14

 

Sobald der Wachmann gegangen war, eilte Janie zu den Gittern ihrer Zelle und umklammerte mit weißen Knöcheln die Stäbe. »Was geht hier vor?« flüsterte sie Bruce in drängendem Ton zu. Sie sah mehr Furcht in seinem Ausdruck, als sie sehen wollte.

»Versuchen Sie einfach, ruhig zu bleiben«, antwortete er rasch. »Das ist irgendein Mißverständnis. Ich bin sicher, daß es ganz schnell aufgeklärt wird.«

»Aber warum sperrt man uns auf diese Weise ein? Ich habe doch nur einen Ohrring fallen lassen, mein Gott! Es war ja nicht, als hätte ich eine Terroristenbombe gehabt oder so ...«

Bruce unterbrach sie mitten im Satz. Der ängstliche Ausdruck auf seinem Gesicht wurde intensiver. »Ich glaube, wir sollten jetzt nicht reden«, sagte er. Er schaute sich im Raum um, als suche er nach einer Art Abhörvorrichtung.

Idiotin, schimpfte Janie sich im stillen. Natürlich können sie jedes Wort hören, das wir sprechen. Sie nickte, sie habe verstanden, und sagte nichts mehr.

Gleich darauf sah sie, daß der Biocop, der als erster die Waffe auf sie gerichtet hatte, die Tür zum Zellenraum öffnete und mit autoritärem Gehabe hereinkam. Er schob seine magnetische Identitätskarte in den Schlitz an der Wand, wie er es getan hatte, als er ihre Zellen versperrte, und drückte dann auf einen Knopf, diesmal auf einen anderen. Man hörte wieder ein Klicken, leiser als beim Schließen der Türen, und die Abdeckplatte einer kleinen Durchreiche, die in die Gitterstäbe von Janies Zelle eingelassen war, öffnete sich mit einem leisen Surren. Der Wachmann schob einen flachen Plastikbehälter durch die Öffnung, der irgendein gefaltetes Kleidungsstück zu enthalten schien. Nachdem sie es ein paar Augenblicke mißtrauisch gemustert hatte, streckte Janie zögernd die Hand aus und nahm den sackähnlichen Behälter aus der offenen Durchreiche. Sie drehte ihn ein paarmal in den Händen, untersuchte ihn und blickte dann zu dem Wachmann auf. Bruce sah aus seiner Zelle schweigend zu.

»Was ist das?« fragte sie.

»Ein steriler Anzug«, antwortete der Wachmann. »Sie müssen alle Ihre eigenen Kleider ausziehen und ihn anziehen«, befahl er.

Alarmiert schaute sie zu Bruce hinüber, und dieser sagte zu dem Wachmann: »Könnten Sie bitte erklären, was hier vorgeht?« Sein Ton war entschieden und verriet deutliches Mißfallen, aber Ja- nie war überrascht, wie wenig verärgert er klang. Er hält sich mit Absicht zurück, dachte sie und entschied, daß es klug wäre, seinem Beispiel zu folgen. Was weiß er über das hier, was ihm solche Sorgen macht? fragte sie sich beunruhigt.

»Die Dame hat versucht, diese Einrichtung zu betreten, die ein gesichertes Depot ist, wie Sie wissen, Dr. Ransom.« Er wandte sich an Janie; durch die dicke Plastikmaske konnte sie kaum seine Gesichtszüge sehen. »Sie sind nicht zutrittsberechtigt, Madam.«

Sie vergaß, daß sie sich hatte zurückhalten wollen. »Ich habe nicht versucht, Ihre Einrichtung zu betreten«, sagte sie wütend. »Ich habe einen Ohrring verloren und wieder aufgehoben.«

Der Wachmann war aufreizend höflich zu ihr. »Trotzdem hat Ihr Arm die Lichtschranke durchbrochen, und Ihre Anwesenheit ist registriert worden. Das Gerät betrachtet das stets als Betreten, wie unvollständig auch immer.«

Es betrachtet . dachte sie. Es schien ein Eigenleben entwickelt zu haben, und Es hatte eindeutig erheblich mehr Autorität als der Wachmann, der Es bediente. »Ach, um Gottes willen«, sagte Janie verzweifelt, »sehe ich vielleicht wie eine Terroristin aus?«

»Dazu darf ich sagen, daß es kein einheitliches Aussehen von Terroristen gibt, Madam, und auf jeden Fall wäre ich nicht zu der Feststellung berechtigt, wodurch es sich auszeichnet. Das fällt unter die Zuständigkeit eines ganz anderen Ministeriums.« Er wies mit der behandschuhten Hand auf den Plastikbehälter, den sie hielt. »Wenn Sie jetzt so freundlich sein wollen, Ihre Kleider auszuziehen und den Anzug anzuziehen, bitte; Sie können Ihre Sachen dann in den leeren Behälter legen. Sie bekommen Sie später zurück.«

Aber Janie stand einfach da und sah eindeutig nicht so aus, als wolle sie sich fügen.

Der Wachmann war noch immer höflich, doch sein Tonfall wurde jetzt ernster. Entschieden sagte er: »Es tut mir leid, Madam, aber Sie haben keine Wahl. Bitte tun Sie, was ich gesagt habe.«

»Nein«, sagte sie leise und ging rückwärts durch die Zelle, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß.

Der Wachmann wurde von Minute zu Minute ungehaltener. Bruce schaute aus seiner Zelle aufmerksam zu, sagte aber nichts, bis er sicher war, daß Janie nicht mit ihren Wärtern kooperieren würde. »Janie«, sagte er schließlich, »es wäre gut, wenn Sie tun würden, was er verlangt. Wir könnten sonst einige Probleme bekommen.«

Der Wachmann sah Bruce an und nickte. »Das stimmt«, sagte er. »Es ist am besten, keine Schwierigkeiten zu machen. Wir machen nur einen kleinen Spaziergang zu .«

Sie ließ ihn den Satz nicht beenden. »Sie können mich mal«, sagte sie leise.

»Wie bitte?« sagte der Wachmann überrascht.

