30

 

Rosow führte sein erschöpftes Team von Biocops wieder ein kurzes Stück weit den Hügel hinunter und wies sie an, die gleichen Gassen nochmals abzusuchen. Sie waren jedem Hinweis gefolgt, den die erschrockenen Bewohner des Viertels ihnen gegeben hatten, aber dabei war nichts herausgekommen. Die Informationen, die sie erhalten hatten, waren nutzlos gewesen. Sie hatten sogar ein Paar Marginale kurz in Haft genommen, sie dann aber wieder gehen lassen, als sich herausstellte, daß ihre Inhaftierung nichts bringen würde. Rosow hatte das deutliche Gefühl, daß einer dieser Marginalen mit ihm spielte, ihn in die falsche Richtung zu lenken versuchte. Er wollte den Mann eigentlich zur weiteren Vernehmung behalten, doch sein Aussehen gefiel ihm nicht. Er war zwar tatsächlich so mager, wie einer der Zeugen den Mann, der den Einkaufswagen geschoben hatte, beschrieben hatte. Gleichzeitig aber war er so schwach und kränklich, daß er den beladenen Karren unmöglich hätte bergauf schieben können. Rosow fiel auf, daß der Mann unsicher auf den Beinen war und sogar beim Gehen Schwierigkeiten hatte. Vermutlich betrunken, dachte Rosow bei sich, und von der Leberzirrhose zerfressen. Widerstrebend hatte er ihn gehen lassen. Seine Frustration wurde noch gesteigert durch die Tatsache, daß kein Biocop mehr als acht Stunden hintereinander einen grünen Anzug tragen durfte. Diese verdammten Arbeitsgesetze, murmelte er enttäuscht vor sich hin, während er zusah, wie die Mitglieder des Teams die schweren grünen Uniformen ablegten; früher trugen die verfluchten Ritter ihre blutigen Rüstungen, bis der König ihnen sagte, sie könnten sie ausziehen!

Als die vorgeschriebene Ruhepause dann endlich zu Ende war, nahmen sie die Suche wieder auf, wo sie sie abgebrochen hatten, aber inzwischen war natürlich jede Spur völlig erkaltet. Es gab keine Abdrücke von Rädern, keine Fußabdrücke, keine Fetzen Zeitungspapier, die sie nicht untersucht hätten; jeder verdächtige Stein wurde aufgehoben und auf Anzeichen untersucht, ob der Marginale mit dem Karren ihn vielleicht passiert hatte. Vielleicht verstecken sie sich in einem dieser Häuser, dachte Rosow und musterte die ordentlichen Zeilen von Bungalows und Reihenhäusern, die beide Seiten des Hügels säumten, aber bei näherem Nachdenken kam ihm der Gedanke absurd vor. Es wurde sehr mißbilligt, wenn jemand Marginale aufnahm, und obwohl es strenggenommen nicht illegal war, war Rosow sicher, daß sehr wenige »normale« Menschen dieses Risiko auf sich nehmen würden. Trotzdem versuchten sie es bei ein paar Häusern, jagten den Bewohnern einen Schrecken ein und fanden absolut nichts.

Er wußte nicht einmal, ob das Paar, das er suchte, sich dessen bewußt war, daß es verfolgt wurde. Eine der Personen stand auf der Kippe oder war vielleicht schon darüber hinaus, vollkommen ungeeignet für die Komplikationen des modernen Lebens, ein Flüchtling von Natur aus. Und die andere war wahrscheinlich todkrank und inzwischen hilflos, vielleicht sogar tot. Eine Schande, daß sie sterben muß, so eine schöne junge Frau! dachte er. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß der Marginale, der den Karren geschoben hatte, die geistigen Fähigkeiten besaß, zwischen einem toten und einem sehr kranken Fahrgast zu unterscheiden, und sich wohl auch nicht dafür interessierte. Aber Rosow hatte keine Wahl; ob sie von seiner Existenz wußten oder nicht, er mußte sie finden und untersuchen und dann entscheiden, was mit ihnen zu geschehen hatte. Viele Leben hingen davon ab, wie ihm das gelang.

