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Janie und ihre Assistentin saßen an einem kleinen, runden Tisch in ihrem Londoner Hotelzimmer, einer funktionell eingerichteten kleinen Suite mit Miniküche und Sitzecke. Der Tisch war dazu gedacht, die unerläßlichen Utensilien für eine Teestunde aufzunehmen und nicht ein ganzes wissenschaftliches Forschungsprojekt. Er floß über von Stapeln ungeordneter Papiere, die schließlich folgerichtig sortiert und zu einer Doktorarbeit zusammengeschrieben werden sollten, von der Janie aufrichtig hoffte, daß sie dem kritischen - aber, wie sie zugeben mußte, fairen - Blick ihres Doktorvaters in Massachusetts standhalten würde.

»Wenn John Sandhaus dieses Chaos sehen könnte, würde er einen hysterischen Anfall kriegen«, sagte Janie.

»Tut mir leid«, sagte ihre Assistentin mit verletztem Blick.

»Nein, ich will damit nicht sagen, daß es Ihr Fehler ist«, fügte Janie rasch hinzu. »Ich wußte, daß es Berge von Papier geben würde. Es ist bloß so, daß es im Augenblick nicht gerade den >karrie- refördernden< Eindruck macht, den ich mir erhofft hatte. Es sieht aus wie eines meiner frühen Projekte an der medizinischen Fakultät. Völlig chaotisch.« Sie arbeitete sich durch die Papierstapel und suchte ein bestimmtes Stück, von dem sie annahm, es würde vierfach gefaltet sein, weil es so groß war. Während sie sich durch die verschiedenen Genehmigungsschreiben, geographischen Untersuchungen, Computerausdrucke und andere einzelne Kritzeleien auf gepreßter Zellulose wühlte, wurde ihr klar, daß so ungefähr alles, wovon sie angenommen hatte, es werde bei ihrer Ankunft getan sein, in der Tat fertig war.

Sie fand, was sie gesucht hatte, und faltete es über dem Rest der daliegenden Papiere auseinander. Es handelte sich um eine detaillierte geographische Karte eines Teils von London, von dem ein gutes Stück von dem Großen Feuer von 1666 betroffen gewesen war. Im Rahmen ihrer endgültigen Doktorarbeit würde Janie den chemischen Gehalt des Bodens in dem abgebrannten Teil mit dem des nicht abgebrannten vergleichen, und die letzten Grabungsstellen waren sorgfältig in die vor ihr liegende Karte eingezeichnet. Die meisten waren mit einem roten »X« markiert, was anzeigte, daß die Grabungserlaubnis erteilt und der notwendige Papierkram bereits erledigt war; ein paar waren mit einem grünen »X« versehen, was bedeutete, daß die Genehmigung mündlich bereits vorlag, die Papiere aber noch eingeholt werden mußten.

»Meine Güte, ich sehe, Sie hatten ganz schön zu tun«, sagte sie. »Wirklich, Caroline, das ist gute Arbeit.«

Caroline Porter strahlte, erfreut, daß Janie anerkannte, welches Wunder an Organisation sie vollbracht hatte. »Ich weiß, wenn man sich dieses Durcheinander anguckt« - sie wies auf den Tisch - »dann sieht es nicht nach viel aus. Ich hatte gehofft, alles in einen Ordner zu kriegen, bevor ich Sie vom Flughafen abholte, aber das klappte einfach nicht.« Sie lachte ein bißchen. »Ich hatte mich darauf verlassen, daß Ihre Maschine Verspätung haben würde.«

Janie lächelte. »Heutzutage meistens eine ziemlich sichere Wette. Aber der Flug verlief reibungslos. Gott sei Dank, weil die Frau, die neben mir saß, eine echte Quasselstrippe war. Am Ende habe ich einfach meine Kopfhörer ausgemacht. Ich wünschte, die Benimmvorschriften für diesen Kram wären besser entwickelt.«

»Vielleicht sollten Sie sich über E-Mail an eine zuständige Briefkastentante wenden.«

Janie lachte. »Liebe Briefkastentante: Wie kann man mit angemessenem Feingefühl und Empathie seine unhöfliche und entnervende Nachbarin im Flugzeug zum Schweigen bringen?«

»Liebe Leserin«, sagte Caroline, »man kann solchen Langweilern höflich mit der Schnalle des Sitzgurts auf den Kopf hauen.«

»Aber dann sind alle anderen Passagiere sauer auf mich, weil der Sitzgurtalarm losgeht.«

Caroline grinste. »Wenn wir erst die Welt regierten, würde keiner vor so einem Dilemma stehen ... aber zurück zu unserem näherliegenden Dilemma.« Sie zeigte auf zwei Stellen auf der Karte. »Diese beiden Eigentümer sind nicht da; einer soll morgen zurückkommen, der andere nach dem Wochenende. Ich habe beiden Nachricht hinterlassen.« Dann seufzte sie. »Aber der hier ...«, sie wies auf ein kleines, unbebautes Gebiet südlich der Themse, »wird eine harte Nuß. Er heißt Robert Sarin. Er ist ein sehr alter Mann, und er ist der >Wärter<, was immer das sein mag, dieser Gegend.« Sie zog mit dem Finger auf der Karte einen Kreis darum. »Das könnte das Haar in der Suppe sein. Ich habe gestern ziemlich ausführlich mit dem Mann geredet, bevor ich Sie in Heathrow abgeholt habe. Er rührt sich einfach nicht von der Stelle. Und dabei scheint er keinen wirklich guten Grund zu haben, die Erlaubnis zu verweigern. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich glaube, er hat nicht alle Tassen im Schrank. Kommt mir ein bißchen schwer von Begriff vor.«