»Ich sagte: Sie können mich mal! Ich werde nirgends hingehen, bis Sie mir sagen, was hier vorgeht. Ich habe nichts getan, was eine solche Behandlung rechtfertigen würde, und ich verlange. «

Bruce, der merkte, daß Janie zu weit gehen würde, unterbrach sie und sagte: »Janie! Bitte! Beruhigen Sie sich!« Als er ihre Aufmerksamkeit hatte, fuhr er fort: »Sie werden Sie bloß printen. Jeder, der festgehalten wird, wird geprintet, wenn er es nicht schon ist. Sie werden Ihnen keinen Schaden zufügen.«

Sie wußte zwar, daß der Vorgang weder schmerzhaft noch gefährlich war, doch niemand, nicht einmal seine glühendsten Verfechter, hätte geleugnet, daß das Bodyprinting das äußerste Eindringen in die menschliche Privatsphäre war. Sie drückte sich noch fester gegen die Wand, als könne sie sie schmelzen und wieder in selige Freiheit gelangen. In der Hoffnung, aufsässiger zu klingen, als sie sich fühlte, sagte sie: »Das lasse ich nicht mit mir machen.«

Ruhig zog der Wachmann seine Waffe aus dem Halfter und richtete sie auf Janie. »Wie Sie wollen«, sagte er, »aber ich fordere Sie auf, diese Haltung noch einmal zu überdenken. Ich muß Ihnen mitteilen, daß eine Weigerung einen Verstoß gegen Abschnitt 236 des Internationalen Biosicherheitsvertrages ist. Die britische Regierung hat das Recht, Personen, die gegen diesen Vertrag verstoßen, wegen der verschiedensten Verbrechen vor Gericht zu stellen, und auf einige davon steht die Todesstrafe. Damit sind wir hier nicht mehr so zimperlich wie früher.«

Verzweifelt sagte sie: »Ich verlange, daß Sie den Botschafter der Vereinigten Staaten benachrichtigen.« Der Wachmann antwortete: »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß bei Verstößen gegen das Abkommen eine diplomatische Vermittlung nicht möglich ist.«

Janie sah wieder Bruce an; er wirkte fast panisch. »Janie ...«, sagte er, »bitte tun Sie, was er verlangt.«

Der Wachmann sagte: »Natürlich hängt all das davon ab, wie ich über den Vorfall berichte. Wenn Sie Ihre Meinung ändern und kooperieren würden, könnten die Dinge für Sie etwas günstiger verlaufen.«

Sie schaute zwischen dem Wachmann und Bruce hin und her. Beide warteten darauf, daß sie etwas sagte, beide hofften aus verschiedenen Gründen, daß sie ihren Widerstand aufgab. Sie schluckte schwer, schaute zu Boden und schwieg.

Frustriert sagte der Wachmann: »Also gut.« Sein Ton wurde unheilschwanger. »Aus unserem bisherigen Gespräch schließe ich, daß Sie alle Formalitäten unseres Rechtssystems überspringen und direkt zur Exekution schreiten möchten.« Er ließ den Abzug seiner Waffe klicken. »Aber haben Sie keine Angst. Dies ist eine chemische Kugel, und Sie werden nichts spüren. Ihr Gehirn hört zu funktionieren auf, bevor Ihr Kopf den Boden berührt.«

Wieder schaute Janie zwischen der Maske des Biocops und Bruces bittender Miene hin und her. »Bitte, Janie ... seien Sie nicht töricht ... es geht nur um ein Printing.«

Endlich sah Janie ein, daß sie diesen Kampf nicht gewinnen würde und gab widerstrebend auf. Sie sah den Wachmann an und fragte: »Könnten Sie sich wenigstens umdrehen, während ich die Kleider wechsle?«

»Es tut mir leid, Madam, aber ich muß zusehen. Ich muß Sie ununterbrochen im Blick haben.«

»Ich tue es, Janie«, sagte Bruce und wandte sich ab. »Ich drehe mich um. Machen Sie nur keine Dummheiten. Es wird schon gut werden. Alles wird gut werden.«

Für eine Weile, die ihr sehr lang vorkam, hing Caroline in dem unsicheren Raum zwischen Schlafen und Wachen. Ihre Brust schmerzte, und sie fühlte sich, als sei im Schlaf ein schweres Gewicht auf sie niedergegangen. Ihr war schrecklich kalt, obwohl das Gewicht ihr verriet, daß sie noch immer zugedeckt war. O Gott, ich bin so krank, daß diese Decke sich anfühlt wie eine Ladung Ziegelsteine ...

Sie konnte die Augen nicht öffnen. Selbst wenn sie dafür genug Energie aufgebracht hätte, sie schienen mit einer Kruste verklebt, als hätte sie im Schlaf geweint. Immer wieder kamen ihr Bruchstücke ihres Traums in den Sinn, während sie allmählich aus dem Medikamentenrausch erwachte. Sie versuchte erneut, die Arme zu bewegen. Sie waren wie festgenagelt, sie konnte sie nicht rühren. Benommen versuchte sie nachzudenken und kam zu dem Schluß, daß etwas ihre Arme festhielt. Wenn ich nur die Augen aufmachen und nachsehen könnte . Doch allein die Vorstellung, ihre Gesichtsmuskeln zu bewegen, wie wenig auch immer, war schon zuviel. Halb bewußtlos lag sie da und wartete auf mehr Klarheit.

Ihr war kalt, aber sie war zugedeckt. Ihr Mund war trocken, aber ihre Haut war klamm und feucht. Sie war beinahe wach, aber sie konnte sich nicht rühren. Wieder bemühte sie sich und schaffte es endlich, die Augenlider zu heben.

Das erste, was sie sah, war, daß etwas über ihrer Brust lag; der schwere Gegenstand war in irgendeinen dunklen Baumwollstoff gehüllt . Dann sah sie ein Büschel ergrauender Haare und den Teil eines Arms .

Jemand liegt auf mir.

Mit aller Kraft stemmte sie sich hoch und versuchte, den Mann abzuwerfen, doch es gelang ihr nicht, obwohl er sich nicht wehrte. Doch nach einer weiteren großen Anstrengung begann er in Richtung Fußboden abzurutschen .

Heilige Mutter Gottes, auf mir hat ein Toter gelegen .

Endlich rollte der Leichnam ganz von ihr herunter und plumpste laut auf den Boden. Sie rang nach Atem, faßte sich an die Kehle und versuchte zu schreien, doch sie konnte es nicht. Sie schaute auf den Fußboden neben dem Bett und sah, daß die toten Augen von Ted Cummings sie anstarrten; sein Gesicht war eine verzerrte Schreckensgrimasse.

Zu schnell sprang sie auf; ihr Kopf fühlte sich an, als würde er platzen. Ekel stieg in ihr auf, und sie stolperte ins Badezimmer, wo sie über eine Minute trocken würgte, ehe sie sich wieder in der Gewalt hatte. Sie sah ihre Jeans und ihr Flanellhemd liegen, wo sie sie zurückgelassen hatte, und zog sich rasch an; ihr schweißnasses Nachthemd ließ sie auf dem Boden des Badezimmers liegen.

