3
Alejandro erwachte verwirrt und orientierungslos in einem dunklen, modrig riechenden Raum. Als sein Kopf langsam klar wurde, sah er sich ziellos um, erblickte aber nichts, worauf er seinen Blick leicht konzentrieren konnte. Das einzige Licht fiel durch einen dünnen senkrechten Spalt in etwas, das er für eine Mauer in unbestimmbarer Entfernung hielt; auf Händen und Knien kroch er darauf zu und war bestürzt, wie schnell er sie erreichte. Es war eine kleine, schlecht eingepaßte Tür, die den trügerischen Lichtstrahl durchließ, ungefähr quadratisch und gerade groß genug, um jemanden kriechend durchzulassen. Er konnte sich nicht erinnern, ob er aus freiem Willen durch sie hereingekommen war; falls nicht, mußte man ihn ziemlich gewaltsam in diesen Raum verfrachtet haben.
Er stand auf, wobei er darauf achtete, sich nicht zu abrupt zu erheben, denn er konnte noch immer keine Decke sehen. Als er sich ganz aufgerichtet hatte, drückte er sich an die Wand, in der die kleine Tür war, und fing an, sich flach daran entlang nach rechts zu schieben. Er kam langsam voran, und da er nicht an eine Ecke kam, schloß er, daß der Raum rund sein mußte. Sein Verdacht bestätigte sich, als er sich plötzlich wieder an der Tür befand.
Er fiel auf die Knie und begann, den Boden abzutasten. Die Oberfläche bestand aus rohen Steinen, groß und flach, zwischen denen nur schmale Fugen zu spüren waren. Zwischen den Fugen wuchs kein Unkraut, und er spürte auch keine Nässe, wodurch ihm sein großer Durst noch bewußter wurde, den zu stillen es keine unmittelbare Gelegenheit gab. Sein Magen knurrte vor Hunger. Diese Empfindungen waren zwar unangenehm, doch ihm lag mehr daran, den Ernst seiner Lage zu bestimmen, als daran, die nächstliegenden Bedürfnisse seines Körpers zu erfüllen. Er unterdrückte Hunger und Durst, weil sie ihn ablenkten, und konzentrierte sich darauf, mehr über den Ort in Erfahrung zu bringen, an dem man ihn gefangenhielt.
Er legte sich auf den Boden, die Arme über dem Kopf ausgestreckt, und stellte fest, daß er auf diese Weise gerade eben zwei Oberflächen berühren konnte. Er wiederholte dasselbe mehrmals in verschiedenen Richtungen und kam zum gleichen Ergebnis; so konnte er die ungefähre Größe seines Gefängnisses abschätzen. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und reckte die Arme nach oben.
Er konnte springen, so hoch er wollte, seine Finger berührten nur Luft.
Es ist eine Art Schacht oder Turm, dachte er. Doch an der Höhe des einfallenden Lichts erkannte er, daß er sich nicht unter der Erde befinden konnte. Die offenkundige Trockenheit seines Verlieses half ihm zwar nicht gegen seinen Durst, doch er wußte, daß eine trockene Umgebung ihm manche der Krankheiten ersparen würde, die Feuchtigkeit vielen der von ihm als Student untersuchten Gefangenen zugefügt hatte. Pleuritis durch Nässe würde er nicht bekommen. Er war sicher, daß seine Augen sich bald an die Dunkelheit gewöhnen würden, doch im Augenblick konnte er sehr wenig sehen. Wenn er den Arm ganz vor sich ausstreckte, konnte er kaum seine eigene Hand erkennen. Er schwang ihn vor dem Körper hin und her, spürte den leisen Luftzug, den die Bewegung erzeugte, sah aber fast nichts. Also setzte Alejandro sich hin, den Rücken an der Wand, die Augen weit geöffnet, und wartete darauf, besser sehen zu können. Nach und nach paßten sich seine Augen der Dunkelheit an, wie er erwartet hatte, aber es gab nichts zu sehen.
Aufmerksam beobachtete er den Faden Licht, der durch den Türspalt fiel, versuchte, Veränderungen zu erkennen, und fürchtete sich vor dem Einbruch der Nacht. Dann würde er in völliger Finsternis sein. Der Winkel des Lichteinfalls veränderte sich nicht. Alejandro schloß daraus, daß es sich nicht um direktes Sonnenlicht, sondern um Licht handelte, das durch eine Halle oder einen Gang außerhalb der Falltür fiel. Doch als die Zeit verging, wurde es allmählich dämmrig, und er fand sich damit ab, daß er viele lange Stunden seine Sinne nicht voll würde gebrauchen können. Es war verblüffend still in seinem Verlies. Wenn dies ein Gefängnis wäre, dachte er, dann würde ich sicherlich die Schreie der anderen Insassen hören.
Bei Einbruch der Dunkelheit konnte er seine Sinne nicht länger ignorieren, so sehr er sich auch bemühte. Seine ausgetrocknete Kehle schrie nach Wasser, sein leerer Magen knurrte fast unablässig. Schlafen konnte er nicht, da ihm unablässig alles Schreckliche durch den Kopf ging, das ihm bevorstehen mochte. Mit beklemmender Deutlichkeit erinnerte er sich an das Schicksal eines Mannes, der vor ihm verurteilt worden war, weil er ein Grab ausgeraubt hatte. Nach Beratungen mit der örtlichen Geistlichkeit hatte der Magistrat sich eine logische und passende Bestrafung für das Verbrechen ausgedacht: Der Missetäter wurde lebendig begraben, damit er über sein Vergehen nachdenken konnte, während er in derselben Umgebung starb, in der er es begangen hatte. Und dieser Verbrecher war ein Christ gewesen; er konnte sich nicht ein- mal vorstellen, was sie mit ihm, einem Juden, wegen desselben Verbrechens anstellen würden.
Wie kann ich sie davon überzeugen, daß mein Handeln kein Verbrechen war, daß ich nur Wissen gesucht habe, das auf vernünftigere Art zu erlangen ihr Papst in seiner Ignoranz mir verbietet? Ich habe kein Grab ausgeraubt, sondern mir seinen Bewohner nur für eine Weile ausgeliehen; ich hätte ihn zurückgebracht, und sein Zustand wäre nicht schlimmer gewesen als bei der Grablegung. Trotzdem machte er sich stundenlang Vorwürfe, nicht wegen seiner Tat, sondern wegen seiner Dummheit, sich erwischen zu lassen. Er suchte in seiner Erinnerung nach etwas, das er hätte tun können, um eine Entdeckung zu vermeiden, doch ihm fiel nichts ein; es war schlicht Pech, daß man ihn ertappt hatte. Sein Gefühl von Ungerechtigkeit wurde stärker, während die Nacht verging, und als das erste Licht durch den Türspalt fiel, war er voll großer Pläne, sich zu retten.
Seine grimmige Entschlossenheit ging ins Leere, als kurz nach der Morgendämmerung die kleine Tür aufgerissen wurde. Das helle Licht blendete ihn, und er mußte seine Augen beschirmen, obwohl er sich fast so sehr nach Helligkeit gesehnt hatte wie nach Nahrung. Eine Schale Wasser und ein kleiner Laib hartes Brot wurden schnell in sein Verlies gestellt, und dann fiel die Tür wieder zu. Das alles ging so schnell, daß Alejandro völlig unvorbereitet war. Er hatte tausend Fragen an seinen Bewacher, doch blitzschnell war die Gelegenheit vorbei.
»Habt Erbarmen! Bitte sagt mir, wo ich bin! Um der Liebe Gottes willen, gewährt mir eine Kerze ...« Er sehnte sich verzweifelt danach, etwas zu trinken, aber er wußte, er mußte seine Bitten vorbringen, ehe der Wärter zu weit fort war. Wieder und wieder schrie er flehentlich, bis ihm klar wurde, daß ihn keiner hörte. Er sank auf die Knie nieder, gedemütigt durch seine Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit seines Wärters zu erregen, und nahm das erbärmliche Mahl zu sich. Er leckte die Schale mit seiner trockenen Zunge aus, um keinen Tropfen des kostbaren Wassers zu verschwenden.
Wieder ein ganzer Tag und eine Nacht, dachte er und argwöhnte das Schlimmste. Der Gedanke an einen weiteren stillen, dunklen und einsamen Tag erfüllte ihn mit Verzweiflung. Wenn er während dieser Folter die Kontrolle über sich verlieren sollte, so würde ihn nicht sein Körper als erster verraten, das wußte er; bald würde sein Geist sich so nach etwas Sichtbarem oder Hörbarem sehnen, daß er anfangen würde zu halluzinieren. Sollte es so weit kommen, so war er sicher, daß er den Tod dem Wahnsinn vorziehen würde. Die äußerste Würdelosigkeit lag darin, daß es ihm sogar an den Mitteln fehlte, sein Leben selbst zu beenden.