»Glauben Sie, es würde helfen, wenn ich selbst mit ihm rede?«

Caroline dachte einen Moment nach, bevor sie antwortete. »Kann sicher nichts schaden. Aber ich weiß nicht, warum er Ihnen die Erlaubnis geben sollte, wenn er sie mir nicht geben will. Er kennt keine von uns. Vielleicht sollten wir ihm von all den anderen Leuten erzählen, die eingewilligt haben.«

»Gute Idee. Vielleicht ist ihm wohler, wenn er weiß, daß er in guter Gesellschaft ist, wenn er uns graben läßt.« Sie kramte in den Papieren, bis sie die Liste der Grundbesitzer fand. »Lady Sowieso, Lord Sowieso, Zehnter Earl von Ichweißnichtwas . ziemlich eindrucksvoller Verein, finden Sie nicht?«

»Ja, eindrucksvoll«, sagte Caroline. »Aber ich weiß nicht, ob Ihnen das helfen wird. Ich glaube, dieser Sarin wird eine harte Nuß.«

Janie runzelte die Stirn. »Ich kriege Kopfschmerzen«, sagte sie. »Scheiße.«

»Ich hab Ibuprofen«, bot Caroline lächelnd an. Janies Augenbrauen hoben sich vor Überraschung. »Wie haben Sie das durch den Zoll gekriegt?« fragte sie.

»In der Zehenspitze von einem Schuh. Ich hab vier Paar mitgebracht, aber er hat nur zwei kontrolliert.«

»Na, herzlichen Glückwunsch. Aber lassen Sie sich nicht dabei erwischen.«

»Hab ich auch nicht vor. Ich hole Ihnen ein paar.« Sie ging nach nebenan in ihr Zimmer und kam nach weniger als einer Minute zurück. Sie reichte Janie drei Tabletten und goß ihr ein Glas Wasser ein.

Janie schluckte sie schnell und lehnte sich dann auf ihrem Stuhl zurück, als erwarte sie, ganz bald von einem wundervollen Hochgefühl durchflutet zu werden. »Ah, Drogen«, sagte sie seufzend. »Irgendwie finde ich, die Drogen, die wir früher hatten, machten viel mehr Spaß als diese.«

Caroline grinste. »In der >guten alten Zeit<?«

Janie sagte nichts, sondern antwortete mit einem kurzen und sehr angestrengten Lächeln. Innerlich sah sie ihr hübsches Heim in den Ausläufern der Berkshire Mountains vor sich, ihren Mann und ihre Tochter, die von einer Schaukel auf der Veranda lächelten, während sie vor und zurück schwangen; sie hörte das Summen von Maikäfern und spürte die schwüle Hitze eines neuenglischen Sommers. Rasenmäher und vor Wonne kreischende Kinder, die unter dem Wasserstrahl von Sprink- lern durchliefen. Wäsche. Winterreifen, das morgendliche Badezimmerritual von drei Menschen, die daran gewöhnt waren zusammenzuleben. Dann verblaßte es, und sie war wieder allein.

»Janie, es tut mir leid . ich wollte nicht .«

Janie versuchte, Carolines Besorgnis mit einer Handbewegung abzutun. »Schon in Ordnung, Caroline«, sagte sie. »Das Leben geht weiter. Und Sie brauchen nicht auf Zehenspitzen um mich herumzugehen. Ich erwarte nicht von Ihnen, daß Sie jedes Wort, das Sie zu mir sagen, vorher auf die Goldwaage legen. Wir haben auch ohne das genug, worüber wir uns Gedanken machen müssen.« Sie blickte wieder auf und lächelte. »Und danke für das Ibuprofen«, sagte sie. »Ich weiß es zu schätzen, daß Sie mir ein bißchen von Ihrem Vorrat abgeben.« Dann wandte sie wieder den Blick ab.

»Kein Problem.«

Ein paar Augenblicke lang herrschte ein kurzes, aber unbehagliches Schweigen. Endlich brach Janie es, indem sie sagte: »Okay, einen Kopfschmerz haben wir jetzt erledigt. Gehen wir zum nächsten.«

»Also«, sagte Caroline. »Der halsstarrige Mr. Sarin.«

Janie seufzte tief. »Er könnte wirklich das ganze Projekt vermasseln. Ich brauche diese Bodenprobe.« Mit zwei Fingern deutete sie vor Carolines Gesicht einen engen Abstand von anderthalb Zentimetern an. »Ich bin so nah dran, mein Zertifikat zu kriegen. Und ich bin es wirklich allmählich satt, arbeitslos zu sein.«

»Vielleicht könnten Sie John Sandhaus anrufen und sehen, ob er Sie die Grabungsstellen ändern läßt.«

Während sie die Papierstapel zusammenräumte, sagte Janie: »Atilla den Ratgeber? Keine Chance. Er wollte nicht mal, daß ich überhaupt nach London komme. >Warum können Sie nicht hier was zu tun finden?< hat er mich gefragt. Er würde mich liebend gern zurückholen und mich irgendwo in den Staaten was ausgraben lassen.«

»Man macht Ihnen diese Sache nicht leicht, was?« sagte Caroline.