Sie mußte Hilfe suchen; ihr erster Gedanke war Janie, aber sie hatte keine Ahnung, ob Janie schon von ihrer Fahrt nach Leeds zurückgekommen war. Taumelnd lief sie aus dem Badezimmer und blickte noch einmal auf Teds Leiche.

Sie hatte keine Ahnung, wie oder warum er gestorben war, und wußte auch nicht, ob sie irgendwie mit seinem Tod zu tun hatte. Ein rascher Blick auf die Leiche gab ihr keinen Hinweis auf die Todesursache; Ted wies keine sichtbaren Male auf und blutete auch nicht; er wirkte zwar bleich und aufgeschwemmt, doch damit war sein Sterben nicht erklärt. Sie war bewußtlos gewesen, wahrscheinlich sehr lange; wer weiß, was sie vielleicht im Schlaf getan hatte? Sie befand sich in einem fremden Land, in dem sie buchstäblich keine Rechte hatte, die sie schützten, einem Land, in dem man Situationen wie die, in der sie war, fast immer sofort ahndete. Ganz plötzlich wurde ihr der Ernst ihrer Lage klar, und sie geriet in Panik; sie hatte keine anderen Gedanken, als das Hotelzimmer zu verlassen und sich von dem schrecklichen Ding zu entfernen, das auf ihrem Fußboden lag. Sie rannte zur Tür hinaus und hörte sie hinter sich zufallen, während sie zu Janies naher Tür lief. Sie klopfte, so laut sie das in ihrem schwachen Zustand vermochte; niemand reagierte, also versuchte sie es noch einmal. Diesmal brachte sie trotz aller Schwäche ein lauteres Geräusch zustande, doch wieder antwortete niemand.

Sie wandte sich wieder ihrer eigenen Suite zu, doch dann fiel ihr ein, daß sie keinen Schlüssel hatte. In der Hoffnung, daß die Tür nicht verschlossen war, drehte sie den Knopf, aber die Tür öffnete sich nicht. Sie rüttelte daran, aber ohne Erfolg. Janie, wo sind Sie? schrie sie innerlich. Sie drehte sich um, lehnte sich gegen die Tür und begann vor Frustration zu weinen.

Plötzlich fiel ihr Blick auf den Spiegel, der an der Wand gegenüber ihrer Tür hing. Erschrocken über ihr Spiegelbild wich sie zurück.

Ihr Haar war eine verfilzte Masse. Ihr Gesicht bestand aus gelben Schwellungen, der Hals darunter war mit dunklen, blauschwarzen Flecken bedeckt.

Während sie noch ihr schreckliches Spiegelbild betrachtete, läutete die Glocke des Aufzugs und verkündete, daß er gleich den sechsten Stock erreichen würde. Sie wußte, daß sie sich in diesem Zustand nicht sehen lassen durfte. Sie rannte dem Schild AUSGANG am Ende des Flurs zu und kämpfte mit der Tür, zerrte hektisch daran; sie schien eine Tonne zu wiegen. Gerade als sie krachend durch die Tür zur Feuertreppe stürmte, öffnete sich die Aufzugtür; Caroline zog die Treppentür hinter sich zu und taumelte die Treppe hinunter.

Langsam ging Janie den gleichen langen Korridor hinunter, durch den sie vorher zu den Zellen gelangt waren. Unter dem großen Plastikanzug, der ihren Körper einhüllte wie ein riesiges Kondom, war sie nackt, und das kalte Plastikmaterial scheuerte auf der Haut und ließ sie bei jedem Schritt erschauern. Sie trug Papierslipper, von denen sie wußte, daß sie später entsorgt werden würden; die gleiche Art hatte sie immer getragen, wenn sie in den Operationssaal ging, vor einer Million Jahren, als sie ein glückliches Leben als Chirurgin führte. Sie stellte sich vor, wie sie mit der Hüfte die Schwingtür aufstieß, wie dahinter Schwestern mit Gummihandschuhen ihre frisch geschrubbten Hände erwarteten, wie die Lautsprecheranlage Mozart spielte und eine Heilung unmittelbar bevorstand ...

Statt dessen glitten zwei schwere Metalltüren automatisch auseinander, verschwanden mit einem zischenden Geräusch in den Wänden und schlossen sich wieder, nachdem sie und ihr Gefolge hindurchgegangen waren. Zwei Biocops folgten ihr mit gezogenen Waffen, bereit, sie aus diesem Leben zu reißen, so unglücklich es auch sein mochte, falls sie sich falsch benahm. Daß sie sich in wenigen Augenblicken einem erzwungenen Bodyprinting würde unterziehen müssen, war eine entsetzliche Vorstellung; in den Vereinigten Staaten wurde das wegen der Gesetze zum Schutz der Intimsphäre selten gemacht, obwohl der Kongreß diese Gesetze nach jedem neuen Ausbruch immer weiter auslegte. Trotzdem hatten nur sehr wenige Menschen die unwürdige Prozedur über sich ergehen lassen müssen, und sie wünschte von ganzem Herzen, sie hätte die Zeit zurückdrehen und ihr entkommen können.

Einer der Biocops sagte: »Hier nach links abbiegen.« Sie gehorchte, obwohl ihr überhaupt nicht danach zumute war. Sie hätte nichts lieber getan, als sich umzudrehen und wegzulaufen, zu irgendeiner üppigen idyllischen Wiese, wo Vögel zwitscherten und Pollenflug sie niesen machte. Die gefilterte, sterile Luft in dieser Einrichtung hatte nichts von der duftenden Erdhaftigkeit, die sie gern einatmete; sie war trocken und irritierend rein, sie hatte kein Leben in sich. Nach der Biegung befand sie sich in einem weiteren langen Korridor und ging an zahlreichen Türen vorbei auf eine Doppeltür an dessen Ende zu. Hier muß es sein, dachte sie. Einer ihrer Bewacher tippte einen Code in eine Zahlentastatur an der Wand, und langsam schwangen die Türen auf. »Bitte, treten Sie ein und tun Sie nichts, bis die Türen wieder ganz geschlossen sind. Wir geben Ihnen über die Sprechanlage weitere Anweisungen.«

Das Surren und Klicken der Türen, die sich schlossen, signalisierte, daß keine Flucht möglich war. Janie stand in dem kleinen Raum und starrte auf das niedrige Podest in seiner Mitte. Da wird es passieren, dachte sie und begann zu zittern.

Alle Wände des Raums waren mit Spiegeln bedeckt; Janie zweifelte nicht daran, daß sie von der anderen Seite durchsichtig waren und den Biocops ermöglichten, die Vorgänge zu beobachten, ohne daß sie selbst sie sehen konnte. Welcher Spiegel wird es sein? dachte sie. Oder sind es alle vier? Lassen sie alles stehen und liegen, was sie gerade machen, und kommen, um zuzuschauen?