In der Mitte eines riesigen Salons standen sich zwei Männer an einem verzierten Eichentisch gegenüber. Trotz der beeindruckenden Ausmaße des Raums war es bemerkenswert still, ein Resultat der zahlreichen weichen Teppiche und Tapisserien, mit denen er ausgestattet war.
Höflich bot der Bischof seinem Gast einen Stuhl an. Der ältliche Jude verbeugte sich leicht, um seinem Gastgeber für diese Einladung zu danken, ordnete dann sorgfältig seine Gewänder und nahm Platz. Sein Rücken war krumm, weil er sich jahrelang über Kontobücher und Register gebeugt hatte. Die beiden Männer sahen sich zum ersten Mal. Trotzdem vermutete der Bischof zu Recht, daß eine noch schwerere Last die Schultern seines Besuchers beugte. Avrams Bewegungen waren unsicher, und seine Stimme zitterte fast. Der gebrechliche Mann, den er da vor sich sah, war nicht das, was der Bischof nach jahrelanger Korrespondenz erwartet hatte.
Bischof Johann von Aragon war Monsignore Johann gewesen, soeben von seiner Heiligkeit Papst Johannes XXII. auf seinen Posten berufen, als Avram Canches gerade in das Geldverleihergeschäft seiner Familie eingetreten war, wie sein Vater ihm befohlen hatte. Er erinnerte sich an die Bitterkeit, die er an dem Tag empfunden hatte, an dem entschieden wurde, daß er nicht seinen er- wählten Beruf ergreifen durfte. »Laß deine Brüder mit den Händen arbeiten«, hatte sein strenger Vater gesagt, während er Avram zu den Hauptbüchern führte. »Deine Hand wird einen Federkiel halten.« Er wußte, das war der Grund, warum er den Bitten seines eigenen Sohnes Alejandro nachgegeben hatte, die Medizin studieren zu dürfen, trotz seiner ernsten Zweifel an der Weisheit dieser Entscheidung. Jetzt begriff er das despotische Verhalten seines Vaters und wünschte sich, er hätte die Kraft gehabt, zu seinem eigenen Sohn ebenso streng zu sein.
Er und Bischof Johann hatten seit jenem Tag Hunderte von Briefen gewechselt, die alle die finanzielle Situation der christlichen Kirche betrafen. In einer Vereinbarung, die ihnen beiden von großem Nutzen gewesen war, hatte Avram garantiert, daß der weltliche Prälat stets das Bargeld haben würde, um die ausgeklügelten Rituale zu finanzieren, die seine Priester vollzogen, und hatte dies mit konsequenter Integrität eingehalten und niemals seiner persönlichen Meinung Ausdruck gegeben, daß Gott sich nicht für die Kleidung eines Mannes oder die Umgebung interessiert, in der er verehrt wird. Er war froh, seinen Zins zu kassieren, und behielt sein zynisches Urteil für sich; nach jahrelanger Verbindung empfand Avram nun eine Art vorsichtiger Wertschätzung für den Prälaten.
Der Bischof hatte eine ähnlich vorteilhafte Meinung von Avram, war allerdings überrascht, einen Mann vor sich zu sehen, der nicht in der Lage schien, seine Geschäfte mit so fester Hand zu führen, wie es immer Avram Canches’ Markenzeichen gewesen zu sein schien. Sie schwiegen eine lange Zeit, beäugten einander, und jeder ging dem spekulativen inneren Bild nach, das er sich jahrelang davon gemacht hatte, wie der andere vielleicht aussehen mochte.
Der Bischof ergriff schließlich als erster das Wort. »Ihr seid nicht, wie ich mir Euch vorgestellt hatte, mein Freund; ich hatte gedacht, Ihr würdet mich überragen; Ihr seid ein mächtiger Geschäftsmann, und ich hätte geschworen, daß Ihr ein Riese seid.«
Der kleine, zerbrechliche Mann antwortete: »Eminenz, vergebt mir, wenn ich Euch enttäusche. Ich kann nur hoffen, daß meine geistigen Kräfte nicht mit den Jahren geschrumpft sind wie mein Körper.«
»Ich habe den Verdacht, daß sie noch immer gargantuesk sind«, lachte der Kirchenmann. »Und jetzt müßt Ihr mir gestatten, Euch eine Erfrischung anzubieten. Eure Reise war lang, und wir sind nicht mehr jung.«
Der Bischof gab einem Akoluthen einen Wink, und ein paar Minuten später kam der junge Mann mit einem verzierten Silbertablett mit Brot, Käsen und Früchten zurück.
Bischof Johann segnete die Speisen auf lateinisch, während Avram ein paar hebräische Worte sprach; ihre Blicke begegneten sich über der Kerzenflamme, als beide gleichzeitig mit ihrer kurzen Andacht fertig waren. Der Bischof füllte aus einem silbernen Weinkrug zwei Becher. Er hielt einen an die Kerzenflamme und genoß die reiche Farbe des Weins in dem durchsichtigen Glas. Er reichte es seinem Gast und sagte: »Nun, Avram, da sind wir also, nach so vielen Briefen endlich von Angesicht zu Angesicht. Ich bin neugierig, Euren Grund für eine so lange Reise zu erfahren.«
Avram, sichtlich nervös, sprach nicht, sondern hantierte mit dem Messer herum, schnitt ungeschickt ein Stück Käse von einem der Laibe auf dem Tablett vor ihm ab. Der Bischof nahm Avrams Unbehagen wahr und spürte eine Chance, einen Vorteil zu erringen, so klein er auch sein mochte, den er in Zukunft gegen seinen Gläubiger verwenden konnte; also drängte er ihn weiter, indem er aufrichtige Besorgnis um sein Wohlergehen heuchelte. »Bitte, Avram«, sagte er, »Ihr wißt sicherlich, daß ich viel mehr bin als Euer Gastgeber bei diesem schlichten Mahl. Wenn Ihr das Bedürfnis habt, über schwierige Angelegenheiten zu sprechen, so tut dies ohne Furcht. Ihr seid im Hause Gottes, und hier werdet Ihr Aufnahme finden.«
Avram ignorierte den Schmerz in seinen alten Knochen, bemühte sich, sich einen Anschein von Würde und Kraft zu geben, und schaffte es, sich auf dem reichverzierten Stuhl etwas größer zu machen. Bei sich dachte er, daß es vermutlich den jährlichen Zehnten von fünfzig Bauern gekostet hatte, dieses Meisterstück zu erwerben. Während er seine Haltung veränderte, stellte er fest, daß rings um den Tisch sorgsam zwölf dieser teuren Stühle angeordnet waren. Wenn man bedenkt, wie schön sie aussehen, wären sie vielleicht ihren Preis wert gewesen, wenn man bloß ein wenig bequem auf ihnen sitzen könnte, dachte der alte Jude.
Er räusperte sich. »Eure Eminenz«, begann er vorsichtig, »ich bin sicher, Eure >Berater< haben Euch davon in Kenntnis gesetzt, daß es in unserer Stadt Cervere Probleme gibt.«
Argwöhnisch beäugte der Bischof Avram. Woher weiß er von meinen Spionen? wunderte er sich. »Ach ja, meine Berater«, sagte er entschieden. »Ich erinnere mich, gehört zu haben, daß es da neulich zu einer Art Einbruch gekommen ist ... ein Grabraub, nicht wahr?« Er wußte ganz genau, daß ein Jude verhaftet worden war, weil er das Grab eines jüngst verstorbenen christlichen Kaufmanns ausgeraubt hatte; die hinterbliebene Familie war entsprechend empört und forderte sofortige Gerechtigkeit. Der Bischof hatte jedoch noch keine Einzelheiten erfahren, er brauchte mehr Informationen über den Vorfall, den Avram zur Sprache gebracht hatte. Indem er so bald gekommen war, hatte der Jude dem Bischof etwas von seinem üblichen Vorteil genommen, und Johann beschloß, dem Abt von Cervere sein Mißfallen zu bekunden. Er fühlte sich auf das Folgende schlecht vorbereitet, aber er wollte nicht verraten, daß es ein schwaches Glied in seinem berühmten Netzwerk gab, einem Netzwerk, von dem er nicht angenommen hatte, daß der alte Jude es überhaupt kannte. Was weiß er sonst noch, dieser gerissene alte Fuchs? fragte sich der Bischof.