»Nein«, antwortete Janie seufzend. »Aber lassen Sie mich darüber gar nicht erst nachdenken. Ich hab nicht genug Zeit, um mich heute drin zu suhlen.« Dann wurde sie ernster und intensiver. »Ich sag Ihnen was«, sagte sie. »Wir fangen heute nachmittag mit den ersten Grabungen an. Was du heute kannst besorgen . « Sie zeigte auf mehrere X-Zeichen in einer Londoner Gegend. »So kriegen wir die Proben zur Analyse ins Labor, und ich hab das Gefühl, daß ich wirklich was geleistet habe.«

Sie wühlte einen anderen Papierstapel durch und sagte dann: »Ich nehme an, Sie haben die Berechtigungspapiere für das Labor irgendwo hier drin .«

Caroline bewegte ein oder zwei Dinge und zog dann eine Reihe von Blättern heraus, die an einer Ecke zusammengeheftet waren. »Sie haben im falschen Stapel nachgesehen«, sagte sie lächelnd.

»Super«, sagte Janie, nahm Caroline die Papiere ab und stopfte sie in ihre Aktenmappe. »Und wenn wir schon mal draußen sind, fahren wir vorbei und schauen uns dieses Feld an. Vielleicht sollten wir einfach loslegen und die Markierung anbringen, wenn wir es tun können, ohne daß dieser Mr. Sarin uns sieht, nur für alle Fälle. Ist die Stelle geographisch so, daß wir uns unbemerkt hinschleichen können?«

»Es gibt ein paar große Bäume, und ringsum ist eine Art Dickicht. Ich würde es nicht direkt als Wald bezeichnen, aber die Stelle ist ziemlich abgeschieden. Ich denke, die Grabungsstätte wird ziemlich weit von der Hütte entfernt sein.«

»Dann sollten wir’s riskieren, denke ich. Und wenn wir erst dort sind, fällt mir vielleicht ein, wie ich diesen Burschen dazu bewegen kann, es sich anders zu überlegen.«

Frustriert knallte Janie ihren Stift so fest auf die Tischplatte, daß er fast zerbrach, und prellte sich dabei die Finger. Das war ein ungewöhnlicher Temperamentsausbruch für eine Frau, die sich sonst so beherrschte, aber sie fand ihn völlig gerechtfertigt. Als der ältliche Wärter des Geländes auch ihr höflich, aber bestimmt die Erlaubnis zu graben verweigert hatte, ohne eine Erklärung dafür zu geben, hatte sie ihn fast angefleht, und dann hatte sie jeden angerufen, der ihr einfiel und vielleicht die Autorität hatte, ihn dazu zu zwingen. Ihr Ohr schmerzte nach einem Tag fruchtloser Telefonate; in allen tausend Ministerien Englands konnte sie keine Menschenseele finden, die bereit war, etwas gegen Sarins starrsinnig unbewegliche Haltung zu unternehmen.

Was sie am meisten ärgerte, war die ständige Weigerung des alten Wärters, ihr eine Erklärung für seine Ablehnung zu geben. Nachdem sie bei der Feldarbeit des gestrigen Tages diese bestimmte Stelle gesehen hatte, konnte sie nicht sagen, daß sie irgend etwas schrecklich Kostbares an sich hatte; es war einfach ein gewöhnliches Feld, ganz leicht abschüssig, mit einer Menge Unkraut, wild wuchernden Büschen und einigen wenigen bemerkenswerten Felsen. Es gab eine alte, strohgedeckte Steinkate am hinteren Ende des Feldes, in der, wie Janie annahm, der Wärter wohl lebte; das einzig auffällige Merkmal waren zwei Eichen, fast kahl, die zu beiden Seiten der unasphaltierten Zufahrt wuchsen und über ihr zusammentrafen, wo sie sich zu einer uralten Umarmung vereinigten. Es war ein traurig und müde aussehender Ort, nicht malerisch und bezaubernd, wie sie erwartet hatte. »Ich weiß nicht, was er denkt, welche Art von Wartung er da ausübt«, hatte sie zu Caroline gesagt. »Das hier ist nicht gerade Kensington Gardens.«

Janie ging zum Kühlschrank in ihrer kleinen Hotelsuite und nahm eine reife Nektarine heraus. Mit einem kleinen, scharfen Messer schnitt sie vorsichtig durch die glatte, bernsteinfarbene Schale und war entzückt festzustellen, daß sie gut gewählt hatte, denn das reife Fleisch ließ sich sanft und fast mühelos vom Kern lösen. So ein schlichtes Vergnügen, dachte sie; eins der Dinge, die man für selbstverständlich hält, bis sie nach all den Veränderungen schwer zu bekommen sind. Die Frucht war wunderbar saftig; sie mußte gleichzeitig saugen und beißen, damit der Saft nicht auf ihre Kleidung tropfte. Sie aß langsam, genoß den süßen Saft und erinnerte sich an eine Zeit, als sie zwei oder drei solcher Pfirsiche am Tag gegessen hätte, ohne sich auch nur eine Sekunde Gedanken zu machen, wo sie herkamen. Sie leckte ihre Finger ab, wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und griff nach dem Telefon. Dann wählte sie die englische achtstellige Nummer, wonach ihr amerikanischer Zeigefinger fast automatisch noch eine neunte Ziffer eintippen wollte.