Und so führte der erschöpfte Lieutenant sein müdes Team in der Morgendämmerung wieder den Hügel hinauf, zurück auf das Feld, wo die Spuren endeten. Er unterteilte seine Leute in zwei Gruppen und schickte eine Gruppe um das Feld herum nach Westen; die andere führte er selbst ostwärts. Als sie ihre Suche begannen, erschien die Sonne gerade über dem Horizont. Es war eine lange Nacht gewesen, und er hoffte, daß der Tag erfolgreicher werden würde.

Sie standen wie ein nervöses Elternpaar über dem kindlichen alten Mann, der in dem Sessel zwischen ihnen schlief.

Bruce zog eines seiner Augenlider hoch und sah, daß die Pupille sich beim Lichteinfall zusammenzog. »Er ist vollkommen weg«, sagte er. »Als hätte er einfach dicht gemacht. Ich verstehe das nicht.«

»Ich auch nicht, aber ich glaube, wir müssen es allein zu Ende bringen.«

»Vielleicht sollten wir warten, bis er aufwacht. Er hat gesagt, er wolle sich nur ausruhen ...«

»Wer weiß, in welchem Zustand er sein wird, wenn er wieder zu sich kommt. Er hat bei dieser ganzen Sache immer wieder den Durchblick verloren«, sagte Janie. Sie schaute zu Caroline hinüber und dann auf Bruce, und ihr Gesicht hatte einen ängstlichen, drängenden Ausdruck.

»Wir haben das Buch«, sagte sie. »Er hat es ständig benutzt, um diese Sachen zu machen. Wie ein Kochrezept. Er hat gesagt, da gäbe es nur noch eines zu tun, und wir können nachlesen, was darüber in dem Buch steht. Mehr hat er auch nicht getan. Er hat nachgelesen.« Ihre Stimme klang nun noch besorgter. »Es ist ja nicht so, als hätte er irgendeine magische Kraft, über die wir nicht verfügen.«

»Janie, wir wollen nichts überstürzen . was ist, wenn wir dabei einen Fehler machen?« Er schaute hinüber zum Nachttisch und verstummte auf einmal.

»Was ist?« sagte Janie.

»Da sind noch zwei Dinge übrig.« Er zeigte darauf.

Das eine war eine Flasche mit trüber Flüssigkeit von gelblicher Farbe; sie war mit einem sehr alten, trocken aussehenden Korken verschlossen. Das andere war ein kleiner Beutel, der irgendein Pulver enthielt.

»Es ist von beidem nicht viel da . was ist, wenn wir einen Fehler machen?«

»Wenn dieser senile alte Mann keinen Fehler gemacht hat, warum sollten wir es dann tun? Meine Güte, er kann doch kaum lesen.«

Sie nahm das Buch zur Hand und betrachtete die aufgeschlagene Seite. Auf dem vergilbten Papier befanden sich zwei verschiedene Schriften, eine verblichen und alt, krakelige Buchstaben mit unterschiedlichem Druck geschrieben. Janie überflog sie und fühlte sich dabei schrecklich entmutigt. »O Gott, vielleicht hast du recht . ich glaube, ein Teil davon ist Französisch ...«

Dann bewegten sich ihre Augen zu der anderen Schrift, die eindeutig von einer moderneren Hand stammte. Dort waren die Buchstaben winzig, aber lesbar, und ein Abschnitt war eindeutig auf Englisch geschrieben. Er war um das alte Französisch herumgekritzelt, und hier und da erkannte Janie in beiden Schriften die gleichen Wörter. »Das muß eine Übersetzung sein«, sagte sie. Sie schöpfte wieder Hoffnung, las die kleingeschriebenen Wörter und erkannte, daß es sich um Anweisungen für die Dinge handelte, die sie bereits getan hatten. Ihre Erregung wuchs, und sie zeigte auf eine bestimmte Stelle der englischen Schrift. »Schau, da haben wir aufgehört .«

Bruce las über ihre Schulter hinweg mit. »Das Fleisch und die Knochen derer, die längst tot sind«, sagte er laut. »Das Haar des Hundes ...«

Sie legte Bruce das Buch in die Hände und nahm den kleinen Beutel mit dem Pulver. Etwas davon staubte heraus, als sie die Schnur löste, mit der der Beutel verschlossen war, und sie roch daran. Dann wandte sie den Kopf ab und nieste heftig. »Es riecht scheußlich«, sagte sie mit einer Grimasse und rieb sich die Nase.