»Euer Gnaden«, fuhr Avram fort, »ich bedauere, Euch zu meiner ewigen Schmach gestehen zu müssen, daß der Räuber mein Sohn ist.«
Sofort wich die Wärme aus dem Gesicht des Bischofs. Unhöflich unterließ er es, sich zu entschuldigen, als er sich von seinem Stuhl erhob. Warum hatten seine Spione ihn nicht genauer unterrichtet? Ich sollte den inkompetenten Narren exkommunizieren, der mich um diesen Vorteil gebracht hat! dachte er wütend. Der alte Jude war tatsächlich schlau, mit diesem Geständnis zu kommen, denn er hat mich geschickt überrascht!
Er entfernte sich vom Tisch und starrte einen Augenblick aus dem Fenster, die Arme gekreuzt, als schütze er sich vor einem großen Übel.
Aber Avram konnte sehen, daß der Bischof wütend war; was er nicht verstand, war der Grund. Er glaubte, seine Karten zu früh aufgedeckt zu haben, und begann zu fürchten, seine Mission zu Alejandros Rettung werde fehlschlagen. Er stützte sich auf die Tischkante, erhob sich mühsam und bewegte sich am Tisch entlang zittrig näher zu seinem zornigen Gastgeber.
»Mein Sohn ist Arzt und hat das große Risiko auf sich genommen, diesen Christen auf dessen eigenen Wunsch hin zu behandeln, obwohl er wußte, daß das verboten ist. Der arme Mann starb qualvoll an einer zehrenden Krankheit, und mein Sohn hat sich edelmütig bemüht, das Leiden seiner letzten Tage zu lindern. Er hat alle bekannten Heilmittel ausprobiert und dem Patienten seine Zeit gewidmet. Alles, womit er entlohnt wurde, war eine Schaufel. Eine Schaufel, Euer Gnaden! Er fühlte sich gezwungen, den Leichnam des Mannes zu untersuchen, um die Ursache der Krankheit in Erfahrung zu bringen. Er glaubt nicht, daß er ein Verbrechen begangen hat.«
Er hielt inne, wartete auf eine mitfühlende Reaktion seines Gegners, bekam aber nur einen eisigen Blick. Avram nahm sich zusammen und fuhr fort: »Gewiß ist er nicht der Grabräuberei schuldig. Hätte man ihn nicht daran gehindert, hätte er den Leichnam in sein Grab zurückgebracht, wohin er tatsächlich unterwegs war, als man ihn faßte. Nichts wurde weggenommen; der Leichnam war intakt.«
»Trotzdem«, sagte Johann streng und sah Av- ram dabei stetig in die Augen, »selbst Moses lehrt, daß es eine Sünde ist, etwas zu begehren, das einem anderen Manne gehört. Weise Männer aller Religionen waren der Ansicht, daß der Körper eines Menschen eines seiner kostbarsten Besitztümer ist. Was kann es für ein größeres Verbrechen geben, als die Heimstatt zu stehlen, in der die Seele des Menschen während seiner Erdentage wohnt? Warum sollte seine böse Tat entschuldigt werden, nur, weil er selbst sie nicht als böse betrachtet? Gott allein und nicht ein niederer Jude hat das Vorrecht, die Natur des Bösen zu bestimmen.«
»Ich gebe zu, Eminenz, daß Alejandros Tat unvorsichtig und unbesonnen war. Wir Juden glauben ebenfalls, daß der Körper eine geweihte Gabe Gottes ist. Aber er hat immer nach Wissen gedürstet und wird vor nichts haltmachen, um es zu erlangen. Wenn irgend jemand Bestrafung verdient, dann ich, weil ich ihm gestattet habe, zu glauben, er könne ohne die unserem Volk angemessene Demut leben. Ich bin alt und dem Ende meines Lebens nahe. Ich flehe Euch an, betrachtet das Verbrechen als meines. Erlegt mir an seiner Stelle die Strafe auf.«
Der Bischof betrachtete den alten Mann, den nie gesehenen Freund vieler Jahre, der sich jetzt plötzlich in einen unerwünschten Feind verwandelt hatte; er sah eine zerbrechliche, müde und geschlagene Seele, ihres heidnischen Glaubens wegen zum ewigen Feuer verurteilt. Er hielt sich für einen Beschützer und Förderer der Juden in seinem Bistum; dieser Verrat an seiner wohlwollenden Gönnerschaft war ein unverzeihliches Vergehen. Mit feurigen Blicken sah er Avram an und zischte: »Wie könnt Ihr es wagen, Eurem Sohn zu gestatten, unser Vertrauen zu verraten? Ich habe den Juden von Aragon immer gestattet, friedlich, in convivencia, zu leben. Seine Heiligkeit hat mir die Verantwortung übertragen, in meinem Bistum seine Politik der Toleranz gegen die Juden in die Tat umzusetzen. Wie konntet Ihr Eurem Sohn erlauben, mich so bloßzustellen? Wenn ich die Juden in Aragon nicht im Zaum halten kann, könnte Euer Volk sich mit einem weniger mitfühlenden Hüter konfrontiert sehen!«
Avram schwieg. Also fürchtet er, seine Macht zu verlieren, dachte er. Das war die offene Wunde, die er für sein weiteres Vorgehen brauchte. Avram wußte, daß er tatsächlich die Mittel hatte, den Bischof sehr gut dastehen zu lassen. Aber ich darf nicht wanken, dachte er, sonst willigt er nicht ein! Sofort benahm er sich nicht mehr bittend, sondern räsonnierend. Er richtete sich höher auf und sprach mit fester Stimme.
»Euer Gnaden, ich bin mir der Gunst bewußt, die wir Juden unter Eurem Schutz genossen haben, und wir sind dankbar für unser Wohlergehen in Eurem Reich. Auch wir haben uns bemüht, mit allen Christen in Frieden zu leben, in der glühenden Hoffnung, Menschen aller Glaubensrichtungen in den Genuß des Reichtums toleranter Zusammenarbeit kommen zu lassen.«
Der Bischof sah Avram direkt an, da ihm die Veränderung in dessen Gebaren aufgefallen war, und fragte sich, wieso sein Versuch, ihn einzuschüchtern, mißlungen war. »Fahrt fort, Jude«, sagte er. »Noch verstehe ich Euch nicht.«
Avram zog eine dicke Schriftrolle aus einem Ärmel seines Gewandes. »Eminenz, ich habe den Bericht über die Konten des Bistums mit dem Hause Canches mitgebracht. Es wäre mir eine Freude, diese Konten jetzt mit Euch durchzugehen. Vielleicht können wir uns wieder setzen und mit unserer Mahlzeit fortfahren. Wir beide haben vieles zu erwägen, und ich kann mit vollem Magen besser denken.«
Nach ein paar Sekunden vorsichtigen Überle- gens wies Johann auf den Stuhl gegenüber seinem; dankbar setzte Avram sich wieder hin, und auch sein Gastgeber nahm Platz. Sie aßen schweigend, während beide sich eilends Mittel und Wege auszudenken suchten, den anderen zu manipulieren. Wieviel war zu gewinnen? Wie wenig mußte man aufgeben? Die beiden Männer, bewaffnet mit der Weisheit eines langen Lebens und reicher Erfahrungen, bereiteten sich auf ein Turnier vor, wie Krieger es selten erleben, nämlich nur mit den Waffen des Geistes. Der Bischof war plötzlich mit der glorreichen Möglichkeit konfrontiert, Summen nach Avignon zu senden, die weit über das hinausgingen, was er dem Papst angekündigt hatte. Er würde als ausgezeichneter Verwalter gelten, als sorgfältiger Treuhänder, für Seine Heiligkeit wertvoll, weil er überaus schlau mit dem Zehnten von Aragon umzugehen verstand. Avram fragte sich, was er von dem Bischof für den Erlaß der hohen Kirchenschulden gegenüber seiner Familie verlangen konnte. Für Alejandros Leben und die Chance, daß er anderswo ein neues Leben beginnen konnte, würde er diesen Trumpf mit Freuden aus der Hand geben. Aber der Handel konnte nicht einfach auf Alejandros Entlassung aus dem Kerker beschränkt werden; Avram würde auf seine sichere Ausreise aus Spanien mit einer vertrauenswürdigen christlichen Eskorte drängen, die ihn auf der langen Reise beschützte.
Der Bischof rief den Akoluthen, damit dieser den Tisch abräumte, und verlangte weitere Kerzen. Nachdem diese in die Kandelaber gesteckt und angezündet worden waren, schickte er den jungen Akoluthen fort, und die beiden alten Männer saßen beieinander, bereit, ihr unangenehmes Geschäft abzuschließen.