Das Telefon klingelte zweimal schnell hintereinander; sie konnte es beinahe durch die Wand zwischen ihrem und Carolines Zimmer hören. Dann erklang die vertraute Stimme. »Hallo?«

»Passen Sie genau auf, Schätzchen, hier ist Ihr Boß, und ich bin, wie man hierzulande sagt, verdammt mieser Laune.«

»Na, großartig. Genau, was ich heute brauche, einen mißgelaunten Boß. Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Dasselbe wie gestern«, sagte Janie. »Bureauc- ratia nervosa. Therapie nicht bekannt. Unweigerlich tödlich.«

»Erzählen Sie ihm von Zwangsvasektomie, Madame Chirurgin.«

Janie kicherte. »Ich weiß nicht, ob sie das in England schon machen. Und ich bin keine Chirurgin mehr, falls Sie das vergessen haben, was der Grund ist, warum ich dieses saudämliche Projekt überhaupt mache. Ich hätte auf John hören und zu Hause was ausgraben sollen. Ich glaube, wir werden unserem Mr. Sarin einfach einen Besuch abstatten müssen.«

Der alte Wärter schloß vorsichtig das empfindliche Buch, als er das Geräusch des herannahenden Wagens hörte. Er zog den Spitzenvorhang zur Seite und schaute durch das unebene Glas im Fenster seiner alten Kate hinaus. Er beschirmte seine Augen gegen das spätnachmittägliche Licht und versuchte, das Feld jenseits der alten Eichen mit den Augen seiner ankommenden Besucher zu sehen. Was sehen sie? fragte er sich und war auf einmal nervös; woher können sie es wissen?

Sein Hund stand neben ihm, den Kopf neugierig schräggelegt, und fragte sich, wonach sein Herr schauen mochte. »Sie sind hier, alter Knabe«, sagte der alte Mann und tätschelte dem Hund den Kopf. »Sie sind endlich hier.«

Er beobachtete die beiden Frauen aufmerksam, als sie aus ihrem Mietwagen stiegen. Sie waren beide gut gekleidet, und er dachte, daß sie irgendwie wohlhabend aussahen. Die Größere war eindeutig älter als die Kleinere; ihr Haar war kinnlang und dunkel, lässig geschnitten und an den Schläfen von etwas Grau durchzogen. Sie hatte ein angenehmes Gesicht, doch einen Ausdruck von stillem Kummer; er sah die vielsagenden winzigen Linien zwischen ihren Augenbrauen und fragte sich, worüber sich diese gutaussehende und offensichtlich mit allen Gütern gesegnete Frau grämen mochte. Sie hatte lange, schlanke Finger, bemerkte er, und ihre Hände bewegten sich anmutig, als sie eine Landkarte auseinanderfaltete. Die andere, klein und rothaarig, kam ihm jugendlich vor, und ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht machte einen viel weniger belasteten Eindruck. Die eine führt, die andere folgt, dachte er.

Er sah sie zusammen näher kommen, und aus der Nähe schienen die Unterschiede zwischen ihnen ausgeprägter. Einen Augenblick lang studierten sie die Karte, zeigten hierhin und dorthin und wechselten ein paar Worte, die er nicht hören konnte. Dann kamen sie die Zufahrt herauf, beide etwas unsicher auf ihren eleganten Schuhen, als sie über die abgetretenen Steine zur Tür der Kate schritten. Er lächelte, da ihr Aussehen ihm gefiel, und ge- stand sich ein, daß er begierig nach ein bißchen Gesellschaft war. Er hatte im Laufe der Jahre nur wenige Freunde gewonnen; jetzt waren die engsten davon ganz einfach am Alter gestorben, und der Wärter hatte kaum noch Gelegenheit, hin und wieder sein Bedürfnis nach Gesellschaft zu stillen.

Er war zum Kaufmann gegangen und hatte eine Büchse Kekse gekauft, ein seltenes Festmahl in seinem normalerweise armseligen Haushalt, und hatte das beste Leinen und das beste Service hervorgeholt. Er hatte die Servietten anders falten müssen, um ein paar Flecken zu verbergen; er hoffte, daß sie sie nicht bemerken würden, wenn sie sie benutzten. Während er die Reliquien angemessener Gastfreundschaft ausbreitete, war ihm in den Sinn gekommen, daß dies vielleicht seine letzten Besucher sein würden. Obwohl er einsam und isoliert aufgewachsen war, war seine Erziehung doch ganz ordentlich gewesen; er war traurig, daß er ihnen das, weswegen sie gekommen waren, nicht geben konnte, aber entschlossen, ihnen diese Enttäuschung so elegant wie möglich beizubringen. Er wünschte sich nur, er hätte besser gewußt, wie man dieses Heim pflegt, nachdem nun seine Mutter nicht mehr da war: Er hatte es nicht richtig geputzt, und es fing allmählich an, etwas unordentlich auszusehen.

Endlich kam das erwartete Klopfen. Er verließ das Fenster und schlurfte zu der Tür aus Holzbohlen. Er öffnete sie und sah zwei sehr weiblich und erwartungsvoll lächelnde Gesichter.

»Mr. Sarin? Robert Sarin?« fragte die Große.