Aus einem kleinen Lautsprecher an der Decke ertönte eine Stimme. »Bitte nennen Sie Ihren Namen.«

Einen Moment lang fragte sich Janie, wieso sie ihren Namen nicht kannten. Dann fiel ihr ein, daß sie seit der Ankunft in der Einrichtung nicht danach gefragt worden war. Bruce hatte alle Verhandlungen geführt. Vielleicht galt sie nur als Bruces Reisebegleiterin. Ihre eigenen Papiere hatte sie in Bruces Auto zurückgelassen. Spöttisch dachte sie: Diese Einsteins haben nicht mal nach meinen Papieren gefragt! Was immer du willst, Adolf, aber ich werde mich mit dir und deinem Sturmtrupp ein bißchen amüsieren ...

Sie räusperte sich und sagte mit lauter, klarer Stimme: »Merman. Ethel Merman.«

Nach einem kurzen Schweigen meldete die Stimme sich erneut. »Dr. Ransom nannte Sie >Ja- nie<.«

Ha! Sie wissen es wirklich nicht! »Janie ist mein zweiter Vorname. Als Kind habe ich den Vornamen Ethel gehaßt, also nannten mich alle Janie.«

»In Ordnung, Miss Merman. Wir haben noch ein paar Fragen an Sie, bevor wir weitermachen.«

Darauf hätte ich gewettet, dachte sie.

»Geburtsdatum.«

Laß dir was einfallen, Janie. »22. November 1963.«

»Geburtsort?«

»Dallas. Texas. USA.«

Die Wachen hinter dem Spiegel wechselten Blicke. Der Leiter schaltete den Lautsprecher aus und sagte: »Als wollte sie uns eins auswischen. Sie denkt, sie müßte uns erzählen, daß sie Amerikanerin ist.«

Er schaltete den Lautsprecher wieder ein. »Sehr gut, Miss Merman. Soviel ich weiß, ist Dallas eine schöne Stadt. Wenn Sie uns jetzt bitte Ihren ständigen Wohnsitz in den USA nennen könnten.«

»Yawkey Way, Boston, Massachusetts.«

»Könnten Sie das bitte buchstabieren?«

»Yawkey. Y-A-W-K-E-Y ... Way. W-A-Y.«

»Vielen Dank«, unterbrach er sie. »Postleitzahl?«

Hoppla! dachte sie. Sie erfand eine neunstellige Zahl. Sie werden es nie erfahren.

»Familienstand?«

Schmerzliche Erinnerungen durchfluteten sie. Das waren die Fragen, die sie immer verabscheute. »Verwitwet.«

»Danke, Miss Merman. Jetzt brauchen wir eine kurze medizinische Anamnese.«

Janie empfand einen Moment leichte Besorgnis. Wenn es vorbei war, würden sie alles über ihre medizinische Vorgeschichte wissen. Wieso fragen sie jetzt?

Vielleicht stellen sie mich nur auf die Probe. Sie wollen, daß ich weiß, daß sie alles, was ich sage, mit dem vergleichen werden, was sie finden. »Anzahl der Lebendgeburten.«

»Eine.«

»Anzahl der lebenden Nachkommen?«

Oh, Gott, bitte laß diese Fragen aufhören. »Keine.«

»Reproduktionsstatus?«

»Sterilisiert.«

Nach dieser Antwort herrschte Schweigen im Kontrollraum, während die Wachen untereinander Janies Antworten besprachen.

Einer sagte: »Sie scheint sich beruhigt zu haben. Was meint Ihr, was wir mit ihr machen sollen?«

Sie wußten, daß sie sich in einer schwierigen La- ge befanden; ihre Entscheidung, wie sie verfahren würden, konnte weitreichende Folgen haben. Ihre Gefangene war keine britische Staatsbürgerin, sondern behauptete, Amerikanerin zu sein, wofür auch ihr akzentuiertes Englisch und ihre Frechheit sprachen; sie trug keine Papiere bei sich, aber sie hatte auch keine Waffen oder andere verdächtige Gegenstände bei sich gehabt.

»Vielleicht sollten wir oben anrufen und uns Rat holen.«

Die anderen Wachmänner brummten bei diesem Vorschlag. Einer sagte: »Guter Gott, nein. Er wird nur alles durcheinanderbringen. Und wenn nichts dabei rauskommt, sind wir verantwortlich.«

Sie sprachen über die Schwierigkeiten, die sie mit ihrem Vorgesetzten gehabt hatten, einem politischen Beamten mit den richtigen Vorfahren und geringer Entscheidungsfähigkeit, der einmal zu unbegründeten Schlußfolgerungen gelangt war und einen unschuldigen amerikanischen Staatsbürger wegen eines geringen Verstoßes gegen die Biosicherheitsvorschriften verhaftet hatte. Seine Stümperei hatte fast zu einem internationalen Zwischenfall geführt, und einer ihrer damaligen Kollegen war darüber gestürzt und hatte seinen Job und seine Pension verloren. Keiner der Wachleute, die sich um Janie kümmerten, wollte die Situation so weit eskalieren lassen. Sie wußten, sie waren verpflichtet, die Prozedur durchzuführen, doch sie wollten die Angelegenheit möglichst klein halten, bis sie zu weiteren Untersuchungen bevollmächtigt waren.

Einer von ihnen sagte: »Ich denke, sie sagt die Wahrheit. Seht euch hier mal ihre Zahlen an.« Er wies auf die diagnostischen Werte der Zeitspanne, in der Janie die Fragen über ihre Mutterschaft beantwortet hatte. Sie verglichen ihre Körperreaktionen mit den Fragen, die sie stellten, und verglichen die biologischen Indikatoren mit den zu erwartenden Werten für die Art ihrer Reaktion wie ein altmodischer Lügendetektor. »Sieht so aus, als hätte sie bei den Ausbrüchen ein Kind verloren. Die Frage muß sie aufbringen. Dieser Anstieg der Linie besagt, daß sie aufgebracht war. Ich denke, wir sollten weitermachen. Ich glaube nicht, daß wir es hier mit einer Terroristin zu tun haben.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte der andere. »Vielleicht hat sie wirklich bloß einen Ohrring verloren.« Er drückte ein paar Tasten auf seiner Computertastatur und schaute auf den Bildschirm. »Merman«, sagte er. »Keine Vorgeschichte irgendwelcher krimineller Aktivitäten; keine Verbindung zu irgendeiner bekannten Gruppe, zumindest nicht in Europa. Ich wünschte, wir könnten diese Information aus den U.S.A. bekommen; ich verstehe nicht, warum sie uns keinen Einblick geben.«

»Sie wollen, daß wir erst nett darum bitten.

