22
Janie und Bruce saßen auf einer Bank in einem kleinen Park nicht weit von Janies Hotel, um sich nach ihrer knappen Flucht aus dem Gefrierraum des Labors zu erholen. Statt ein Taxi zu nehmen, waren sie zu Fuß gegangen; so konnte ihr Adrenalinspiegel allmählich wieder absinken und ihr Kreislauf nach der Belastung durch die Kälte wieder in Gang kommen. Trotzdem wurde Janie nicht warm. Sie kuschelte sich an Bruce und sagte, noch immer heftig zitternd: »Im Augenblick will ich eigentlich nichts weiter als in ein Bett kriechen und die Augen schließen. Und wenn ich sie wieder aufmache, möchte ich in Massachusetts sein.«
Bruce legte den Arm um ihre Schulter und massierte sie. Seine Stimme klang verzweifelt. »Für den Moment hört sich das ganz gut an. Doch ich werde einer Vernehmung nicht allzu lange ausweichen können.«
»Aber ein bißchen Zeit haben wir noch«, sagte Janie mit täuschend hoffnungsvoller Stimme. »Sie werden dich vermutlich nicht sofort rufen. Vielleicht sogar erst morgen; ich kann mir nicht vorstellen, daß man dich im Moment verdächtigt. Der einzige Mensch, der dich um die Zeit des Alarms herum im Labor gesehen hat, ist dieser Wachmann, und er ist tot; außerdem würden in jedem Fall überall im Labor Beweise für deine Anwesenheit zu finden sein, selbst wenn du heute nicht dort gewesen wärst. Du arbeitest da. Es wäre seltsam, wenn es keine Spuren von dir gäbe. Die anderen wissen nur, daß du in Leeds warst. Die Wachleute im Depot und der Portier im Gasthof werden bestätigen, daß wir beide dort waren. Wenn du dich nicht blicken läßt, wird man dich vielleicht überhaupt nicht verdächtigen.«
»Aber sie werden trotzdem mit mir reden wollen.« Seine Stimme klang brüchig und müde. »Diese Leute sind sehr gründlich, und es ist ihnen egal, wem sie dabei auf die Zehen treten. Aber das ist nicht meine größte Sorge; ich habe noch immer keine Ahnung, was wir jetzt machen sollen. Wir können nicht in meine Wohnung gehen, und in deine Hotelsuite können wir schon gar nicht.«
Janie richtete sich gerade auf und sah ihn überrascht an. »Was machen wir dann hier? Wieso sind wir überhaupt hergekommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bruce und klang schrecklich verwirrt. »Auf einmal fühle ich mich fast heimatlos. Als wir das Institut verlassen haben, schien es mir eine gute Idee, zurück zum Hotel zu gehen. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
»Aber das Hotel ist der Ort, wo Caroline mich am ehesten erreicht. Der einzige andere Ort, wo sie es versuchen würde, wäre das Institut. Im Grunde müssen wir wieder ins Hotel. Und falls du es vergessen haben solltest, was ich nicht annehme, da drinnen liegt eine Leiche.«
»Deine Annahme ist richtig.« Seine Stimme klang scharf; das Gespräch nahm einen gezwungenen Klang an. »Daran brauchst du mich nicht zu erinnern. Aber die Vorstellung, das in die Hand zu nehmen, ist im Moment fast mehr, als ich ertragen kann.«
»Wir müssen etwas tun; wenn die Leiche dort gefunden wird, kommt Caroline niemals aus England raus«, sagte Janie; ihr schriller Ton mißfiel ihr selbst.