Avram begann aus dem Gedächtnis die Rede zu halten, die er für den Fall vorbereitet hatte, daß ihre Notwendigkeit Gottes Wille war. »Ich weiß schon seit langem zu schätzen, daß Euer Gnaden meine Familie beschützt hat. Natürlich bin ich beschämt über die schreckliche Schmach, die mein Sohn Euch angetan hat, indem er die Ruhe Eures christlichen Toten mißachtete. Mir ist bewußt, daß ich Euch Eure Großzügigkeit, uns den jahrelangen Dienst an Euch zu gestatten, unmöglich zurückzahlen kann, aber ich möchte Euch gern eine kleine Demonstration meiner Wertschätzung und Dankbarkeit geben.«
Der alte Jude entrollte nun das Pergament vor den Augen des Bischofs, damit dieser die Konten sehen konnte. Johann studierte die Eintragungen aufmerksam und prüfte sorgfältig die langen Kolonnen, in denen das Jahr jeder Anleihe und der geschuldete Betrag verzeichnet waren. Einige waren schon vor langer Zeit zurückgezahlt worden, doch eine ernüchternd hohe Summe war noch unbezahlt. Man würde mehrere Jahre lang einen guten Zehnten einnehmen und keine neuen Schulden machen müssen, um nur die eigentliche Anleihe zurückzuzahlen, von den geschuldeten Zinsen ganz zu schweigen. Der Bischof verfluchte sich im stillen, weil er zugelassen hatte, daß die Schulden der Kirche bei diesem gerissenen Mann solche Ausmaße annahmen.
Avram rollte das Pergament wieder zusammen und hielt es über die Kerze, gerade außer Reichweite der Flamme. So machte der dem zuschauenden Bischof die Bedeutung dessen klar, was er zuvor gesagt hatte. »Vielleicht ist es an der Zeit, daß ich mir diese Schulden noch einmal anschaue«, sagte er. »Ich bin sicher, daß wir zu einer annehmbaren Übereinkunft gelangen könnten.«
Der Bischof begriff. »Mein Freund, Ihr seid zu liebenswürdig; ich kann Euer großzügiges Angebot unmöglich ohne Gegengabe annehmen. Vielleicht kann ich Eurer Familie von Nutzen sein, wenn sie dessen bedarf.«
Avram Canches machte seinen Vorschlag. Seine Stimme war nun stärker und beharrlicher. »Mein Sohn muß aus der Gefangenschaft entlassen werden und sicheres Geleit nach Avignon erhalten. Er braucht eine Eskorte, und da ich auf Euer Volk keinen Einfluß habe, hängt es von Euch ab, für eine passende Begleitung zu sorgen. Es muß jemand sein, den Ihr als vollkommen vertrauenswürdig kennt. Ich werde ihn natürlich für seine Dienste ansehnlich entlohnen.«
Der Bischof konnte sein Glück kaum glauben und mußte sich anstrengen, seine Erregung zu ver- bergen. Das Verlangen des Juden war unbedeutend und leicht zu erfüllen. »Und wenn dafür gesorgt ist, werden keine weiteren Forderungen erhoben?«
Avram richtete sich zu voller Höhe auf und nahm alle Würde und Kraft zusammen, die er in seiner müden Seele fand. Er schaute dem Bischof gerade in die Augen und erklärte kühn: »Euer Gnaden, dieser Dienst besitzt für mich mehr Wert als alles andere, was in Eurer Macht steht. Mein Sohn ist auf seinem Weg einfach über einen Stein gestrauchelt. Der Erlaß Eurer riesigen Schulden ist ein geringer Preis für sein Leben.«
Mit einem fast höhnischen Lächeln sprach Bischof Johann von Aragon zu Avram Canches: »Dann sind wir uns über den Handel einig, Jude; verbrennt die Rolle.«
Beide schwiegen, als Avram das Pergament an die Flamme hielt und der Raum sich mit dem übelkeiterregenden Geruch brennenden Fleisches füllte, sehr passend zu dem unwürdigen Geschäft, das in ihm abgeschlossen worden war. Als die Rolle völlig verzehrt war, wandte Bischof Johann sich an Av- ram und sagte: »Ich werde mich in Eurer Sache an einen Soldaten namens Hernandez wenden. Er hat mir bei vielen Gelegenheiten gute Dienste erwiesen; er ist ein toleranter und geduldiger Mann, und er wird froh sein, wenn Ihr ihn anstellt. Aber ich warne Euch, wenn er erfährt, daß er einen abtrün- nigen Juden begleiten soll, dann wird sein Preis selbst für Euren Reichtum hoch sein.«
Avram wußte, daß er seine Seele für Alejandros Freiheit geben würde, er bezweifelte, daß selbst der habgierigste Soldat soviel verlangen konnte, wie er für das sichere Geleit seines Sohnes zu zahlen vermochte. »Dann, Euer Gnaden, bitte ich Euch, eingedenk unserer langen Bekanntschaft einen guten Preis für mich auszuhandeln.«
»Ich werde mein Bestes tun,« sagte der Bischof. »Morgen in aller Frühe wird ein Bote zu Euch kommen. Er wird Euch die Einzelheiten der Vereinbarung mitteilen.«
Als Geste des Dankes verneigte Avram sich leicht. Er entbot dem Bischof seinen Gruß und fand es traurig, daß sie einander nie wieder begegnen würden, denn die Abgefeimtheit ihrer Übereinkunft verbot jede weitere Verbindung. Vor diesem Tag hatte ihm ihre Korrespondenz sehr am Herzen gelegen, denn sie war ein kundiges Spiel zwischen gleichwertigen Gegnern gewesen, und er würde sie sehr entbehren.
Der Bischof ging mit Avram zur Tür des großen Raumes, als wolle er ihn verabschieden. Zu Avrams Überraschung und Widerwillen aber beleidigte er den ehrwürdigen Juden aufs höchste: Er streckte seine beringte Hand aus und wartete, daß Avram sich zum unterwürfigen Kuß darüber beugte.
Trotzig sah Avram den Bischof an. Er starrte auf die dargebotene Hand und wünschte sich, seinen Ekel zeigen zu können, indem er darauf spuckte. Doch obwohl es sich wie ein Geschenk Gottes anfühlen würde, seine Verachtung zeigen zu können, wußte er, daß er Alejandro damit keinen Dienst erweisen würde; er schluckte seinen Abscheu hinunter, verneigte sich und vollzog die verlangte Geste der Unterwerfung. Dann richtete er sich wieder auf, starrte den Bischof einen Moment an und ging.
Der Bischof rief mit dem Klingelzug den Ako- luthen. Der junge Mann betrat geräuschlos wie immer den Raum und näherte sich seinem Vorgesetzten ehrfürchtig.
»Bruder, schickt den Koch aus, damit er sich nach diesem Schurken Hernandez umsieht. Zweifelsfrei weiß er, welche Taverne der Schuft besucht.«
»Was soll der Koch ihm sagen, Eminenz?« fragte der junge Priester.
Bischof Johann kratzte sich einen Moment am Kinn und versuchte, sich eine plausible Geschichte auszudenken. »Hmm«, sagte er, »bei Hernandez muß man geschickt vorgehen und natürlich den richtigen Anreiz bieten.« Er überlegte noch einen Moment und sagte dann: »Man soll ihm sagen, daß seine Dienste für eine wichtige Reise im Auf- trag der Kirche benötigt werden. Sagt dem Koch, er soll andeuten, daß der Lohn ungewöhnlich hoch sein wird. Und daß ich ihn binnen einer Stunde erwarte.« Mit einer Handbewegung entließ er den jungen Priester, und dieser zog sich unter Verbeugungen rückwärts zurück. »Schickt sofort meinen Schreiber herein«, sagte der Bischof.
Während der Bischof auf den Schreiber wartete, trat er auf seinen Balkon, schaute ein paar Augenblicke in den Nachthimmel hinauf und staunte wie immer über die Erhabenheit und das Geheimnis des Himmels. Welche Macht, fragte er sich, hat soviel Kraft, daß sie die Sonne auf ihren täglichen Weg um die Erde schickt? Er hatte gehört, daß es weit im Norden Länder gab, in denen zu einer Zeit im Jahr die Sonne nie vom Himmel verschwand und sich zu einer anderen kaum blicken ließ. Er wunderte sich, wie dieser Feuerball so launisch am Himmel herumhüpfen konnte. Sicher prallt er von Gottes eigenen Fingerspitzen ab, dachte er.
Nur zu bald unterbrach ihn die Ankunft des Schreibers. Nachdem dieser den Ring des Bischofs geküßt hatte, breitete er seine Schreibutensilien auf dem langen Tisch aus und setzte sich. Der Bischof diktierte.