Aber wenigstens lassen sie uns die biologischen Werte sehen. Und sie stimmte mit nichts überein, was in unseren Dateien steht, als sie die Lichtschranke durchbrach. Wenn sie drüben verhaftet oder auch nur vernommen worden wäre, hätten wir irgendeinen Hinweis darauf, und sei er noch so klein. Da ist aber nichts. Also laßt sie uns einfach printen und Schluß.« Alle waren einverstanden und nickten.

Der Mann schaltete den Lautsprecher wieder ein.

»Gut, Miss Merman, das waren alle Fragen. Gleich kommt die Wärterin und schließt Sie an.«

Caroline lag verwirrt und erschrocken auf der Treppe zwischen dem fünften und sechsten Stock des Hotels und versuchte sich verzweifelt zu erinnern, wie sie in diese Lage gekommen war. Sie war die Treppe heruntergefallen und für ein paar Augenblicke bewußtlos gewesen, und nun kam sie langsam wieder zu sich. Sie wußte, daß sie sich in einem Treppenhaus befand, aber sie wußte nicht, warum; ihr fiel nur ein, daß es gut wäre, so schnell wie möglich da herauszukommen. Da es weniger anstrengend war, abwärts zu gehen als aufwärts, bewegte sie sich halb kriechend und halb rutschend die kalten Betonstufen hinunter.

Als sie endlich den Fuß der Treppen erreicht hatte, sah sie eine Tür mit einem roten AUSGANG-Schild darüber und beschloß, durch diese Tür hinauszugehen. Sie hatte keine Ahnung, was sich dahinter befand, aber schlimmer als eine dunkle Betontreppe konnte es nicht sein. Sie stand auf, lehnte sich schwankend gegen die Stahltür und drückte die Klinke herunter. Kaum war es ihr gelungen, die Tür zu öffnen, ertönte direkt über ihrem Kopf ein lauter Alarm und versetzte sie in Panik. Der Lärm drohte ihr den Kopf platzen zu lassen; sie preßte die Hände auf die Ohren, stürzte aus der Tür und fand sich in einem kleinen, grasbewachsenen Hof zwischen ihrem Hotel und dem nächsten Gebäude wieder. Sie wollte nur möglichst schnell ungesehen verschwinden, und so lief sie nicht auf die gut erleuchtete Straße, sondern in die entgegengesetzte Richtung, in eine dunkle Gasse hinter dem Hotel.

Dort ruhte sie sich ein Weilchen aus und lauschte, wie infolge des Alarms die Feuerwehr eintraf. Wenn sie durch den Durchgang zur Straße schaute, konnte sie die wandernden Taschenlampen sehen, mit denen die Feuerwehrleute das Gelände absuchten. Sie wußte, sie mußte hier verschwinden, wenn sie nicht entdeckt werden wollte. Mühsam erhob sie sich auf Hände und Knie und kroch zu einer dunkleren Stelle einige Gebäude weiter die Gasse hinunter.

Als sie glaubte, daß man sie nicht mehr sehen und für verdächtig halten konnte, lehnte Caroline sich zurück; ihr Atem war ein mühsames Keuchen, und sie zitterte vor Kälte. Plötzlich kehrten alle Beschwerden und Schmerzen, die sie bei ihrer angstvollen Flucht vergessen hatte, mit Wucht zurück. Ihre Füße taten weh, und sie merkte, daß sie nicht daran gedacht hatte, Schuhe anzuziehen. Ihr Kopf dröhnte, ihr Hals war so steif, daß sie nicht den Kopf drehen konnte, ohne fast zu weinen. Aber sie wußte, sie mußte sich umsehen, um ihre Lage einzuschätzen; also drehte sie den ganzen Körper, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dabei liefen ihr Tränen über die Wangen.

Als ihre Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie zu ihrer Bestürzung, daß sie nicht allein an diesem dunklen Ort war. In der Nähe befanden sich mehrere regungslose Gestalten. Ob sie männlich oder weiblich waren, betrunken oder tot, konnte sie nicht feststellen, aber ihr war klar, daß es sich bei ihnen nicht um normale, durchschnittliche Bürger handelte. Sie verhielt sich ganz still und beobachtete sie eine Weile, bis sie sicher war, daß alle schliefen.

Die halbe Stunde, die die Feuerwehrleute brauchten, um festzustellen, daß es in dem Hotel nicht gebrannt hatte, kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Endlich fuhren sie davon, und das Dröhnen ihrer starken Fahrzeuge verklang in der Ferne. Caroline versuchte aufzustehen, doch ihr war so schwindlig, daß sie wieder zurückfiel; sie landete hart auf dem Gesäß und spürte einen brennenden Schmerz durch ihren kranken Körper zucken, am schlimmsten am Hals, in den Leisten und in den Achselhöhlen. Sie gab den Versuch auf, aufrecht zu gehen, und kroch leise zum nächsten schlafenden Bewohner der Gasse. Vorsichtig, ohne ihn aufzuwecken, zog sie ihm die Schuhe aus und streifte sie über ihre kalten Füße. Dann zwang sie sich hoch und taumelte unbeholfen dem Ende der Gasse zu, auf der Suche nach irgendeinem sicheren Ort.

Der schäbige Mann, dessen Schuhe sie gestohlen hatte, richtete sich leise auf und kroch zu seiner Nachbarin. Er klopfte der ebenso zerlumpten Frau auf die Schulter und sagte: »Komm. Sie geht jetzt.«

Die Frau setzte sich sofort auf und rieb sich die Augen. Dann standen beide auf, hielten sich aber in den langen Schatten, während sie Caroline geräuschlos folgten.

Gleich außerhalb der Gasse lehnte Caroline sich an einen Laternenpfahl. Sie hielt sich fest, um nicht zu fallen, und sah sich um. Sie wagte nicht, lange im Freien zu bleiben, aber sie konnte sich kaum bewegen. Sie sah hinter dem Fenster eines nahen Restaurants die sauberen und von sanftem Kerzenlicht beleuchteten Gesichter gutgekleideter Gäste.

Sie taten etwas, was sie schon hundertmal getan hatten, genossen in aller Ruhe das Essen in einem öffentlichen Restaurant, lachten, tranken und amüsierten sich prächtig. Sie selbst dagegen hing an einem Laternenpfahl, trug gestohlene Schuhe und war mehr tot als lebendig. Sie fragte sich, wie sie in so kurzer Zeit so anders geworden war als diese Leute. Ich sehe einen Film darüber, wie mein Lehen früher war, dachte sie; ich gehöre nicht mehr dazu.