»In der Tat.« Er lächelte und nickte.

»Ich bin Janie Crowe, und das ist meine Assistentin Caroline Porter.«

»Kommen Sie bitte herein«, sagte er mit einer Handbewegung. Die Große mußte den Kopf senken, um einzutreten; die Kleine trat behende und ungebeugt über die Schwelle. Er winkte ihnen, Platz zu nehmen, doch als sie zu den Stühlen gingen, bemerkte er, daß lauter Sachen darauf lagen. Er schlurfte hin und sagte: »Oh, Verzeihung, lassen Sie mich das wegräumen.« Und rasch schaufelte er weg, was er konnte, ein Paar Socken und einen Pullover, die Hundeleine, die er nicht an die Wand gehängt hatte, wie seine Mutter es immer tat, einen schmutzigen Teller mit einer daraufliegenden Gabel. Als alle bequem saßen, wurden Höflichkeiten getauscht, und sie teilten sich die bescheidenen Erfrischungen.

»Mr. Sarin«, sagte Janie, als alle ihre Teetassen wieder auf die Untertassen gestellt hatten, »ich bin dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben, diese Angelegenheit weiterzuverfolgen. Wie ich Ihnen am Telefon erklärte, führe ich eine archäologische Untersuchung dieses Teils von London durch.« Sie nickte in Carolines Richtung. »Miss Porter hilft mir dabei. Wir brauchen eine einen Meter tiefe Probe von etwa zehn Zentimetern Durchmesser, die in Schichten zerlegt und zu wissenschaftlichen Forschungszwecken analysiert wird.«

Wissenschaftliche Forschung, dachte sie bei sich. Das war das wirksamste Lockmittel in ihrem Überredungsrepertoire. Aus Erfahrung wußte Janie, daß sehr wenige Leute dem Gefühl von Wichtigkeit durch Teilnahme an »wissenschaftlicher Forschung« widerstehen konnten. Zu ihrer Enttäuschung hatte sie auf Sarin nicht den gewünschten Effekt.

Er stellte seine Tasse wieder auf die Untertasse und räusperte sich. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid. Aber wie ich Ihnen schon sagte, ich fürchte, das wird ganz unmöglich sein.«

Unwillkürlich runzelte Janie die Stirn. »Mr. Sarin, wenn ich diese letzte Probe nicht bekommen kann, dann sind all meine bisherigen Resultate wertlos. Das ist sehr wichtig für mich. Ich bin sicher, Sie wissen, wie schwierig es heutzutage ist, zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu reisen. Darf ich fragen, warum Sie mir die Erlaubnis nicht geben können? Ihre Einstellung erscheint mir angesichts der schlichten Bitte, die ich an Sie richte, sehr rigide.«

Ein unbehaglicher Moment des Schweigens folgte; er kämpfte mit sich darum, was er ihr vernünftigerweise als Erklärung anbieten konnte. Er wußte, im Denken war er nicht gut. Das hatte seine Mutter ihm gesagt. Er würde ihnen jetzt als alter Mann die Gründe nennen, die er in seiner Kindheit auswendig gelernt hatte und die zu benutzen er bisher niemals Gelegenheit gehabt hatte. Er konnte nicht erwarten, daß sie sie verstehen würden; er verstand sie manchmal selbst nicht, obwohl er sein ganzes Leben mit dem Studium dieses Ortes und seiner Geschichte zugebracht hatte. Es gab Tage, an denen er viele Stunden darauf verwendete, sich nach der Pflege zu fragen, die im Laufe der Jahrhunderte diesem steinigen Feld zuteil geworden war. Ein Ast fiel herunter, und er wurde nachts weggebracht. Irgendwie wurden die Eicheln immer aufgesammelt, obwohl er selbst sich nie darum kümmerte. Andere Menschen als er, Menschen, die er selten sah und kaum kannte, widmeten sich ebenfalls dieser Aufgabe.

»Mrs. Crowe«, begann er vorsichtig, denn er wünschte sich sehnlichst, die Sache mit dem Erklären gut zu machen, »niemand hat den Boden hier jemals gestört. Es ist eine Bedingung des Testaments, mit dem der Besitz der Stadt London übertragen wurde, daß die Erde niemals angerührt würde. Dieses Häuschen und der Garten unmittelbar darum wurden erbaut, bevor es zu der Übertragung kam, und sie sind von den Einschränkungen ausgenommen, aber seither ist nichts dergleichen getan worden.«

Im Geiste ging Janie ihre Optionen durch. An solche Hindernisse war sie nicht gewöhnt. Sarins Weigerung schien das Gewicht irgendeiner ungenannten höheren Autorität in sich zu tragen, und sie war ziemlich ratlos.

»Hat man Ihnen je den Grund für diese Einschränkung genannt? Sie erscheint mir ziemlich extrem.«

Er antwortete diplomatisch, diplomatischer, als man von einem Mann mit seinen begrenzten Fähigkeiten erwartet hätte. »Was der Grund ist, kann ich nicht sagen.« Will ich nicht sagen, dachte er bei sich, obwohl er den Grund so gut kannte wie den Vornamen des Königs. »Ich fürchte, auf diesem Gebiet werde ich Ihnen keine große Hilfe sein.«

Das folgende Schweigen hatte etwas lastend Endgültiges. Von hier aus ging es nicht weiter; es war das Mandat einer längst verstorbenen Person, gegen das der Wärter nicht verstoßen konnte, selbst wenn er dazu geneigt wäre, und Janie bezweifelte, daß er das war. Sie stellte ihre Teetasse auf den Tisch und stand langsam auf, während sie ihren Rock glattstrich; Caroline tat es ihr nach und erhob sich ebenfalls; ihre Blicke wechselten ängstlich zwischen Janie und dem Wärter hin und her.