»Dem Träger dieser Schriftrolle und seinem Reisegefährten wird hiermit sicheres Geleit garantiert von Seiner Eminenz, Johann, Bischof von Aragon.«
Der Schreiber reichte ihm das Pergament, und er versah es mit seinem persönlichen Siegel. »Und nun zum nächsten Brief«, sagte er und begann zu diktieren.
An den erwürdigen Pater Joseph vom Orden St. Franziskus, Bruder, ich grüße Euch im Namen Christi, unseres Erlösers. Durch die Gnade Gottes und zu Seiner höheren Ehre habe ich eine Übereinkunft mit dem Juden Avram Canches getroffen, die die Heilige Kirche von ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Hause Canches entbindet. In Anerkennung seines freundlichen Entgegenkommens habe ich eingewilligt, seinen Sohn Alejandro freizulassen, der sich in Eurem Gewahrsam befindet, weil er die abscheuliche Sünde der Grabräuberei begangen hat; er ist Señor Eduardo Hernandez zu übergeben, der sich mit meinem Siegel bei Euch einfinden wird. Señor Hernandez wird den lasterhaften jungen Juden aus unserem Herrschaftsgebiet hinausführen, und er soll nie wieder den Frieden unserer Region stören.
Setzt die restliche Familie des Avram Canches davon in Kenntnis, daß sie ebenfalls aus Aragon verbannt ist und von nun an alle geschäftlichen Interessen innerhalb unseres Bistums verwirkt hat. Zwei Tage nachdem Ihr diesen Brief empfangen habt, hat die Familie bei Sonnenuntergang ihr Heim zu verlassen, und alle Güter oder Besitztümer, über die bis dahin nicht verfügt worden ist, fallen der Kirche anheim, um deren Schatulle für das große Werk Gottes, unseres Allmächtigen Vaters, zu füllen.
Bevor Ihr den jungen Juden freilaßt, werdet Ihr ihn brandmarken, damit jeder, der ihn sieht, weiß, daß er ein Jude ist. Er soll nie wieder Missetaten gegen die christliche Gesellschaft verüben.
Möge Gott Euch bei diesen wichtigen Aufgaben beistehen. Ihr tut das Werk Christi und Seiner jungfräulichen Mutter Maria, und Gott wird Euch gut entlohnen.
Johann,
Bischof von Aragon.
Wieder drückte er dem Brief sein Siegel auf. Dann diktierte er dem Schreiber noch einen Empfehlungsbrief und entließ ihn mit einem Segen. Kaum drei Minuten später war ein leises Klopfen zu hören, und der Akoluth meldete Señor Eduardo Hernandez.
Wieder verblaßte das Licht, und Alejandro verbrachte eine Nacht in immer wieder unterbrochenem Schlaf. Als der erste Morgenschein durch die Ritzen im Türrahmen fiel, bereitete Alejandro sich auf das Eintreffen seiner elenden Mahlzeit vor. Obwohl sein Körper vor Hunger und Durst schmerzte, war es nicht die Aussicht auf Nahrung, die ihn antrieb. Er kauerte sich dicht neben die Tür, schaute unablässig auf den Lichtstreifen, lauschte auf das leiseste Geräusch und wartete geduldig auf die Wiederkehr seines Wärters. Alle paar Minuten streckte er erst ein Bein, dann das andere, und schüttelte die Arme, um wach und bereit zu bleiben. Er wußte, daß er seine Augen vor dem Licht beschirmen mußte, das ihn vorübergehend blenden würde, wenn die Tür endlich geöffnet wurde.
Ganz leise hörte er Schritte und schärfte sofort seine Sinne. Als die Schritte lauter wurden, pochte sein Herz so erwartungsvoll, daß es das lang erwartete Geräusch beinahe übertönte. Die Schritte hielten inne, und er hörte, wie die Schale vor der Tür abgestellt wurde. Tuch raschelte, und der Riegel bewegte sich.
Als die Tür geöffnet wurde, hielt Alejandro eine Hand über die Augen, wandte den Kopf ab und griff blind nach dem Arm, der sich durch die Tür streckte. Er fühlte das Fleisch seines Kerkermeisters, dessen Wärme ihm Antrieb und Energie gab. Dann folgte der unvermeidliche Kampf, und er öffnete die Augen, als der Arm gerade wieder zurückgezogen wurde. In der blendenden Helle, un- mittelbar vor dem Zufallen der Tür, sah er, daß die Hand keine Wasserschale und kein Brot hinterlassen hatte, sondern eine Schriftrolle.
Für den Augenblick achtete er nicht darauf, sondern rief: »Ein Wort, ich bitte Euch, nur ein kurzes Wort! Bitte, ich bitte Euch, sagt mir, was mit mir passiert!«
Stille. Er hörte jedoch keine Schritte, also wußte er, daß sein Kerkermeister noch da war. Beinahe hätte er die leise gezischten Worte überhört. »Seid still, oder ich kann Euch überhaupt nicht helfen.«
Alejandro rang sofort um Fassung. Er wischte sich Gesicht und Nase an seinem schmutzigen Ärmel ab und antwortete: »Gott segne Euch, Herr; ich muß unbedingt wissen, in welcher Lage ich bin!«
Der Ton der Stimme wurde kühler. »Ich ziehe den Segen meines eigenen Gottes vor, Jude, und das solltet Ihr auch tun. Hört genau zu, denn wir haben wenig Zeit.«
»Verzeiht mir bitte«, flehte Alejandro, »ich tue alles, was Ihr sagt, nur verratet mir ...«
»Still!« zischte die Stimme. »Wie Ihr zweifellos bemerkt habt, habe ich einen Brief gebracht. Von Eurem Vater.«
Alejandro tastete verzweifelt umher und fand endlich die Schriftrolle. Hastig riß er das Band auf und hoffte, die vertraute, elegante Handschrift seines Vaters zu sehen. Er konnte kaum erkennen, daß das Blatt beschrieben war, und sagte zu seinem Wärter: »Es ist dunkel; ich kann das nicht lesen.«
Der Priester auf der anderen Seite der Tür hielt einen Moment inne. Der Vater hatte ihm nicht genug bezahlt, um auch noch für Licht zu sorgen.
»Vielleicht wird Euer Gott Euch Licht schicken«, sagte der Wärter, lachte grausam und schlich davon. Er würde später zurückkehren, wenn der Gefangene ruhiger war, um ihm seine tägliche Nahrungsration zu bringen.
Rasch hielt Alejandro das Pergament so nahe an die Tür, wie er nur konnte. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch die Ritze, und als er das Pergament darin bewegte, konnte er eine vertraute Schrift erkennen. Sein Vater hatte in einer Sprache geschrieben, die nur ein Jude lesen konnte; er hatte gewußt, daß der Priester sie nicht entziffern konnte und daß kein anderer Jude ihn verraten würde, indem er sie korrekt übersetzte.
Mein Sohn,
verzweifle nicht, denn bald wirst Du befreit werden. Ich habe dafür gesorgt, daß Du freies Geleit nach Avignon erhältst, wo das päpstliche Edikt die Juden vor Verfolgung schützt. Das ist Deine beste Überlebenschance. Die Priester werden Dich einem Söldner übergeben, der ein Päckchen von mir bei sich tragen wird. Der Inhalt wird für Deine Bedürfnisse auf der Reise sorgen. Achte auf Deine Gesundheit und bete täglich um die Kraft, die Du in den kommenden Tagen brauchen wirst. Möge Gott Dich beschützen, bis wir uns Wiedersehen.
Dein Dich liebender Vater
Nachdem er den Brief gelesen hatte, saß Alejandro lange zitternd da, den Rücken an die Mauer gelehnt. Er versuchte, sich zu beruhigen, denn er wußte, wenn er sich aufregte, würde sein Durst nur schlimmer; wie immer hatte sein Vater recht. Er mußte seine Kräfte schonen.
So saß er noch immer, als eine kurze Weile später die Tür wieder geöffnet und Brot und Wasser hingestellt wurden. Dann blieb er wie zuvor allein in der Dunkelheit, genoß jede Krume des Brotes und leckte mit seiner verdorrten Zunge auch den letzten Wassertropfen aus der Schale. Er versuchte weder zu entkommen noch mit seinem Wärter zu sprechen, sondern lehnte sich zurück und wartete auf seine Befreiung. Er schlummerte ein.