Ein Mann kam aus der Vordertür des Restaurants; er war gut gekleidet und sauber, und seine Schritte, als er auf sie zukam, waren fest und entschlossen. Er kommt mir zu Hilfe, dachte Caroline dankbar, und er trägt keine Uniform! Als er näher kam, entschied sie, daß er die Art Mann war, auf deren Hilfe man sich verlassen konnte, und versuchte zu lächeln.

Ihre beiden Verfolger blieben zurück, unsichtbar in der Dunkelheit, und beobachteten besorgt, wie der Mann zu Caroline ging. »Was machen wir jetzt?« fragte die Frau.

»Bloß zusehen«, antwortete ihr Gefährte. »Und in der Nähe bleiben. Viel mehr können wir nicht tun.«

Sie hielten sich verborgen und hörten Caroline sagen: »Oh, Gott sei Dank, ich brauche wirklich Ihre Hilfe.«

Doch der Mann packte sie an der Schulter. »Ihnen ist nicht mehr zu helfen!« sagte er wütend. »Verdammte Marginale! Wie oft muß ich euch noch von meinem Fenster verscheuchen?«

Ehe Caroline noch protestieren konnte, zerrte er ihre schwache, stolpernde, hustende Gestalt in eine andere Gasse, wo er sie unsanft auf das zerbrochene Pflaster fallen ließ.

Er schüttelte die Faust in ihre Richtung und sagte: »Und kommen Sie bloß nicht wieder, oder ich mache mir gar nicht erst die Mühe, die Polizei zu rufen. Ich kümmere mich einfach selbst um sie.«

Während er zum Restaurant zurückging, rieb er die Hände aneinander und wischte sie dann an seiner Hose ab, als wolle er sie säubern. Die Beobachter sogen beide erschrocken die Luft ein, als der Mann hustete, sich dabei die Hand vor den Mund hielt und danach mit einer ärgerlichen Geste über sein Haar strich.

Caroline lag wie betäubt in der Gasse und verlor langsam das Bewußtsein. Die Beobachter warteten, bis der Wirt wieder in seinem Restaurant verschwunden war, und krochen dann vorsichtig im Schatten durch die Gasse, bis sie Caroline sehen konnten. Die zerlumpte Frau blieb zurück und hockte geduckt an einer Mauer, während der schäbige Mann näher und näher an die ohnmächtige Caroline herankroch; in geringer Entfernung von ihr setzte er sich hin und tat so, als versuche er zu schlafen. Dabei behielt er sie unablässig im Auge.

Als Caroline endlich wieder zu sich kam, fiel gerade der erste Lichtschein des beginnenden Morgens in die Gasse. Sie richtete sich zu einer sitzenden Stellung auf und sah sich um; ihr Blick fiel auf den schlafenden Mann in der Nähe. War er schon dagewesen, als sie letzte Nacht das Bewußtsein verlor? Ich kann mich nicht erinnern ... dachte sie. Warum kann ich mich nicht erinnern?

Sie atmete tief ein und bereitete sich darauf vor, sich zu erheben; als Luft in ihre Lungen strömte, spannten sich ihre Brustmuskeln abwehrend. Der plötzliche Schmerz bewirkte, daß sie einen trockenen, bellenden Hustenanfall bekam. Als er nachließ, rappelte sie sich auf die Füße, fiel aber fast sofort wieder zu Boden.

Ich werde hier wegkriechen müssen. Auf Händen und Knien bewegte sie sich langsam an dem übelriechenden Mann neben ihr vorbei auf das Ende der Gasse zu; ihre zu großen gestohlenen Schuhe schleiften hinter ihr her.

Sobald sie in sicherer Entfernung war, kroch der stinkende Mann zu seiner Gefährtin zurück. »Sie kriecht zum Ende der Gasse«, flüsterte er ihr zu. Sie nickte und sagte: »Dann hole ich den Karren und ziehe los. Wünsch mir Glück.«

»Viel Glück«, sagte er und sah zu, wie sie in die entgegengesetzte Richtung verschwand.

Als Caroline halb kriechend, halb stolpernd die Straße erreicht hatte, sah sie eine Bank. In ihrer Benommenheit schien sie ihr wie ein lohnendes Ziel, eine Verbesserung ihrer gegenwärtigen verzweifelten Situation. Die Bank war nicht besetzt, und sie dachte, sie könne sich dort ein Weilchen ausruhen und ihren verwüsteten Körper vom Boden erheben, während sie sich überlegte, was sie als nächstes tun sollte.

Sie zog sich auf die Bank und rollte sich an einem Ende zusammen. Eine Schar Tauben kam geflogen und ließ sich zu ihren Füßen nieder. Sie machte einen halbherzigen Versuch, sie zu vertreiben. Fliegende Ratten, dachte sie. Sozialhilfementalität.

»Ich mag sie auch nicht sonderlich«, sagte eine unbekannte Frau. Caroline blickte auf und sah eine zerlumpt wirkende Frau vor sich stehen; sie war merkwürdig gekleidet und trug eine zerrissene braune Tasche über einer Schulter. Sie lächelte und lehnte sich an einen rostigen, verbeulten Einkaufswagen, der bis auf ein paar alte Zeitungen leer war. »Haben Sie was dagegen, daß ich mich auch ein bißchen ausruhe? Bin ein bißchen müde.«

Sie sieht harmlos aus, dachte Caroline. Sie zuckte schwach mit den Schultern und bedeutete der Frau, sie könne sich ruhig niederlassen. Die dicke

Frau füllte den restlichen Platz auf der Bank, die unter ihrem Gewicht merklich nachgab.

»Sie sehen selbst müde aus«, sagte sie zu Caroline. »Vielleicht ein bißchen unpäßlich?«

Obwohl Caroline kaum Energie für höfliche Konversation übrig hatte, antwortete sie schwach: »Ein bißchen.«

Die zerlumpte Frau lächelte. »War eine lange Nacht, nicht?« Sie beugte sich näher zu Caroline und sagte: »Ich hatte zu meiner Zeit auch ein paar lange Nächte; einige waren recht denkwürdig, andere würde ich lieber vergessen!« Sie lachte herzlich über ihre eigene Bemerkung und schlug sich auf die Knie. »Sie müssen wissen, ich war damals jünger und noch so hübsch, daß man mir nachschaute.«

Mit einiger Anstrengung schaute Caroline zu der Frau auf und fragte sich, wie lange es her sein mochte, daß man diese Frau noch als »hübsch« bezeichnen konnte. Die Frau sah ihren Blick und fuhr fort: »Ach, ich weiß schon, was Sie vermutlich denken. Sie fragen sich, wie sich jemals einer nach diesem stinkigen Weib umdrehen konnte. Ja, Sie müssen immer damit rechnen, daß etwas, woran Sie nicht glauben, plötzlich wahr wird.«

O Gott, dachte Caroline, wenn ich mich nur erinnern könnte, was ich glaube ... Eine Träne lief ihr über die Wange.