Bruce beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Er atmete tief ein und stieß dann einen langen, frustrierten Seufzer aus. »Es geht jetzt nicht mehr nur um Caroline«, sagte er. »Wir müssen Caroline nicht nur finden und isolieren, wir müssen es auch schaffen, ohne daß man uns selbst damit in Verbindung bringen kann. Wer weiß, was sie in den Spuren finden, die wir hinterlassen haben. Du kannst darauf wetten, daß sie irgend etwas finden werden, und sie werden sich nicht scheuen, daraus eine Anklage gegen uns zu konstruieren. Du und ich wis- sen, daß wir mit diesem ganzen Fiasko nichts zu tun hatten, aber die Burschen in Grün wissen das nicht. Und wenn wir eingesperrt werden, bevor wir Caroline finden, dann weiß Gott allein, wohin sie gehen oder was sie tun wird. Sie läuft da draußen rum wie der wandelnde Typhus. Sie könnte halb London anstecken, bevor jemand begreift, was da passiert, und sie aufhält.«
Er richtete sich wieder auf und sah ihr direkt in die Augen. »Vielleicht müssen wir das Ganze im Auge behalten. In dieser Stadt und um sie herum leben fünfzehn Millionen Menschen. Und eines weiß ich noch von der Pest, nämlich, daß sie eine Sterblichkeitsrate von ungefähr neunzig Prozent hat, wenn sie nicht behandelt wird.«
Janie wußte, alles, was er sagte, war richtig; die Realistin in ihr sagte: Gib auf. Es besteht keine Hoffnung. Geh jetzt fort, solange sie dir vielleicht noch glauben. Sie erinnerte sich an John Sandhaus’ Worte. Tu das Richtige, Janie. Sie dachte daran, wie es sich anfühlen würde, von der fast unerträglichen Bürde befreit zu sein, die sich unaufgefordert auf ihre Schultern gelegt hatte, sehr schnell und ohne die leiseste Vorwarnung. Das Gefühl der Leichtigkeit, das sie dabei empfand, war süß und verführerisch, und sie sehnte sich verzweifelt danach.
Sie konnte sehen, daß Bruce auf eine Antwort auf das wartete, was er gesagt hatte. Er ist ein guter Mensch, dachte sie, und ich könnte ihn lieben, wenn all das vorbei ist. Sie wußte, das, was sie jetzt tat, würde weitgehend ihre gemeinsame Zukunft bestimmen. Vielleicht ist es schon zu spät, dachte sie, aber dagegen kann ich nichts machen.
Der Nachthimmel begann ein wenig heller zu werden; die Morgendämmerung war nur noch wenige Stunden entfernt. Vielleicht wird das Tageslicht die Dinge klarer erscheinen lassen, dachte sie hoffnungsvoll. »Laß mir nur Zeit, bis es hell wird«, sagte sie. »Wenn wir bis dahin nichts von ihr gehört haben, werde ich anrufen.«
Sie konnte sein Widerstreben sehen und rechnete damit, daß er nein sagen würde. Doch er überraschte sie mit den Worten: »Also gut. Wenn es hell wird.« Er nickte in Richtung Hotel. »Inzwischen laß uns überlegen, was mit Teds Leiche zu tun ist.«
Er stand von der Bank auf, reckte sich, streckte dann den Arm aus und nahm ihre Hand. Er zog sie hoch, und sie war froh über seine Hilfe. Sie umarmten sich kurz, für den Augenblick wieder vereint, und gingen auf das Hotel zu.
Sarin wurde immer ungeduldiger. Wie eine schwangere Frau, deren Entbindung dicht bevorsteht, hatte er einen weiteren Energieschub gehabt und alles noch einmal überdacht, um sicher zu sein, daß es so war, wie er es haben wollte. Er richtete alles her und bereitete sich darauf vor, die schwere Zeit, die vor ihm lag, möglichst gut zu überstehen. Er fürchtete sich nicht mehr, sondern harrte erwartungsvoll seiner Aufgaben, und als die Stunden vergingen, dachte er, daß das Warten anstrengender war als die Vorbereitungen.
Der Hund hatte den erregten Zustand seines Herrn gespürt und folgte ihm mit besorgten Augen durch das Haus. Die normale tägliche Routine war von Sarins Aktivitätsausbruch gestört worden; der Hund, der ein Gewohnheitstier war, war den ganzen Tag verwirrt gewesen. Es sah dem alten Mann gar nicht ähnlich, sich an einem einzigen Tag so sehr anzustrengen.
In der Dämmerung nahm Sarin die Hundeleine vom Haken und winkte damit. »Also, sollen wir?« sagte er. Der Abendspaziergang war das erste Anzeichen von Normalität an diesem seltsamen Tag, und der Hund wurde plötzlich lebhaft wie ein junges Tier, wedelte mit dem Schwanz und sprang fröhlich auf und ab.