Doch dann wich die Grimasse nach und nach einem erregten Ausdruck. »Aber weißt du was? Das hier ist >das Haar des Hundes, der dich gebissen hat<. Antikörper. Es könnte tatsächlich wirken!«

»O mein Gott . du hast recht .« Er betrachtete die Seite, die er vor sich hatte, und las weiter. Seine Augen wanderten gespannt von Zeile zu Zeile. »Also, dann laß uns wieder an die Arbeit gehen! Hier steht, daß wir die Flüssigkeit und das Pulver vermischen sollen. Dann sollen wir selbst etwas von dem Zeug einnehmen. Da steht, es würde uns >vor den Verheerungen der Seuche schützen< .«

»Ich hole etwas aus der Küche, worin wir es mischen können.« Sie lief hinaus, während Bruce weiterlas, und kam ein paar Augenblicke später mit einem Löffel und einer kleinen Schüssel zurück.

»Also«, sagte sie beinahe atemlos, »wie mische ich das? Ist ein Verhältnis angegeben?«

»Ja, warte, dazu komme ich jetzt .« Er begann, laut vorzulesen. »Vermische vier Knöchel Pulver mit einer hohlen Hand voll von der Flüssigkeit .«

»Vier Knöchel? Eine hohle Hand?«

»Janie, ich erfinde das nicht. Es steht hier .« Er hielt ihr das Buch hin. »Wenn du selber nachlesen willst .«

»Macht nichts. Ich glaube dir. Ich würde im Augenblick alles glauben, wenn es bloß funktioniert .«

Sie schüttete eine kleine Menge Pulver in die Schüssel und hielt dann eine Hand mit leicht abgeknicktem Finger daneben; sie kam zu dem Schluß, daß die Menge reichen müßte. Als sie versuchte, den Korken aus der Flasche zu ziehen, begann er zu zerbröckeln, und sie mußte ihn in zwei Teilen mit dem Fingernagel herauskratzen. Sie füllte eine hohle Hand mit der gelblichen Flüssigkeit, die nach sumpfigem Wasser roch, und ließ sie dann zu dem Pulver in der Schüssel laufen. Sie rührte das Ganze mit dem Löffel um, und die entstehende Mischung war ein lockerer Brei, ganz ähnlich wie Teig für Maisbrot.

»Wieviel sollen wir nehmen?«

Er schaute wieder in das Buch. »Das steht da nicht.«

»Dann müssen wir raten. Okay, wir nehmen jeder einen Löffel voll.« Sie löffelte etwas von dem Brei auf und streckte Bruce den Löffel hin. »Mach den Mund weit auf«, sagte sie.

Er warf einen vorsichtigen Blick auf das Zeug auf dem Löffel und sah Janie dann unsicher an.

»Aufmachen«, sagte sie, und als er gehorchte, schob sie ihm den ganzen Löffel in den Mund.

»Igitt!« sagte er mit einer Grimasse. Er schluckte schwer und wischte sich dann mit einer Hand den Mund ab. »Dieses Zeug schmeckt wie flüssiges Stinktier!« Er legte die andere Hand auf seinen Magen und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich es bei mir behalten kann .«

Janie hielt sich die Nase zu und nahm selbst die entsprechende Dosis ein; sie schmeckte so gräßlich, wie Bruce gesagt hatte, und hinterließ einen Nachgeschmack, der an Erde erinnerte.

»Furchtbar«, sagte sie. »Wie zum Teufel soll Caroline das bei sich behalten?«

»Ich glaube, das größere Problem wird sein, ihr das Zeug einzuflößen. Ich weiß nicht, ob sie noch fähig ist zu schlucken. Und selbst wenn wir eine Spritze hätten, es gibt keine Möglichkeit, das Zeug irgendwie aufzulösen. Es ist einfach zu körnig. Sie wird es schlucken müssen.«

Bruce rührte in der Schüssel und versuchte, Caroline einen Löffel von dem Inhalt in den Mund zu schieben. Er rieb mit der Spitze des Löffels an ihrer Oberlippe in der Hoffnung, sie würde den Mund aufmachen, aber das tat sie nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen sah er Janie an und sagte: »Ich glaube nicht, daß es klappen wird.«

»Los, laß es mich versuchen.« Sie nahm ihm die Schüssel und den Löffel aus der Hand und setzte sich statt seiner auf den Stuhl.