Die Frau sah die Träne, legte eine Hand auf Carolines Arm und sagte: »Ach du meine Güte, jetzt habe ich Sie verletzt. Bitte entschuldigen Sie.«

Caroline versuchte, die Frau anzusehen, aber ihr Blick wurde immer wieder unscharf. Als sie schließlich klar sehen konnte, erkannte sie, daß die merkwürdige Frau sie anlächelte. Unter normalen Umständen wäre ihr deren Aussehen nicht sonderlich angenehm gewesen; ihre Kleider waren schmutzig, ihr Haar wirr, ihr Alter unbestimmt, ihr Lächeln voller Zahnlücken. Nicht mein üblicher Umgang ... Trotzdem fühlte sie sich seltsam getröstet.

Ein Hafen im Sturm, dachte sie. Sie schüttelte den Kopf, um der Frau zu zeigen, daß sie sich irrte.

»Na, irgend etwas scheint Sie aber zu bedrücken. Haben Sie sich verirrt?«

Unter großen Schmerzen nickte Caroline. Dann zog sie eine Grimasse.

»Ich hab mich auch schon ein paarmal verirrt«, sagte die Frau, »aber irgendwie finde ich mich immer wieder zurecht.« Sie tätschelte Carolines Arm. »Das werden Sie sicher auch, wenn es an der Zeit ist.«

An der Zeit ... finden ... Diese Worte gingen Caroline noch durch den Kopf, während sie das Bewußtsein verlor. Die Last wach zu sein, war plötzlich zuviel für ihren angegriffenen Körper, er wollte nicht mehr denken und sich auch nicht mehr bewegen, denn diese einfachen Aktivitäten schienen mehr Energie zu erfordern, als er aufbringen konnte.

Die Frau sagte nichts und tat nichts. Sie wartete geduldig, bis sie sicher war, daß Caroline schlief. Dann streckte sie eine rauhe Hand aus und streichelte über Carolines fettiges Haar. »Sie ruhen sich jetzt aus«, sagte sie, »und ich werde mich um Sie kümmern.«

Die Hände fest um die in ihrem breiten Schoß liegende braune Tasche geschlossen, wachte sie schweigend über ihren schlafenden Schützling und beobachtete die Passanten. Die wohlhabenden Londoner schenkten ihnen keinerlei Aufmerksamkeit, denn die meisten zogen es vor, ihre verstören- de Anwesenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil sie sonst womöglich mitfühlend reagieren müßten. Hin und wieder lauschte die Frau auf Carolines Atem, und als er im Schlaf tief und gleichmäßig geworden war, stand sie von der Bank auf und legte ihre Habseligkeiten in den Einkaufswagen. Dann hob sie Caroline mit überraschender Kraft hoch und legte sie auf die Sachen im Wagen. Sie pfiff leise und sah die Gasse hinunter, wo ihr Gefährte wartete; winkend bestätigte er, daß er sie beobachtet hatte.

Sie tastete in der Tasche ihres schmutzigen Kleides nach Brotkrumen; nachdem sie den Tauben einige Handvoll zugeworfen hatte, faßte sie den Griff des Wagens und ging mit ihrer träumenden Passagierin die Straße hinunter, unzusammenhängend vor sich hin murmelnd.

Eine lächelnde Frau in einer kürzeren Version der grünen Biocop-Uniform betrat durch eine verspiegelte Schiebetür in einer Wand den Raum mit dem Podest.

Biokrankenschwester? dachte Janie. BiocopSanitäterin?

Die Frau schob einen metallenen Wagen mit medizinisch aussehenden Gegenständen vor sich her; trotz ihrer Angst betrachtete Janie neugierig die Sachen auf dem Edelstahltablett, das oben auf dem Wagen stand. Sie sah eine merkwürdige und etwas bedrohliche Sammlung von langen Metallsonden und Klammern, ein paar Klebepflastern und dergleichen, und nichts davon fand sie im Hinblick darauf, was in den nächsten Augenblicken geschehen würde, sonderlich beruhigend; allerdings waren die Gegenstände interessant.

»Bitte ziehen Sie Ihren Transferanzug aus«, sagte die Frau.

»Aber dann bin ich nackt.«

»Ja, Madam, das verstehe ich.« Die Krankenschwester sah mitfühlend aus, klang aber entschlossen. »Es tut mir leid, wenn Ihnen das unangenehm ist, aber Sie können bei dem Vorgang keine Kleider tragen. Das ist wie bei jeder anderen ärztlichen Untersuchung. Kleidung kann die Resultate verfälschen.«

Über wie vielen nackten Patienten auf Operationstischen habe ich gestanden? fragte sich Janie. Habe ich sie immer so behandelt, daß sie ihre Würde behielten? Sie erinnerte sich an einen Patienten, an dem sie eine Bauchoperation vorgenommen hatte. Als sie ihn vorbereiteten, hatten sie und die anderen Mitglieder ihres Teams gesehen, daß er einen auffallend kleinen Penis hatte, und sie erinnerte sich beschämt, wie sie alle darüber gekichert hatten, da sie wußten, daß der Patient unter Vollnarkose stand und sie nicht hören konnte. Vermutlich nicht hören konnte, dachte sie und schämte sich noch mehr.

Sie versuchte, das, was mit ihr passieren würde, als eine schlichte medizinische Behandlung zu sehen, doch damit hatte sie keinen rechten Erfolg. Karma, dachte sie unglücklich, Vergeltung. Nervös sah sie sich in dem kleinen Raum um, starrte in die Spiegel an den Wänden; sie spürte die unsichtbaren Augen der Wachleute hinter diesen Spiegeln, die sie betrachteten, als sie den Plastikanzug auf ihre Knöchel rutschen ließ und herausstieg. Die Frau hob ihn sofort auf und stopfte ihn in einen gelben Plastikbeutel.

Dann reichte die Frau ihr eine Duschhaube und ein durchsichtiges Plastikhalsband, auf dem »Ethel J. Merman« stand. »Bitte schieben Sie Ihr Haar unter diese Haube, und legen Sie sich das Identifikationsband um den Hals. Dann stellen Sie sich auf das Podest und bleiben still stehen. Sie erhalten jetzt eine Säuberungsdusche, um Ihre Haut zu sterilisieren.«

Janie hörte das kratzende Geräusch einer Schiebetür in der Decke, die sich öffnete. Sie schaute nach oben und sah ein großes Paneel in der Decke verschwinden; gleich darauf erschien ein großes, rundes Rohr, einer Miniaturrakete nicht unähnlich, das abgesenkt wurde und sie umschloß. An der Innenwand der Röhre saßen Tausende von winzigen Spritzdüsen.