Der Himmel war ungewöhnlich klar, und Sarin schaute über die Baumwipfel hinweg nach dem Abendstern; seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, er sei eigentlich kein Stern, sondern eher so etwas wie die Erde. Er hielt jeden Abend danach Ausschau, und seine Anwesenheit war ihm immer ein Trost, ein Anzeichen für Stabilität am Himmel, der Beweis, daß die Dunkelheit zwar kommen würde, danach aber auch wieder der Tag, und daß alles gut werden würde. Er wußte, um diese Jahreszeit war der Stern über einem bestimmten Baum zu finden, und da war er auch und zwinkerte freundlich. Er nahm sein Bild in sich auf und prägte es seinem Gedächtnis ein, denn er wollte seinen Trost mitnehmen, wenn er hinüberging.
Sie gingen zwischen den Eichen hindurch; als sie ihren üblichen Weg um das Feld herum einschlugen, ließ Sarin dem Tier den Vortritt, das ihn an der Leine mitzog. Der Hund verrichtete sein Geschäft ziemlich bald, doch im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit ging er dann nicht weiter, sondern blieb still stehen und spitzte die Ohren; offensichtlich lauschte er auf ein Geräusch in der Ferne. Plötzlich begann er, fast gewaltsam an der Leine zu zerren, und der alte Mann wäre fast gestolpert bei dem Versuch, ihn zurückzuhalten. Der Hund wollte rennen, sprang wild herum, um sich zu befreien, und strebte der Mitte des Feldes zu.
»He!« sagte Sarin. »Bei Fuß!« Er packte das Halsband des Hundes in der Hoffnung, ihn so besser festhalten zu können. Der Hund ließ nicht locker und versuchte weiterhin vorwärtszukommen. Sarin mußte schließlich loslassen, und sofort raste der Hund der Mitte des Feldes zu; sein Herr starrte verwundert hinter ihm her. »Langsam!« rief er dem Tier nach; er hatte den Hund noch nie so schnell laufen sehen. »Ich komme!«
Er lief, so schnell er konnte, geleitet vom Bellen des Hundes vor ihm. Ein- oder zweimal stolperte er über Steine und Wurzeln. Sei vorsichtig, alter Narr, sagte er zu sich selbst, du hast noch eine wichtige Arbeit zu tun.
Er hatte immer gedacht, wenn er alt wäre, würde er auf natürliche Art weiser sein als in seiner Jugend, aber er war noch immer so unsicher wie ein Teenager, und der Gedanke an das, was vor ihm lag, schien plötzlich überwältigend. Unter Schmerzen und keuchend strebte er vorwärts; jeder Schritt über den steinigen Boden war wie ein Stich in sein Rückgrat.
Plötzlich brach der Hund aus der Dunkelheit und sprang um Sarins Füße. Dann verschwand er wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Sarin folgte ihm mit den Augen und sah, daß der Hund auf dem höchsten Punkt einer kleinen Erhebung stehenblieb, nicht weit von der vertrauten Stelle, wo es jedes Frühjahr schlammig wurde. Er wußte, daß es dort einen großen Felsblock gab, der tief in die Erde eingebettet war und dessen abgerundete Kuppe gerade so weit herausstand, daß man sie sah. Als er näher kam, glaubte er, da, wo der Stein sein sollte, noch etwas sehen zu können, das ebenfalls runde Konturen aufwies. Als er nur noch ein paar Meter entfernt war, bewegte es sich.
Endlich erreichte er die Stelle und blieb ächzend und keuchend stehen; er beugte sich vor und stieß den Hund zur Seite. In der Dunkelheit konnte er die Frau zu seinen Füßen kaum sehen; er richtete den Strahl der Taschenlampe auf ihr Gesicht und zuckte sofort zurück.
»Guter Gott!« rief er schockiert. Er schaute noch einmal hin und versuchte festzustellen, welche der beiden früheren Besucherinnen zu ihm zurückgekehrt war. Und obwohl es verfilzt und schmutzig war, verriet das rote Haar die Identität der Frau sofort.