Sie wartete darauf, wer den nächsten Schritt tun würde. Der alte Mann blieb noch einen kurzen Moment sitzen, nachdem sie aufgestanden waren, starrte zur Seite und vollführte kleine Bewegungen mit den Lippen, eine Art lautloser Sprechproben. Caroline sah Janie an, die mit einem Achselzucken ihre Verwirrung kundtat.

»Ja, dann«, sagte Janie in der Hoffnung, seine Aufmerksamkeit zu erregen, »ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Gastfreundschaft. Vielleicht treffen wir uns irgendwann wieder.«

Ihre Worte hatten die beabsichtigte Wirkung. Sarin stand langsam auf und erwiderte mit großer Vorsicht: »Da bin ich ganz sicher. Und es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte.«

»Danke«, sagte Janie, und sie gingen.

Draußen im Wagen saß Janie einen Augenblick zornig hinter dem Steuer und starrte auf das Feld hinaus. Sie brauchte diese Probe, um alle anderen zu validieren, und wenn sie sie nicht bekam, würde sie mit ihrer Doktorarbeit ganz von vorn beginnen müssen.

»Wir werden sie stehlen«, sagte sie und drehte den Zündschlüssel.

Janie und Caroline standen am Rand des Feldes und warteten darauf, daß ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Sie waren beide in Schwarz und hatten ihre Gesichter mit Ruß geschwärzt.

Doch trotz ihrer raffinierten Aufmachung fühlte Janie sich sehr klein und bescheiden, als sie und Caroline auf die Mitte des Feldes zugingen. Sie traten vorsichtig auf und tasteten in der Finsternis nach unsichtbaren Hindernissen. Janie trug die lange metallene Grabröhre, Caroline den Leinensack, in dem sie die Probe verstauen würden, wenn ihre heimliche Entnahme vollendete Tatsache war. Das Feld war uneben, und trotz ihrer vorsichtigen Schritte stolperte Janie über eine Erhebung; einen Augenblick lang verlor sie das Gleichgewicht, und während sie sich bemühte, es zurückzugewinnen, stieß die Grabröhre gegen einen Felsbrocken. Unbehindert von Bäumen oder Gebäuden, pflanzte sich der Schall über das Feld fort wie ein Trompetenstoß, der ihre Ankunft verkündete.

Unter lautlosen Flüchen streckte Caroline rasch die Hand aus und faßte nach der Röhre, um die Vibrationen zum Verstummen zu bringen. Schweigend standen sie da, ihre Herzen klopften heftig, und sie blinzelten in die Dunkelheit und suchten nach Anzeichen dafür, daß ihre Anwesenheit entdeckt worden war. Doch man sah nichts als die Silhouetten der beiden massiven Eichen und die Baumgruppen am Rand, von denen einige das kleine Haus verdeckten.

Trotzdem stellte Janie sich vor, daß unsichtbare Beobachter da waren; sie konnte spüren, wie sie sich wie Tiere anschlichen und sie auf dem Feld einkreisten. Doch es gab keine goldenen Augenpaare, keine Atemgeräusche, kein leises Knurren. Die einzigen Laute waren gelegentliche Großstadtgeräusche. Sie berührte also Carolines Arm, und sie gingen weiter, alle Sinne auf Alarm gestellt, auf den Ort zu, wo sie den Piepser zu finden erwarteten.

Gott sei Dank haben wir uns umgetan, bevor wir an Sarin herangetreten sind, dachte Janie, und Gott sei Dank hat es nicht geregnet, seit wir die Markierung in Position gebracht haben. Ihr dünnes Piepsen kam aus der Dunkelheit, schwach, aber deutlich, und so wandten sie sich in seine Richtung und gingen darauf zu.

Am Bodennullpunkt setzten sie die Grabröhre rasch zusammen und begannen, sie in die steinige Erde zu drehen; es war harte körperliche Arbeit, und bald schwitzten beide Frauen trotz der relativen Kühle der Nacht. Als die Röhre endlich die richtige Tiefe erreicht hatte, hielten sie inne, um sich ein paar Minuten auszuruhen.

Jenseits des Feldes in dem alten Steinhaus erwachte der Wärter nach einem ziemlich ausgedehnten Nachmittagsschlaf. Er schaute rasch auf die Uhr und verfluchte sich, weil er den größten Teil des Abends verschlafen hatte. Als er sich in seinen Schaukelstuhl gesetzt hatte, war ihm nicht klar gewesen, wie sehr die Begegnung mit den beiden Frauen früher am Tag ihn angestrengt hatte. Er hatte mehrere Stunden lang geschlafen wie tot.

Er ging zum Becken und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Dann trocknete er sich rasch mit einem groben Handtuch ab. Sein Hund lag noch immer still vor der Tür und wartete geduldig auf seinen »Nachmittags«spaziergang.

