht mehr wußte als ein gewöhnliches Marktweib. Alles, was er tun konnte, war das, was er bereits getan hatte: Er hatte den gesunden Patienten isoliert in der Hoffnung, ihn von der Ursache der Krankheit, was immer sie sein mochte, fernzuhalten; und er gedachte das fortzusetzen, weil er hoffte, daß es wirken würde. Er hatte keinen direkten Beweis dafür, daß seine Verordnungen irgend etwas bewirkten, aber Clemens schien von seinen Anstrengungen beeindruckt, also setzte er sie fort.

Er wußte, es würde keine leichte Aufgabe sein, einen Beschützer für Edwards Kinder auszuwählen. Man mußte nicht nur medizinische Fragen bedenken, sondern auch diplomatische. Der schlaue und zynische König Edward III. der sich trotz der Schwächen, die er möglicherweise von seinem erbärmlichen Vater geerbt hatte, als sehr fähiger Regent erwiesen hatte, mißtraute den Franzosen und würde einen französischen Arzt nicht akzeptieren. Die meisten Ärzte von Avignon waren bereits gestorben, und viele derer, die noch lebten, waren Juden und daher noch ungeeigneter als ein Franzose, sich um die englische Königsfamilie zu kümmern. Bei sich dachte de Chauliac, daß Clemens den Juden von Avignon gegenüber zu nachsichtig war, vor allem jetzt, da so viele Anhänger der Kirche ihnen die Schuld an der Seuche gaben. Wenn man diese Überzeugung schürte, lenkte das die Aufmerksamkeit des Volkes vom Versagen der Geistlichkeit und des Ärztestandes beim Umgang mit der Pestilenz ab.

Er würde sich einfach alle Ärzte ansehen und dann so sorgfältig wie möglich seine Wahl treffen müssen. Aber auch nicht zu sorgfältig, denn der Einfluß des Arztes durfte nicht zu stark werden. »Euer Heiligkeit«, sagte er und unterbrach damit das Fächeln seines Patienten, »es wäre klug, ein päpstliches Edikt zu erlassen, das alle Ärzte in Avignon auffordert, vor Euch zu erscheinen. Dann kann ich eine angemessene Wahl treffen. Wir müssen sicher sein, daß wir einen Mann schicken, der der königlichen Familie genehm ist, vor allem der Prinzessin. Wir werden viele Männer ausbilden und so eine ansehnliche Zahl von Kandidaten haben, unter denen wir die endgültige Wahl treffen können. Und wenn sie schon einmal alle versammelt sind, wäre es vielleicht klug, Emissäre an sämtliche europäische Höfe zu schicken. Warum sollten wir unseren Einfluß auf England beschränken?«

Die Augen des Papstes weiteten sich. »De Chau- liac, das ist ein glänzender Einfall! Gewiß würde niemand zu protestieren wagen. Sucht alle verfügbaren Ärzte zusammen und bringt sie am nächsten Montag um zwölf Uhr hierher. Ihr werdet ihre Ausbildung persönlich überwachen.«

»Und wer soll sich um die Bedürfnisse Euerer Heiligkeit kümmern, während ich damit beschäftigt bin?«

Der Papst lächelte. »Ihr seid allzu schlau, de Chauliac. Ich sehe, daß ich Euch nicht entkommen kann. Keine Angst, ich werde Euren Anweisungen folgen. Aber jetzt werde ich Edward antworten, die gute Nachricht wird ihm willkommen sein.«

Clemens ging zu seinem Schreibpult und nahm eine Pergamentrolle heraus. Seit dem Beginn seiner Isolierung hatte Chauliac ihm nicht erlaubt, die Dienste seines Schreibers in Anspruch zu nehmen, und er hatte seine gesamte Korrespondenz selbst schreiben müssen.

Das wird meinen Geist für eine Weile beschäftigen, dachte er, froh, etwas zu tun zu haben. Er tauchte seine Feder in encre noir und begann zu schreiben.

 

Geliebter Bruder in Christo,

 

wir sind tief betrübt über die Nachricht vom Hinscheiden Johanns, des Erzbischofs von Canterbury, und danken Eurer Majestät, uns so rasch davon Mitteilung gemacht zu haben, damit wir schneller handeln und diesen Verlust lindern können. Und wir werden für Eure verstorbene Tochter Joanna beten. Zweifellos ist Eure Trauer über ihren Tod grenzenlos; ein solcher Schmerz läßt sich mit Worten allein nicht beschreiben. Und dennoch, tapferer Edward, seid Ihr ein eifriger Diener der Heiligen Kirche! Selbst in Eurer Trauer denkt Ihr an den Schutz des christlichen Einflusses in England. Diese edle Gesinnung wird der Allmächtige Gott gewiß belohnen, wenn Ihr dereinst zur ewigen Ruhe gebettet werdet, was hoffentlich noch viele Jahre in der Zukunft liegt. Wir sind dankbar für Eure Stärke in diesen schweren Zeiten.

Mit Interesse haben wir vernommen, daß Ihr daran denkt, Isabella mit dem jungen Herzog von Brabant zu vermählen. Wir gestehen, daß uns die nahe Verwandtschaft des Paares gewisse Sorgen macht, und empfehlen Euch die Geduld, den Vollzug der Heirat noch etwas aufzuschieben. Unsere Gebete in dieser Angelegenheit richten sich direkt an den Himmel, und mit Gottes Willen werden wir in dieser Sache bald Seine Anleitung erhalten.