Ihr Zustand war viel schlimmer, als er erwartet hatte. Er sagte zu dem Hund: »Da ist keine Zeit zu verlieren; es geht ihr sehr schlecht!«
Die Zeitungen, mit denen sie zugedeckt gewesen war, waren alle weggeflogen. Er knöpfte ihr die zerrissene Jacke zu, zog dann seinen eigenen Pullover aus und bedeckte ihre Beine damit. Sie stöhnte und versuchte plötzlich, sich umzudrehen, und er sprang zurück, erschrocken über ihre unerwartete Bewegung. Er begann zu wimmern, schalt sich aber schnell selbst wegen seines Mangels an Mut. Er nahm all seinen Verstand zusammen, hob einen Finger an die Lippen und sagte: »Pssst! Ruhig jetzt, Sie brauchen sich nicht zu bewegen.« Er hielt es für unwahrscheinlich, daß sie seine Worte verstehen konnte, fühlte sich aber doch verpflichtet, sie zu trösten und zu beruhigen. »Alles wird gut«, sagte er, »bald geht es Ihnen wieder gut. Sie werden sehen!«
Der Hund jaulte und legte den Kopf schräg; er beugte sich über Carolines heißes, schmutziges Gesicht und begann, es wieder zu lecken, als wolle er sie abkühlen. Sarin schob ihn weg, drohte mit dem Finger und sagte: »Böser Hund! Wir müssen vorsichtig mit ihr umgehen. Du bleibst hier! Ich bin gleich zurück. Du bleibst hier und paßt schön auf!«
Er stand auf und strebte in langsamem Laufschritt dem Haus zu. Der Hund tat ein paar Schritte in dieselbe Richtung, überlegte es sich dann aber anders und kehrte zu Caroline zurück. Nachdem er ein paarmal verwirrt gejault hatte, legte er sich neben sie und wärmte sie mit seinem Fell. Er blieb neben ihr liegen, hechelte, leckte ihr ab und zu das Gesicht und wartete darauf, daß sein Herr wiederkam.
Ein paar Minuten später kehrte Sarin mit Stöcken und Decken zurück. Er band an jeden Stock zwei Zipfel einer Decke und stellte so eine einfache Bahre her, um Caroline ins Haus zu transportieren. Er legte sie neben Caroline auf den Boden und strich sie flach. So sanft er konnte, hob er zuerst ihre Füße, dann ihre Hüften, dann ihren Oberkör- per auf die Decke. Sie begann sich wieder zu bewegen, als wolle sie sich gegen ihn wehren, also streichelte er sanft ihre Stirn und sagte: »Ganz ruhig! Es dauert nur noch ein paar Minuten, dann habe ich Sie sicher im Haus.« Mit einer weiteren Decke band er Caroline auf der provisorischen Bahre fest, damit sie auf der holprigen Reise über das Feld nicht herunterrutschte.
»Tut mir leid, Miss«, sagte er, bevor er die Stäbe anhob. »Ich denke, das wird keine sehr angenehme Fahrt.«
Langsam schleppte er die Bahre Richtung Haus; sie kratzte über die Steine, und sie kamen nur langsam und mühselig voran. Die Entfernung bis zum Haus erschien ihm riesig; er wußte, daß es eigentlich nur ein kurzer Spaziergang war, aber mit der Last von Carolines bleiernem Gewicht mußte er häufig innehalten, um wieder zu Atem zu kommen und die Steifheit aus seinen Armen zu schütteln. Unterwegs sah er sich viele Male nach seinem Fahrgast um, prüfte, ob sie noch sicher festgebunden war, und dankte Gott jedesmal, daß sie bewußtlos war, unfähig, die durch die Bewegung hervorgerufenen Schmerzen zu spüren.
Ein Wind kam auf, nicht der milde Wind, an den er gewöhnt war, sondern ein rauher, harter und sehr kalter Wind. Er beugte sich tiefer nach vorn und kniff die Augen zu vor den Staubkörnern und den Blättern, die plötzlich um ihn herumwirbelten. Der Wind drohte ihn zurückzudrücken, und ein paar Minuten lang kam er gar nicht voran. Dann erneuerte er seine Anstrengung, beugte sich gegen den Wind und drängte nach vorn. Endlich erreichte er die Eichen, und als er zwischen ihnen hindurchgegangen war, spürte er, daß der Wind sich veränderte. Er wurde schwächer, hörte schließlich ganz auf, und auf einmal war ihm wieder warm.
Bis Janie und Bruce die Halle des Hotels erreicht hatten, hatten sie so etwas wie einen Plan entwickelt; er war unvollständig, aber immerhin ein Anfang. Er erforderte einen Gepäckwagen, und so griff Bruce nach einem, als sie am Empfang vorbeikamen, und im Aufzug nahmen sie ihn mit nach oben.