»Komm, Caroline ...«, sagte sie. »Mach für mich schön weit den Mund auf.« Doch das, was Babys zum Essen bewegte, löste bei der erwachsenen Caroline keinerlei Reaktion aus. Sie hielt die Lippen geschlossen.

»Vielleicht hat Sarin einen Trichter«, sagte Bruce. »Ich gehe nachsehen.«

Doch er kam mit leeren Händen aus dem Hauptraum zurück. »Ich konnte keinen finden. Wir werden ihn wecken müssen.«

Janie nickte. Sie wußten, daß sie nicht länger warten konnten.

Sanft legte Bruce eine Hand auf Sarins Schulter und wollte ihn schütteln, doch kaum berührten seine Finger den Körper des alten Mannes, da wußte Bruce, daß der Funke des Lebens ihn verlassen hatte. Der Körper war noch warm, aber die Energie, die Lebenskraft, das Wesen war nicht mehr da. Nur noch der Leib. Langsam zog er die Hand zurück.

»Janie«, sagte er leise, »er ist gestorben.«

Janie stand auf und kam von Carolines Bett zu Bruce. Sie legte die Finger auf das Handgelenk des alten Mannes und suchte vergeblich nach einem Puls. »Jetzt sind wir wirklich auf uns gestellt«, sagte sie.

Sie standen einen Augenblick über den alten Mann gebeugt, als wollten sie die Totenwache halten. »Er verdiente mehr als das«, sagte Janie, »aber im Moment .«

»Ich weiß«, sagte Bruce. »Wir müssen weitermachen. Ich brauche noch immer einen Trichter.«

Doch eine weitere schnelle Suche in der Küche war vergeblich, und er fand auch nichts, was er statt dessen hätte benutzen können ... Da fiel Janie eine andere Möglichkeit ein. »Wir können aus Papier einen Trichter rollen. Ich habe das manchmal getan, um Kuchen zu verzieren, als ich ein kleines Mädchen war. Wir können den Trichter oben zukneifen und dann ausdrücken wie eine Tube.«

Doch die Mischung war zu klebrig und verstopfte fast sofort den Papiertrichter.

Plötzlich sagte Bruce: »Verdammt! Warum ist mir das nicht früher eingefallen!«

»Was denn?«

»Im Auto ist ein Kondenswasserschlauch für die Klimaanlage. Wir könnten Caroline intubieren und dieses Zeug in ihren Magen tropfen lassen.«

Er war blitzschnell aus der Tür gelaufen, ehe Janie auch nur etwas sagen konnte.

Er rannte den Weg hinunter, vorbei an den Eichen, zu seinem Wagen. Als er sich dem Fahrzeug näherte, fesselte etwas in der Ferne seine Aufmerksamkeit. Er blieb stehen und schaute über das Feld.

Er kämpfte sich durch den Wind zwischen den Bäumen, rannte ins Haus zurück und rief nach Janie, die gerade Carolines Stirn abtupfte. Sie blickte auf und sah, daß er ihr winkte, ihm zu folgen. Sie gehorchte, und zusammen gingen sie nach draußen.

»O mein Gott!« sagte sie, als sie in der Ferne die Biocops erblickte. »Wie haben sie uns gefunden? Woher wissen sie es überhaupt

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er, »aber ich glaube, wir sollten besser Caroline nehmen und von hier verschwinden.«

»Wohin denn?«

»Wir müssen in meine Wohnung. Ich hoffe bloß, daß da keiner auf uns wartet.«

»Was ist mit Ted?«

»Wir lassen ihn hier bei Sarin und dem Hund. Janie, wir müssen dieses Haus verbrennen. Es wäre sowieso eine Infektionsquelle.«

Sie sah ihn ernst an und fragte sich, ob all das jemals enden würde. »In Ordnung«, sagte sie. »Tun wir das.«