Ratet Isabella, geduldig zu sein, lieber Bruder. Sie muß ihre volle Blüte erst noch erreichen und wird bald gut und glücklich vermählt sein. Unsere Gesandten berichten uns, daß sie eine stolze Schönheit von großer Klugheit und beträchtlichem Charme ist. Sie darf an ihrem unverehelichten Zustand nicht verzweifeln.

Unser Arzt de Chauliac nimmt Euer Lob seiner großen medizinischen Leistungen dankbar an. Wie Ihr verlangt habt, werden wir Euch einen von de Chauliac persönlich ausgebildeten Arzt schicken in der Hoffnung, daß Eure geliebten Kinder so vor der schrecklichen Geißel der Pest geschützt sein mögen. Ihr müßt dafür sorgen, daß seine Anweisungen strikt befolgt werden; gestattet nicht, daß der Stolz der Prinzessin sie in die Irre führt. Sie muß alle seine Ratschläge eifrig befolgen und täglich für den Erhalt ihrer Gesundheit beten.

Edler König, wir hier leiden unendlich; es ist unmöglich, Euch die wirkliche Verfassung des schönen Avignon zu schildern. Jeden Tag sterben Hunderte und werden eilends begraben; wenn nicht gleich ein Grab ausgehoben werden kann, werden die Leichen in den Fluß geworfen, um dort auf ihre ewige Ruhe zu warten. Es ist, als wolle Gott unsere ganze Rasse auslöschen; wir fragen uns, welche Sünde den Zorn des Allmächtigen auf uns herabbeschworen hat. Achtet gut auf Eure Gesundheit und folgt dem Rat unseres Gesandten. Wir flehen Euch an, Euch und Eure edle Familie zu schützen, und beten täglich, damit Christus und Seine gesegnete Mutter unablässig über Euch wachen.

Reitende Boten werden Euch dieses Schreiben überbringen, damit Ihr schnell von Eurer Besorgnis über diese schwerwiegenden Angelegenheiten befreit werdet. Unsere weiteren Abgesandten werden sich auf den Weg machen, sobald alle entsprechenden Vorkehrungen getroffen sind. In diesen schrecklichen Zeiten müssen wir alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, damit sie Euch heil erreichen.

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes übersenden wir Euch unsere besten Wünsche für Euer weiteres Wohlergehen und für das Gedeihen Eures Königreiches.

 

Clemens VI.

Erzbischof von Avignon

 

Clemens reichte den Brief de Chauliac, der ihn sorgfältig las. Als er fertig war, grinste er und sagte: »Edward wird denken, daß wir ihm einen Spion in seinen eigenen Haushalt schicken. Inzwischen fragt er sich sicher, ob sein Ersuchen an Euch weise war. Es spielt also keine große Rolle, wen wir schicken; der Mann wird wenig Unterstützung vom König erhalten, obwohl er selbst um seine Anwesenheit gebeten hat.«

»Aber dennoch«, sagte Clemens, »ist es amüsant zu wissen, daß wir solche Verwirrung im königlichen Haushalt erzeugen können. Wir werden ihm also einen Arzt schicken. Wir werden den enthusiastischsten und hingebungsvollsten Arzt schicken, den wir finden können. Und dann werden wir uns in dem Wissen sonnen, daß wir noch immer ein Dorn im Fleische unseres lieben englischen Bruders sind.«

Alejandro erwachte und spürte sofort wieder den bohrenden Schmerz der Trauer in dem kleinen, stillen Haus, das ihm leer und verlassen vorkam, nachdem die Witwe fortgegangen und Hernandez gestorben war. Niemals hatte er sich so allein gefühlt. Die einzigen Menschen, die er in Avignon kannte, waren der bigotte Apotheker und die grämliche Witwe Selig. Er war verloren in seinem Kummer; es gab niemanden, der ihn über den Verlust des rauhen Mannes hinwegtröstete, den er wie einen Bruder in sein Herz geschlossen hatte.

Voller Unbehagen durchwühlte er alle Schränke auf der Suche nach etwas, irgend etwas, das sich heimelig anfühlte, doch es gab nichts außer den allgegenwärtigen Exkrementen der Mäuse und Ratten, die fast jedes Haus heimsuchten, selbst das bescheidenste. Der vertraute Anblick tröstete ihn nicht, sondern stieß ihn nur ab. Still saß er an dem kahlen Tisch im Eßzimmer und verzehrte einen Kanten Brot und etwas Käse, die er in der Speisekammer gefunden hatte. Als er nichts mehr essen mochte, holte er seine Geräte aus Hernandez’ Schlafzimmer und wusch sie in dem Eimer in der Küche. Ich werde den Leichnam für den Karren nach unten bringen müssen, dachte er unglücklich und stellte sich vor, wie die Gliedmaßen seines Freundes, bleichen Stöcken gleich, aus den seitlichen Planken des Karrens herausschauten. Aber im Augenblick bin ich dazu nicht imstande. Er wickelte seine Gerätschaften in eines von Hernandez’ alten Hemden und machte sich auf den Weg zu seiner neuen chirurgischen Praxis, wo er vielleicht etwas Ablenkung finden würde.

Die Menschen in den engen Gassen drückten sich an ihm vorbei; als er sich seiner Praxis näherte, sah er eine Art Anschlagzettel an einem Nagel an der Tür hängen. Er nahm ihn herunter und sah sich das Siegel genauer an, um die lateinische Inschrift zu entziffern, die in das grobe, runde Wachsstück eingeprägt war.

Sie lautete: Seine Heiligkeit Clemens VI. Bischof von Avignon.