»Bitte heben Sie die Hände und fassen Sie den Griff über Ihrem Kopf. Schließen Sie die Augen, und halten Sie sie geschlossen, bis der Sprühvor- gang beendet ist.«

Winzige Strahlen einer bläulichen Flüssigkeit, die die gleiche Temperatur hatte wie ihre Haut, bombardierten ihren Körper. Sie hatte vergessen, tief einzuatmen, bevor die Dusche begann, und hätte beinahe nach Luft geschnappt, ehe die Flüssigkeit versiegte. Starke Gebläse traten in Aktion, und trockene Luft ließ die blaue Flüssigkeit von ihrem Körper auf das Podest rinnen. Ein Vakuumabfluß öffnete sich und saugte die blauen Pfützen ein. Dann wurde der Luftstrom aus dem Gebläse schwächer, und bald war Janies Körper wieder trocken.

Die Frau reichte Janie ein dünnes blaues Handtuch aus leichtem Stoff und wies sie an, alle Körperfalten abzutrocknen, die die Luft vielleicht nicht erreicht hatte. »Jetzt muß ich Sie um Ihre Mitwirkung bitten, obwohl die nächsten paar Minuten Ihnen wahrscheinlich nicht gefallen werden.« Janie glaubte wieder einen mitfühlenden Ausdruck im Gesicht der Frau zu sehen. »Am besten wehren Sie sich nicht. Dann geht es sehr schnell. Und wir bekommen ein gutes Bild. Sie wollen das ja sicher nicht noch einmal machen müssen.«

Und dann wurden all die Sonden, die sie auf dem Tablett gesehen hatte, in ihre sämtlichen Körperöffnungen eingeführt. Dazu wurde jede entsprechend geformte Sonde zuerst mit einem Plastiküberzug versehen - Maschinenkondome, dachte Janie - und dann eingefettet, bevor man sie in ihren Körper schob. Klebepflaster wurden auf ihren Nabel, mehrere Stellen auf dem Brustkorb, ihre geschlossenen Augenlider, ihre Brustwarzen und die Spitzen ihrer Fingernägel geklebt. Jedes dieser Pflaster war ein Minisender, der ein Bild des Gebietes abstrahlte, auf dem es sich befand.

»Jetzt sind wir fast fertig; versuchen Sie, sich ru- hig zu halten«, sagte die Frau zu Janie. »Bald ist es vorbei.«

Janie versuchte, ruhig zu bleiben, konnte ihr Zittern aber nicht ganz unterdrücken. Sie sah nicht mehr, was mit ihr passierte, hörte aber die Frau sagen: »Jetzt nur noch eine Sache.«

Die Frau stieg auf einen Hocker und nahm Janie die Haube vom Haar. Dann faßte sie das Haar und zog es nach oben, wo es in eine Vakuumhaube gesaugt wurde. Wie um Janie zu trösten, sagte die Frau: »Früher mußten wir den Leuten die Köpfe scheren. So ist es besser, finden Sie nicht?«

Mit der Sonde im Mund konnte Janie nur antworten: »Rrrrgh.«

»So, Miss Merman, jetzt sind wir gleich fertig«

Acht Platten kamen langsam aus der Öffnung in der Decke und vereinigten sich zu einer neuen Röhre um Janies Körper. Janie konnte sie nicht sehen und auch das Geräusch, das sie machten, nicht deutlich hören, aber sie spürte ein leichtes Vibrieren des Podests, als die schweren Objekte sich herabsenkten.

Sie wollte schreien, aber es war unmöglich. Sie fragte sich, wie die echte Ethel Merman, ein fabelhaft beherztes Frauenzimmer, wohl auf eine so gräßliche Situation reagiert hätte.

Sie hätte natürlich gesungen, dachte Janie.

Tröstliche Lieder kamen ihr in den Sinn. Wenn du durch einen Sturm gehst, halt den Kopf hoch ... Ich erinnere mich einfach an die Dinge, die ich am liebsten habe ...

Gleich darauf ertönte ein leises Surren, als Tausende von winzigen Metallzinken aus den Platten glitten. Jede hielt automatisch inne, wenn sie ihre Haut erreichte; zusammen bildeten sie so exakt ihre Körperformen ab.

»Jetzt stehen Sie bitte ganz still! Nur noch ein paar Sekunden!«

Janie, gefangen in der Maschine ihrer Alpträume, bedrohlich berührt von zehntausend elektronischen Fühlern, die jedes ihrer Geheimnisse aufzeichneten, hätte auch dann nicht singen können, wenn es um ihr Leben gegangen wäre. Die metallenen Zinken lähmten sie, und während sie so dastand und nicht einmal mehr zittern konnte, hörte sie das Klicken und Surren, mit dem die Sender ihre Daten übermittelten.

Sie dachte an etwas, das ihr besonders lieb war, ihren sechzehnten Geburtstag, als ihre Tante, eine erfolgreiche Goldschmiedin, ihr eine einreihige Kette aus Perlen geschenkt hatte, die von der Mitte aus in perfekter Harmonie immer kleiner wurden. In der Intimität ihres Jungmädchenzimmers hatte Janie sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und sich mit dieser prächtigen Kette vor den mannsho- hen Spiegel gestellt. Lachend hatte sie in ein imaginäres Mikrophon gesprochen: »Ich möchten allen Austern der Welt danken, daß sie dazu beigetragen haben, diesen Tag möglich zu machen…«

An diese Erinnerung klammerte sie sich, um nicht den Verstand zu verlieren, als sie zwischen den Metallzinken stand und keine Perlen, sondern ein durchsichtiges Plastikhalsband trug. Ängstlich und mit weißen Fingerknöcheln hielt sie den Griff über ihrem Kopf gefaßt. Sie stellte sich vor, sie sei dieses junge Mädchen, straff und unschuldig und hoffnungsvoll, in der ersten Blüte ihrer Erotik. Die Realität, eine Frau in mittleren Jahren, kühl und mit leicht erschlaffendem Körper, die in diesem kahlen Raum stand und von unsichtbaren Beobachtern mit fragwürdigen Absichten angestarrt wurde, war völlig unvorstellbar. Während die winzigen Metallzinken in perfekter Synchronisation ein leichtes elektrisches Summen durch ihren Körper schickten und jede Zelle, jedes Molekül, jedes Atom ihres physischen Seins verzeichneten, weinte Janie innerlich um den Verlust ihrer Unschuld und den Tod ihrer Hoffnung.