Sarin bot seinem geduldigen Gefährten eine Schale frisches Wasser, und der Hund schlabberte es auf und sah seinen Herrn danach mit einer Art Lächeln an. Die Leine lag auf dem Boden, wohin Sarin sie zuvor geworfen hatte, damit seine Besucherinnen sich setzen konnten, und der Hund wies mit der Nase darauf hin und wedelte heftig mit dem Schwanz.

»Schon gut, mein Freund, ich verstehe«, sagte Sarin. Er fragte sich, wieso er nie Schwierigkeiten gehabt hatte, mit seinem tierischen Gefährten zu kommunizieren, während ihm dies bei Menschen so schwerfiel. »Ich hole mir nur einen Pullover, und dann gehen wir los.« Er steckte eine Pfeife und ein paar Streichhölzer in seine Tasche, und dann brachen die beiden zu einem Abendspaziergang auf.

Der Hund schnüffelte ein bißchen herum und suchte nach der richtigen Stelle, um seine Duftmarke zu hinterlassen. Er hob ein Bein und benetzte einen niedrigen Busch, dann lief er eifrig weiter.

Der Wärter stolperte hinter ihm her, behindert von der Steifheit seiner alten Gelenke. Um das Feld zu umrunden, brauchten sie etwa eine halbe Stunde, vorausgesetzt, sie stießen nicht auf unerwartete Hindernisse, die Aufmerksamkeit forderten, etwa Teenager, die ihr stark riechendes Dope rauchten, und anderen Unsinn dieser Art.

Sie kamen ungestört voran, bis der Hund plötzlich innehielt und den Kopf nach etwas draußen auf dem offenen Feld wandte. Er spitzte die Ohren, legte den Kopf ein wenig schräg, hörte aber genauso plötzlich wieder damit auf. Irgendwo hoch in der Luft kündete der Schrei eines Adlers dessen räuberisches Vorhaben an; verstört blickte der Hund zum Himmel und dann zu seinem Herrn, der sich bückte und ihn beruhigend tätschelte. Sie gingen weiter ungestört um das Feld herum, bis der Hund zehn Minuten später erneut die Ohren spitzte und jaulte.

»Was ist los?« fragte der Wärter. »Ist was da draußen, Kumpel?« Der Hund zerrte an seiner Leine und versuchte, den alten Mann zur Mitte des Feldes zu ziehen. Der Wärter folgte ihm und mußte sich bald anstrengen, mit ihm Schritt zu halten.

Caroline stand auf und streckte sich, bereit, nach der kurzen Ruhepause mit der Extraktion der Probe zu beginnen; plötzlich wurde sie auf etwas Helles weit auf der anderen Seite des Feldes aufmerksam. Sie zwinkerte und schärfte ihren Blick. Eine Taschenlampe! Sie tippte Janie auf die Schulter und flüsterte: »Da drüben! Schauen Sie! Ein Licht!«

»Scheiße!« murmelte Janie lautlos. »Er muß uns gehört haben, als ich mit der Grabröhre angestoßen bin! Wenn er eine von uns erkennt, sind wir geliefert.« Sie schaute sich in der Dunkelheit um und sah eine Baumgruppe, die ihnen vielleicht Deckung bot, wenn sie sie schnell genug erreichen konnten. Sie faßte Caroline am Arm und begann, sie in diese Richtung zu ziehen.

»Die Grabungsröhre!« flüsterte Caroline dringlich. »Was ist, wenn er sie sieht?«

»Dann sieht er sie eben. Dagegen können wir jetzt nichts mehr machen. Der Handgriff ist so weit unten, wie es nur geht, also bemerkt er sie vielleicht nicht. Und wenn doch, dann wollen wir hoffen, daß er zu simpel ist, um zu begreifen, um was es sich handelt.«

Sie eilten den Bäumen entgegen und schauten sich nach der Stelle um, an der die Grabungsröhre in der Erde steckte. Nachdem sie sich hinter einen großen Baumstumpf gekauert hatte, atmete Janie die Luft aus, die sie seit ihrer Flucht von der Grabungsstelle unwillkürlich angehalten hatte. Die beiden Frauen richteten sich ein wenig auf und sahen zu, wie Sarin und sein Hund ziellos herumgingen und sehr unsystematisch nach irgend etwas suchten. Janie wußte zwar, das Stehlen einer Röhre voll Erde war nicht sonderlich illegal, doch da Sarin ihnen die Probe ausdrücklich verweigert hatte, kam ihr Handeln ihr schrecklich unmoralisch vor, ein direkter und flagranter Verstoß gegen die Würde des alten Mannes. Sie fühlte sich mehr beschämt als ängstlich, als hätte sie gegen irgendeinen uralten und obskuren Ehrenkodex verstoßen.

Die Minuten vergingen. Sarin setzte sein zielloses Umherwandern in der Dunkelheit fort, und Janie fing an, auf unerklärliche Weise zu frieren. Es war, als wanderten eisige Finger über ihre Wirbelsäule. Sie bekam eine Gänsehaut an Armen und Beinen, obwohl sie bedeckt waren; es ging nur ein ganz leichter Wind, doch ringsum begannen die Blätter zu rascheln. Ihre Sinne übermittelten ihrem Körper eine seltsame Warnung, ein Gefühl, daß sie nicht allein am Rand des Feldes waren.