Er erwachte von einem Licht, das seine entwöhnten Augen fast blind machte. Er wußte, es war nur das Licht, das durch die Tür fiel, doch ihm kam es vor, als fielen gleißende Sonnenstrahlen in seinen Kerker. Er hörte eine Stimme, die ihn rief, und kroch rasch zur Tür. Er beschirmte seine Augen, bis sie sich der Helligkeit besser anpaßten.
Die Stimme forderte ihn auf, durch die kleine Tür zu kriechen, und er gehorchte dankbar. Er glaubte an seine Rettung und war begierig, frische Luft zu atmen, die nicht nach seinen eigenen Exkrementen stank.
»Steht auf, Jude«, wurde ihm befohlen. Er tat es zittrig und konnte noch immer nicht richtig sehen. Unvermittelt wurde er gegen die Wand des Durchgangs geschleudert und von zwei Mönchen an den Schultern festgehalten. Ein anderer stieß sein Gesicht zur Seite und legte seine Wange frei. Alejandro brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu erkennen, daß der Gegenstand, der sich seinem Gesicht näherte, ihm Schaden zufügen sollte; doch das reichte, um seinen Körper hochzustemmen und sich dem Griff der Mönche zu entwinden. Statt seines eigentlichen Ziels traf das rotglühende Brandeisen die Mitte seiner Brust und brannte ein Loch in den Stoff seines Hemdes. Er stieß einen wilden Schmerzensschrei aus.
»Das Gesicht!« sagte einer der Wärter zornig. »Wir müssen es noch einmal machen!«
Als er das hörte, begann Alejandro sich so heftig zu wehren, daß sie ihn kaum halten konnten. Er kratzte wie ein Tier, riß einem der Männer den Arm auf, und dieser ließ ihn prompt los. Er kroch wieder in seine Zelle, zog sich, wie ein Neugeborenes es gern tun würde, in die Sicherheit des Schoßes zurück, in die ihm seine Wärter nicht folgen würden.
Der verletzte Mönch prüfte rasch seine Wunde. Sie blutete zwar heftig, doch er wußte, daß sie nicht gefährlich war. Er rappelte sich auf und griff nach dem Brandeisen, wollte es noch einmal versuchen, doch zu seiner Enttäuschung sah er, daß es nicht mehr glühte. Unwillig ließ er das üble Gerät fallen und schlug die Kerkertür zu. »Die Brust muß genügen«, sagte er.
Alejandro erschlaffte, als er hörte, wie die Schritte auf dem Gang sich entfernten. Er lag da, und es kam ihm wie eine Ewigkeit vor; er wußte, daß man ihn gebrandmarkt hatte. Er spürte den sengenden Schmerz der Verbrennung und die rasende Wut über seine Demütigung. Er fieberte, und sein ganzer Körper überzog sich in dem dumpfen Kerker mit einem dünnen Schweißfilm. Einmal war ihm kalt, dann wieder glühend heiß. Er glaubte, sich durch eine grausame Laune Gottes in der Hölle der Christen zu befinden. Als könnten sie das Zeichen auslöschen, das ihm sein Gott bereits auferlegt hatte, hatten diese bösen Menschen es für notwendig gehalten, ihn noch einmal zu zeichnen. Diesmal hatte er es vereitelt, und sein Gesicht war unverletzt geblieben. Doch er war sicher, daß sie zurückkommen würden. Dann würden sie allerdings keinen schwachen, willfährigen Juden antreffen. Er würde es mit ihnen aufnehmen, sie überwältigen und entkommen.
Wieder wurde ihm sein Essen gebracht, und er verzehrte es wie ein verwundetes Tier. Er sehnte sich glühend danach, sich für diesen Akt ungezügelten Hasses zu rächen. Zwei Tage lang tat er nichts als essen und ruhen. Er sammelte seine Kraft für den Augenblick, in dem sie wiederkommen würden. Die gelbliche Ausscheidung, die die runde Wunde bedeckte, begann sich zu einer Kruste zu verhärten; Alejandro wußte, daß die Heilung begonnen hatte, und dankte Gott, noch am Leben zu sein. Er schwor dem Himmel, dieses Leben nicht zu vergeuden.
Am dritten Tag und zu einer Zeit, zu der er sonst kein Brot und Wasser bekam, öffnete sich plötzlich die Tür, und sie blieb diesmal offen. Der zornige junge Gefangene wartete geduldig, bis seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten. Er blieb in seiner Zelle sitzen und sammelte all seine Entschlossenheit. Vorsichtig blickte er auf und sah im Durchgang außerhalb seiner Zelle die Silhouette eines Mannes. Er beschloß, noch zu warten, bevor er sich bewegte, und hoffte, sein neuer Gegner werde irgendeine verräterische Bewegung machen, eine Schwäche zeigen oder sich auf andere
Weise verraten. Wenn das geschah, würde er es ausnützen; er würde sich durch die offene Tür stürzen und mit dem vollen Zorn eines jungen Mannes, der um sein Leben kämpfte, über den Wärter herfallen.
In der offenen Tür erschien der Kopf des Wärters. »Jude? Zeigt Euch«, sagte eine Stimme.
Er kicherte in seinem Kerker und dachte bei sich, daß er dem Mann auf der anderen Seite der Tür wie von Sinnen erscheinen mußte. »Kommt doch herein und sucht mich, stinkender Feigling.«
Von draußen hörte er ein tiefes Lachen. »Für einen gefangenen Heiden wirkt Ihr erstaunlich kühn«, sagte eine Stimme.
»Dann kommt doch, und ich will Euch gern zeigen, wie tapfer ein Jude sein kann.«
»Ihr überschätzt meine Fähigkeiten, junger Mann«, sagte die Stimme. »Ich kann Euch im Dunkeln nicht sehen. Wie soll ich da entscheiden, ob Ihr tapfer seid? Man braucht helles Tageslicht, um die Tapferkeit eines Juden zu sehen. Kommt jetzt, habt Mitleid mit mir, ich bin ein Mensch von begrenzten Möglichkeiten. Zeigt Euch.«
Irgend etwas in Alejandro löste sich auf, ein Rest von Vernunft, den er trotz aller Hindernisse hatte bewahren können. Er löste sich auf, und er brüllte vor Wut.
»Dann seht Euch das an, Ihr Christenschwein!«
Er warf sich durch die Öffnung, rollte auf die Seite, sprang rasch auf die Füße und kauerte sich dann in einer tierischen Angriffshaltung zusammen, bereit, sich auf den Wärter zu stürzen.
Der einzelne Mann, der ihn erwartete, lachte über den traurigen Anblick des zerlumpten und schmutzigen Juden, der ihn anfauchte wie ein erschrockenes Tier. Mühelos trat er beiseite, als die erbärmliche Gestalt ihn ansprang, obwohl sie so offensichtlich im Nachteil war. »Ihr werdet es noch mal versuchen müssen«, sagte er, »aber ich warne Euch. Ich bin ein robuster Mann, und Ihr seid mir nicht gewachsen.«
Doch Alejandro beachtete ihn gar nicht, sondern stürzte blind von neuem auf ihn los. Hernandez packte einen seiner Arme, schleuderte ihn herum, griff nach dem anderen Arm und preßte beide auf dem Rücken des jungen Mannes zusammen. Alejandro wand sich vor Schmerzen, als die verbrannte Haut auf seiner Brust sich bei dieser Bewegung spannte. Sofort hielt er still, sogleich geschlagen. Tränen strömten über sein Gesicht, und er schämte sich, weil es ihm nicht gelungen war, seinem Wärter Schaden zuzufügen.
»Eduardo Hernandez, zu Euren Diensten, junger Pfau! Gestattet mir die Bemerkung, daß Ihr wenig tut, um die Annahme zu widerlegen, daß Juden nichts als Tiere sind. Schaut Euch an! Ihr kratzt und krallt Euch fest wie ein Weib!« Fröhlich riß er Alejandro herum und sah ihm ins Gesicht.
»Durch die Gnade Gottes, Eures oder meines, wer weiß das schon, bin ich hier, um Euch aus diesem Loch in Sicherheit zu bringen. Ich rate Euch, erweist mir die Achtung, die man einem Mann von meinem Wert und meiner Ritterlichkeit schuldet!«
Alejandro sank auf die Knie, völlig ausgelaugt; Hernandez mußte ihn in die Arme nehmen, damit er nicht zu Boden stürzte, und dabei merkte er, wie schmutzig er wirklich war. Er wandte den Kopf ab und äußerte sogleich eine Meinung zu Alejandros Verfassung. »Ihr stinkt schlimmer als ein französischer Edelmann; dem Zustand müssen wir abhelfen, wenn ich Euch den ganzen Weg bis Avignon begleiten soll.« Er lachte und fügte hinzu: »Vielleicht werde ich Euch taufen. Das könnte nicht schaden. Kommt mit mir, mein junger Herr, und laßt uns für Euer neues Leben sorgen. Zumindest könnt Ihr es in sauberem Zustand beginnen. Dann werden wir sehen, was Euch sonst noch not tut.«
Und sie gingen hinaus in das blendende Tageslicht. Alejandro stolperte blind dahin, mit erstaunlicher Sanftheit gestützt von dem riesigen Spanier, der zu seiner Rettung gekommen war. Hernandez warf seinen Gefangenen förmlich über den Sattel eines wartenden Pferdes, bestieg dann selbst ein zweites und übernahm auch die Zügel von Alejandros Reittier. Langsamen Schrittes machten sie sich auf den Weg. Hernandez gab acht, daß das Pferd seine Last nicht verlor.