Teds Leichnam hatte sich weiter zersetzt, seit sie ihn zurückgelassen hatten, aber der Geruch war nicht mehr so stark, da sie das Fenster offengelassen hatten. So vorsichtig, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, um eine Ansteckung zu vermeiden, rollten Janie und Bruce Ted auf eine Decke und wickelten ihn fest darin ein. Dann mühten sie sich damit ab, die Decke um seine Mitte festzubinden, und verfrachteten ihn ziemlich pietätlos in Janies Kleidersack aus Plastik.
Als es ihnen schließlich gelungen war, Teds verhüllten Körper zusammengeklappt auf den Gepäckkarren zu laden, gingen sie ins Badezimmer und schrubbten ihre Hände ab, bis sie fast bluteten. Bruce setzte sich auf das Bett und starrte den Wagen mit seiner gräßlichen Fracht an. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen und rieb sich die Augen. Seine Stimme klang gedämpft, als er zu Janie sagte: »Ich kann nicht glauben, was ich gerade getan habe. Und ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«
»Wir sollten die Leiche verbrennen«, sagte Janie.
»Dazu müssen wir sie aus London herausschaffen.«
Janie sah auf ihre Uhr; es war fast vier Uhr früh, und in eineinhalb Stunden würde es hell werden. Sie brauchte eine Idee.
»Wir können ihn in den Kofferraum deines Wagens packen und später am Tag aus London herausfahren. Wenigstens sieht ihn dann keiner.«
Bruce seufzte tief und stand auf. »Gut, wir können ihn ja nicht hierlassen.«
Nachdem sie sich noch einmal umgeschaut hatte, rollten sie den Karren aus dem Zimmer und nahmen den Aufzug nach unten.
In der Halle trennten sie sich; Bruce nahm den Karren mit der Leiche und ging zum Auto, das da geparkt war, wo sie es zurückgelassen hatten, auf der anderen Seite der Straße. Janie blieb zurück und klingelte nach dem Nachtportier. Als er aus seinem Büro kam, wirkte er zerzaust und gereizt wie jemand, den man aus tiefem Schlaf geweckt hat. Trotzdem war er höflich zu ihr. »Ja, bitte, Ma’am?« sagte er.
»Tut mir leid, daß ich Sie geweckt habe«, entschuldigte sie sich nervös.
»Das ist schon in Ordnung, Ma’am«, sagte er. Er sah sie mit halb geschlossenen Augen an, und Janie fragte sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihn herauszuläuten.
Sie brachte etwas zustande, von dem sie hoffte, es sähe wie ein überzeugendes Lächeln aus. »Ich muß in den nächsten paar Tagen einige Feldexkursionen machen«, sagte sie. Als Erklärung für die frühe Stunde fügte sie hinzu: »Ich will heute früh anfangen. Ich behalte das Zimmer und habe ein paar wichtige Forschungsunterlagen darin zurückgelassen. Sie liegen überall herum, deswegen wäre es mir lieb, wenn das Zimmer nicht gereinigt würde, solange ich weg bin. Ich weiß, daß Miss Porter nebenan dieselbe Bitte geäußert hat und daß das Personal sehr zuvorkommend war.«
»Natürlich, Ma’am, ich werde es den Zimmermädchen sagen. Welche Zimmernummer war es doch bitte?«
»Sechshundertzehn«, sagte sie. Während er sich die Zimmernummer notierte, schaute sie über die Schulter und sah, wie Bruce den Kofferraum seines Wagens schloß. Der Gepäckkarren war leer.
»Gut, dann haben Sie vielen Dank«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Einen Moment noch, Ma’am. Sechshundertzehn, sagten Sie?«
Sie drehte sich um, und Angst krampfte ihren Magen zusammen. »Ja, richtig.«
»Da ist eine Nachricht für Sie. Ein Herr hat angerufen. Er wollte offenbar nicht den Anrufbeantworter benutzen.«
Das dürfte Sandhaus gewesen sein, dieser notorische Sonderling, dachte sie, und ihre Angst wich Ärger. Ihr Timing ist perfekt wie immer, John ...
Der Nachtportier hielt ihr den Zettel hin und sagte: »Ich habe den Anruf selbst entgegengenommen. Wenn ich das sagen darf, Ma’am, der Herr schien ein bißchen aufgeregt.«
Sie nahm den Zettel, faltete ihn auseinander und unterdrückte einen Aufschrei, als sie ihn las:
Robert Sarin, sehr wichtig, bitte sofort kommen.