Rasch sah sie sich um, um festzustellen, ob ihre Gänsehaut die Wahrheit sagte. Niemand war zu sehen, nur dunkle Baumsäulen, gekrönt von unge- bändigten Massen rauschenden Blattwerks, doch Janie konnte ihren Herzschlag nicht verlangsamen und auch nicht verhindern, daß er ihr in den Ohren dröhnte. Sie konnte nichts gegen den kalten Schweiß unternehmen, der ihr nun zwischen den Brüsten hinunterlief.

Endlich stellte das Licht seine unstete Wanderung ein und stand still; sie hörten den Hund des Wärters keuchen, als er an der Leine zerrte. Mit trotziger Stimme rief der alte Mann: »Ich weiß, daß ihr da draußen seid, ich weiß es.« Dann wurde sein Ton sanfter, und er sagte ruhiger: »Ich wünschte, ihr würdet mich einfach in Ruhe lassen.« Er drehte sich um. Mit hängenden Schultern wandte sich seine Silhouette wieder dem Haus zu, den Hund an der Seite, und war bald nicht mehr zu sehen.

Janie trat hinter ihrem Baum hervor, und Caroline folgte ihr dicht auf den Fersen. So schnell und leise sie konnten, schlichen sie sich wieder auf das Feld und zogen die Grabungsröhre mit dem kostbaren Inhalt heraus. Als er sicher in dem Leinensack verstaut war, verließen sie das Feld. Janie war überwältigt vor Erleichterung, die Sache hinter sich zu haben, als sie die Autotür aufsperrte. Dennoch wurde ihr Seelenfriede von einem nagenden Schuldgefühl gestört, der schrecklichen, beschämenden Empfindung, etwas getan zu haben, was sie einfach nicht hätte tun dürfen.

Sarin saß zitternd auf seinem schäbigen Sofa, den treuen Hund zu seinen Füßen. Er hatte sich einen zweiten Pullover übergezogen, aber irgendwie wurde ihm nicht warm. Heute nacht würde er dem Hund gestatten, auf seiner Bettdecke zu schlafen, ein seltenes Zugeständnis an seinen Gefährten. Da er sonst niemanden hatte, mit dem er seine Ängste teilen konnte, sprach er laut mit dem Hund.

»Sie sind also endlich gekommen, alter Freund«, sagte er, »aber in dem Buch steht nichts darüber, was ich tun soll! Da steht bloß, daß nicht gegraben werden soll ... Ach je, ach je ...« Er stöhnte. »Mutter hat immer gesagt, daß sie kommen würden. Ich habe bloß gehofft, daß es nicht so bald sein würde . ich bin noch nicht bereit .«

Alter Narr, dachte er bei sich. Du hattest ein Leben lang Zeit, dich vorzubereiten, und bist noch immer nicht bereit? Er dachte an seine Mutter, die sich vor ihm auf deren Kommen vorbereitet hatte, und war froh, daß sie gestorben war, so daß sie nicht sah, wie feige er gewesen war, als der kritische Zeitpunkt schließlich kam. »Amerikanerinnen«, sagte er zu dem Hund. »Ich weiß so wenig über Amerikanerinnen! Jetzt haben sie ihr bißchen Erde genommen und sind wieder verschwunden, und ich weiß nicht mehr, was ich jetzt tun soll!« Tränen der Frustration füllten seine Augen, die nasse Wut eines sehr schlichten Mannes, der vor einer sehr komplexen Aufgabe stand, deren erfolgreiche Vollendung anspruchsvolle Vorfahren von ihm erwarteten. Wie enttäuscht sie wären, wenn sie mich jetzt sehen könnten, dachte er.

»Sie kommen wieder, da bin ich sicher«, sagte er zu dem Hund. »Ich weiß bloß nicht, wann.« Er streckte die Hand aus und versenkte die Finger im warmen Pelz am Hals des Hundes, hielt sich daran fest wie ein Kind, das Angst hat, sich zu verirren. »Wir müssen unbedingt versuchen, auf sie vorbereitet zu sein, wenn sie wiederkommen.«

Zwei Tage später erwachte Janie vom zweimaligen schrillen Läuten des Telefons aus einem unruhigen Schlaf. Sie warf die Decken ab und wankte barfüßig über den kalten Fußboden zum Telefon. Sie tauschte Grüße mit dem Labortechniker am anderen Ende der Leitung. Als sie die unverhüllte Begeisterung seiner Stimme hörte, konzentrierte sie sich trotz ihrer frühmorgendlichen Benommenheit, um ihn unbedingt richtig zu verstehen, denn er redete sehr schnell. Sie konnte sich wildes Gestikulieren am anderen Ende der Leitung vorstellen, rasche Handbewegungen, die seine Erregung unterstrichen. Sie murmelte ein paar schläfrige, aber angemessene Fragen, hörte seine aufgeregte Antwort und beendete dann höflich das Gespräch. Sie zog sich ein Paar Socken an und tappte lautlos zum Badezimmer, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dann wärmte sie sich in der Mikrowelle eine Tasse des von gestern übriggebliebenen Kaffees auf und trug sie zum Telefon.

Sie wählte die Nummer von Carolines Suite. »Aufstehen und glänzen, Dornröschen«, sagte sie zu ihrer Assistentin. »Wir haben unerwartete Arbeit bekommen. In der letzten Röhre war mehr als nur Erde.«