Nicht weit entfernt gab es einen Bach in einer bewaldeten Gegend, von Bäumen beschattet und nicht einzusehen. Hernandez hob Alejandro vom Pferd und setzte ihn sanft ab. Dann begann er sofort, ihm die Lumpen vom Körper zu streifen. Als er dem jungen Mann das Hemd über den Kopf ziehen wollte, schrie Alejandro auf und drückte die Arme fest gegen seine Brust.
»Nun kommt schon, Jude; Schamhaftigkeit ist eine gute Sache bei einem Mädchen, aber bei einem Mann ist sie vergeudet!« Er versuchte erneut, ihm das Hemd auszuziehen, und nun sprach Alejandro endlich und sagte, das werde er selbst tun. Vorsichtig schlüpfte er aus den Ärmeln, löste das Hemd vorsichtig von seiner verwundeten Brust und gab Hernandez ein Zeichen, ihm das einst feste, aber nun zerfetzte Gewebe über den Kopf zu ziehen.
Als Hernandez den brennend roten Kreis dicht unter Alejandros Halsansatz sah, sog er überrascht die Luft ein. »Madre de Dios, junger Mann, welches Verbrechen habt Ihr begangen?«
»Überhaupt kein Verbrechen«, lautete die schnelle und ärgerliche Antwort. »Ich werde dafür bestraft, daß ich nach größerem Wissen gestrebt habe, um das Los aller Menschen zu verbessern, die unnötig unter Krankheiten leiden.«
Hernandez erkannte das Feuer des Eiferers in seiner Stimme. Aha, dachte er, der war es also. Er hatte von dem lokalen Aufruhr gehört, weil ein Händler aus seinem Grab geholt worden war, angeblich von einem Juden aus Cervere. Und obwohl Hernandez es für das beste hielt, die Angelegenheiten Gottes Gott zu überlassen, schauderte ihn doch unwillkürlich beim Gedanken an einen verwesenden Leichnam unter dem Messer des Arztes. Neugierig betrachtete er den drahtigen und exotisch aussehenden Mann, der den Mut gehabt hatte, etwas zu tun, was er selbst nie fertiggebracht hätte. Vielleicht ist mehr an ihm dran, als man auf den ersten Blick sieht, dachte er amüsiert.
Vorsichtig führte er Alejandro ans Ufer und bat ihn, in den kühlen Bach zu steigen. Er hat Glück gehabt, dieses Brandmal zu überleben! dachte Hernandez. Er hatte eine solche Verbrennung schon einmal gesehen; sie hatte grünen und gelben Eiter ausgeschieden und rasch die Kräfte des Opfers verzehrt, das delirierend und nach Wasser schreiend gestorben war. Hernandez sah zu, wie Alejandro in das Wasser stieg, und spähte neugierig nach seinem männlichen Glied, um die Auswirkung des Rituals zu sehen, das kurz nach der Geburt an allen jüdischen Knaben vollzogen wurde.
Bei diesem Gedanken erschauerte er von neuem, hob die Augen und bemerkte, wie vorsichtig der junge Mann die runde Wunde auf seiner Brust säuberte. Das bereitete ihm offensichtlich Schmerzen, denn er sog den Atem ein und verzog das Gesicht, als das Wasser die Wunde berührte.
Während er tropfnaß im Bach stand, wandte Alejandro sich an Hernandez und fragte, ob es bei ihren Mundvorräten auch Wein gebe. Hernandez nickte und ging hinüber zu den angebundenen Pferden. Er nahm eine Flasche aus einer der Satteltaschen. Überrascht beobachtete er dann, wie Alejandro sich nach hinten lehnte und sich den ganzen Inhalt der Flasche über die Brust goß; er zog eine Grimasse, während die Flüssigkeit über die kreisförmige Wunde rann.
»Also wirklich, junger Mann! Ich werde gut bezahlt für meine Aufgabe, aber nicht gut genug, um zu billigen, daß Ihr den guten Wein so achtlos vergeudet!«
Der Jude hatte seine Fassung zurückgewonnen und antwortete entschieden: »Ich bin Arzt, und ich habe bemerkt, daß Wunden, die mit Wasser und mit Wein ausgespült werden, besser und schneller heilen als unbehandelte. Wenn Ihr erwartet, daß ich an dieser Verletzung sterbe und Euch die Reise dadurch leichter mache, dann muß ich Euch enttäuschen. Den Gefallen werde ich Euch nicht tun.
Der Wein ist mir so von viel größerem Nutzen, als wenn ich ihn trinken würde.«
Alejandro stieg aus dem Wasser. Er fühlte sich jetzt kräftiger und erfrischt, nachdem er den Schmutz vieler Tage von seinem Körper abgewaschen hatte. Seine schmutzigen Lumpen waren das Verbrennen nicht wert; deshalb ließ er sie einfach am Ufer liegen, wohin sie gefallen waren.
»Ich nehme an, diese Packtasche enthält frische Kleider.«
»In der Tat. Allerdings habe ich sie selbst gekauft und weiß nicht, ob ihr Stil Euch zusagt.«
Heraus kamen Beinkleider, ein Hemd, Strümpfe, Stiefel, Weste und Hut. Alejandro hatte fast immer die traditionellen Gewänder seines Volkes und sehr selten Kleider im europäischen Stil getragen. Bei der letzten Gelegenheit in Cervere hatte das ein verheerendes Ende genommen und zu der elenden Lage geführt, in der er sich jetzt befand. Er hoffte, ähnliche Kleider würden auf andere Leute nicht eine ähnlich verheerende Wirkung haben.
»Na, Jude, jetzt seht Ihr ja fast normal aus. Man könnte sogar sagen, daß Ihr ansehnlich seid, wenn Euer seltsames Haar nicht wäre.«
Alejandro ging zum Ufer und schaute in die stille Oberfläche des ruhigen Baches. Zu seiner Überraschung sah er, daß Hernandez nicht übertrieben hatte. Abgesehen von seinen Schläfenlocken, sah er ganz wie ein moderner junger Europäer aus. Er war schockiert, wie unfromm dieser Einfall war, und trat rasch beiseite. Völlig undenkbar für ihn, auch nur den Versuch zu unternehmen, wie ein Christ auszusehen.
»Ich würde Euch raten, Euer Haar zu schneiden, denn es wird unterwegs nur Aufmerksamkeit erregen. Man wird annehmen, daß ein Jude in christlichen Kleidern auf der Flucht ist oder sich versteckt. Das macht unsere Reise nicht leichter.«
Alejandro war entsetzt über den Vorschlag. »Das kann ich nicht, denn es würde anderen Juden bedeuten, daß ich unseren Vertrag mit Gott entehre.«
»Lebend dient Ihr Eurem Gott besser als tot, junger Mann. Ich werde dafür bezahlt, daß ich Euch heil in Avignon abliefere, und ich denke, ohne diese verräterischen Locken seid Ihr sicherer. Überlegt es Euch noch einmal.«
Alejandro wollte sein Aussehen nicht weiter erörtern, und so verlangte er zu essen. Hernandez holte einen Laib frisches Brot und ein Stück Käse aus der Packtasche. Alejandro machte sich gierig darüber her, und Hernandez bemerkte: »Ihr eßt, als wäre das Eure letzte Mahlzeit, Jude. Habt Ihr vorher keinen Hunger gekannt?«
Alejandro sah seinen Begleiter mit unverhülltem Mißtrauen an und sagte: »Meine Familie ist wohlhabend.«
Hernandez grunzte. »Ja, das weiß ich.« Er reichte Alejandro ein kleines, in weiches Leder gehülltes Bündel. »Euer Vater bat mich, Euch das zu geben«, sagte er. »Ihr sollt es öffnen, bevor wir unsere Reise antreten.«
Alejandro ging ein wenig beiseite, um unbeobachtet zu sein, und löste die Schnur, die das Päckchen zusammenhielt. Vorsichtig schälte er eine Lederhülle nach der anderen ab. Sie enthielten mehrere Gegenstände, und er untersuchte sie nacheinander. Der erste war eine Börse mit Goldmünzen, mehr, als er je zuvor auf einmal gesehen hatte. Er betastete die Münzen und ließ sie dann wieder in die Börse gleiten, froh über das Gefühl der Sicherheit, das ihr Gewicht ihm gab; er achtete jedoch darauf, Hernandez ihr Klimpern nicht hören zu lassen. Auf seiner Reise nach Avignon würde es ihm an nichts fehlen. Außerdem hatte sein Vater ihm einen Gebetsschal, ein gefährlich scharfes Messer und den Brief des Bischofs geschickt, der ihm sicheres Geleit nach Avignon gewährte. Es gab noch ein paar weitere Gegenstände, die seiner Bekleidung und Körperpflege dienten, darunter ein Kamm und eine kleine Phiole mit Nelkenöl gegen Zahnschmerzen und entzündete Wunden. Doch das wichtigste war, daß sein Vater ihm sein Buch geschickt hatte. Er wußte, daß dies der kostbarste Besitz seines Sohnes war. Ehrfürchtig hielt Ale- jandro es ein paar Augenblicke in den Händen, ehe er es niederlegte.