Mit steifen Bewegungen, denn er hatte sich fast das Kreuz gebrochen, als er Caroline auf das Bett gehoben hatte, zog Sarin ihr all die nassen Lumpen aus und warf sie ins Feuer. Er sah zu, bis sie Feuer fingen und die Flammen protestierend aufloderten, als sei eine böse Kraft in Brand gesetzt worden und kämpfe darum, ihre Macht zu behalten. Er wusch Carolines ganzen Körper mit einem in duftendes Kräuterwasser getauchten Lappen ab, wobei er jeweils den Teil, an dem er nicht arbeitete, züchtig mit einer leichten Decke bedeckte. Es beschämte ihn, gewisse Körperteile von ihr zu sehen; er hatte niemals eine völlig nackte Frau erblickt, nicht einmal seine Mutter, und er war jetzt zu alt, um von dem Anblick erregt zu werden, wie es vielleicht früher der Fall gewesen wäre. Als er die Schmutzschichten nach und nach entfernt hatte, konnte er ihre Haut sehen. So schrecklich weiß, zumindest da, wo sie keine dunklen Flecken hat, dachte er bei sich und fragte sich, wie es möglich war, so krank zu sein und trotzdem noch zu atmen.
Aus einer alten Holzkommode nahm er ein zartes weißes Nachthemd aus so dünnem Stoff, daß es fast durchsichtig wirkte. Er hob mit einer Hand Carolines Kopf und zog mit der anderen das Nachthemd darüber. Er mußte sich anstrengen, ihre schlaffen Glieder zu bewegen, um ihr das Hemd anzuziehen. Als er zufrieden war und es ihr so bequem wie möglich gemacht hatte, breitete er frische Laken über ihre schmale Gestalt. Dann faltete er ihr die Hände auf dem Bauch und legte einen Strauß getrockneter Kräuter hinein.
Er trat zurück und betrachtete sie nachdenklich. »Ich hoffe, Sie bekommen Ihre Schönheit zurück«, sagte er, darauf vertrauend, daß sie ihn nicht hören konnte. Dann wurde ihm klar, was er gerade gesagt hatte, und er betete still: Lieber Gott, ich wäre glücklich, wenn sie nur gesund würde. Das wäre mehr als genug. Er nahm an, daß ihr Überleben, falls es denn gewährt würde, kein isoliertes Geschehen, sondern Teil eines größeren Ziels sein würde.
Er seufzte laut, streckte die Hand aus und tätschelte tröstend Carolines Bein. Wenn ich es nur noch erleben könnte ... Würde sie noch jung sein, wenn es geschah, und vielleicht ein wichtiges Kind gebären? Oder würde sie eine alte Frau sein, alt wie er selbst, bevor ihr die Rolle deutlich wurde, die sie vielleicht zu spielen hatte?
Würde diese Frau, falls es ihm gelang, sie zu heilen, vielleicht selbst eine Heilerin werden? Er hatte immer gewußt, was von ihm erwartet werden würde, aber erst als er das Objekt seiner gut eingeübten Pflege vor sich hatte, begann er sich zu fragen, warum es so wichtig war, daß er Erfolg hatte. »Nun ja«, sagte er leise zu dem Hund an seiner Seite, »vermutlich hätte ich es ohnehin nicht begriffen.«
Der Raum war vom blassen Schein von Kerzen erhellt, denn seine Mutter hatte gesagt, zuviel Licht wäre schmerzhaft für ihre Augen, wenn sie sie wieder öffnete, und er sorgte sich, ihre Reaktion darauf könne ihn von seinen Aufgaben ablenken. Wenn er am Morgen noch bei ihr wachte, würde er die Läden schließen, um sie vor den harten Sonnenstrahlen zu schützen.
Im Dämmerlicht sah er, daß sie sich bewegte und trat sofort an ihr Bett. Er legte die Hand auf ihre Stirn; die Haut war zwar noch immer feucht, fühlte sich aber kühler an. Er war froh und dankbar, daß etwas, was er getan hatte, vielleicht die Kräuterwaschung, etwas zu ihrem Wohlbefinden beigetragen hatte.
»Ich wünschte, sie würden kommen«, sagte er zu dem Hund. Er schaute auf seine Taschenuhr und seufzte. »Es ist Zeit anzufangen.« Der Hund jaulte als Antwort leise, und Sarin atmete tief ein. »Dann werde ich ohne die anderen weitermachen müssen.« Er hoffte, er werde es gut machen.