Der letzte Gegenstand, den das Bündel enthielt, war ein weiterer Brief, zur Sicherheit mit Wachs versiegelt. Alejandro erbrach das Siegel und entrollte das Pergament vorsichtig.
Mein lieber Sohn,
für uns haben die Dinge eine sehr schlechte Wendung genommen. Ich habe für Deine Freilassung gesorgt in der Hoffnung, daß Du Dich später hier bei uns meldest und uns wissen läßt, wohin Du gegangen bist, doch dieser Verräter von einem Bischof hat uns betrogen.
Als ich ihn verließ, war vereinbart, daß Du mit einem Begleiter (mit dem Du nun, da Du diesen Brief liest, unterwegs bist) freies Geleit nach Avignon erhalten würdest. Ich habe das Pergament, auf dem die Schulden des Bischofs verzeichnet waren, vor seinen Augen verbrannt und damit meinen Teil des Handels eingehalten.
Doch inzwischen hat dieser Schurke angeordnet, daß unsere Familie Cervere innerhalb von zwei Tagen verlassen muß und niemals zurückkehren darf. Wir haben hastig unsere Besitztümer verkauft, und Onkel Joachim hat von uns die restlichen Schuldnerkonten erworben.
Mein eigener Spion hat den Boten des Bischofs bestochen und uns vom Inhalt seines Schreibens unterrichtet. Gib acht auf Dein Gesicht, damit das Brandeisen keine Narben hinterläßt. Deine Mutter ist völlig außer sich über Deine Entstellung. Ich habe ihr versichert, daß Du wissen wirst, wie Du Dich heilen kannst, und daß Entstellung eine geringfügige Angelegenheit scheint, verglichen mit dem Tod. Ich hoffe, Du hast keine Schmerzen und leidest nicht an einer eiternden Wunde; wasche sie gründlich, wie Du mir so oft angeraten hast.
Wir werden ebenfalls nach Avignon reisen; wenn wir unversehrt ankommen, werden wir bei der Familie des örtlichen Rabbiners Nachricht über unsere Lage hinterlassen; er wird auch einen Brief von Dir an uns entgegennehmen.
Geliebter Sohn, Du mußt verstehen, daß Du ein Gejagter bist. Die Familie von Carlos Alderon hat geschworen, sich an Dir zu rächen, weil Du ihren Patriarchen so unsanft aus seiner Totenruhe gerissen hast, und es gibt Gerüchte, ein abtrünniger Jude sei unterwegs nach Avignon. Du mußt Dich also verbergen. Gott wird Dich nicht dafür strafen, daß Du am Leben bleibst. Tu, was Du mußt, um Avignon sicher zu erreichen, denn so Gott will, werden wir dort wieder vereint
Dein Dich liebender Vater
Alejandro spürte eine Berührung an der Schulter. Sie war erstaunlich freundlich und sanft. »Wir sollten bald aufbrechen«, hörte er Hernandez sagen.
Alejandro rollte das Pergament sorgfältig zusammen; er wußte, es würde ihm noch ans Herz wachsen. Nachdem er das scharfe Messer in seinen Stiefelschaft und die Briefe in seine Weste geschoben hatte, verschnürte er das Bündel wieder und verstaute es in seiner Satteltasche. Er bestieg das Pferd und überraschte Hernandez mit seiner Gewandtheit.
»Señor Hernandez«, sagte er, »bitte, laßt mich noch eine Aufgabe erfüllen. Mein Vater hat mich in seinem Brief angewiesen, dem Bischof eine Botschaft zu überbringen, ehe wir aufbrechen.«
Hernandez grunzte mißmutig, stritt sich aber nicht mit seinem jungen Herrn. Er wendete sein Pferd in Richtung auf den palastartigen Bischofssitz, und in raschem Trab machten sie sich auf den Weg.
Alejandro wunderte sich selbst, wie schnell er sich daran gewöhnte, auf einem Pferd zu reiten; das war neu für ihn, denn meistens hatte er sich auf einem von einem Maulesel gezogenen Wagen fortbewegt. Sie ritten flott über die holperigen, staubigen Straßen, und ehe er sich versah, hatten sie das Kloster erreicht, in dem sein Vater den schicksalhaften Handel mit dem Bischof abgeschlossen hatte.
Er sprang vom Pferd, wieder überrascht, wie sicher er auf den Füßen landete, und reichte Hernandez die Zügel. Dann ging er zum Tor des Klosters. Ehe er eintrat, nahm er sein Messer heraus, schnitt sich die Schläfenlocken ab und ließ sie an Ort und Stelle zu Boden fallen. Er sah zu, wie das lockige schwarze Haar auf die Erde fiel, der letzte Überrest seiner Bindung an diesen Ort und das geliebte Volk, dem seine Familie und Gemeinde angehörten; als die Locken den Staub zu seinen Füßen erreichten, war er ein neuer Mensch mit einem neuen Leben und einer Vergangenheit, von der er sich lossagen mußte.
Er ließ die Locken liegen, wohin sie fielen, und ging kühn zum massiven Tor des Klosters. Den Mönch, der es öffnete, grüßte er auf Spanisch und sagte, er habe von einem seiner Gläubiger eine Botschaft an den Bischof, und sie müsse ihm persönlich ausgehändigt werden. Der Mönch antwortete, er wolle das ja gern tun, aber der Bischof sei gerade ins Gebet vertieft und dürfe nicht gestört werden.
Wahrscheinlicher ist, daß er mit einer hübschen jungen Gefährtin im Bett liegt, dachte Alejandro bei sich, denn er hatte allerhand Geschichten gehört. Er nahm die Briefe aus seiner Weste, zeigte dem Mönch seinen Geleitbrief mit dem leicht zu erkennenden Siegel des Bischofs und dann das auf Hebräisch abgefaßte Schreiben; er sagte, nur er allein könne es übersetzen.
Als der Mönch sah, daß der Bischof diesem Mann mit eigener Hand einen Geleitbrief ausgestellt hatte, ließ er ihn ein. Er fragte sich, was der lange Brief in der heidnischen Schrift wohl enthalten mochte, den ein so ungewöhnlicher Bote überbrachte, entschied aber dann, das herauszufinden besser dem Bischof zu überlassen. Er führte den jungen Mann zur Tür des Salons und klopfte leise an.
»Herein«, sagte der Bischof.
Der Mönch winkte Alejandro durch die hohe Tür in den üppig ausgestatteten Raum. Alejandro war einen Moment beeindruckt von der Großartigkeit der Möbel und sah sich staunend um.
Der Bischof beäugte ihn argwöhnisch, während er den Salon musterte. »Nun, junger Reisender, Gott mit Euch. Kann ich etwas für Euch tun?«
»Herr, ich habe eine Botschaft von einiger Wichtigkeit, die hier auf dieser Schriftrolle steht.«
»Bringt sie her und laßt sie mich bei Licht betrachten.«
Während Alejandro näher trat, griff er in seine Weste und nahm den zusammengerollten Brief heraus. Er händigte ihn dem Bischof aus, der einen Augenblick brauchte, um das Band zu lösen, ehe er das Pergament entrollte.
Verblüfft sah er zu Alejandro auf und sagte: »Was ist das für ein Scherz, eine Botschaft in der heidnischen Schrift der Juden?«
»Es ist ein Anerkennungsschreiben Eures großen Bewunderers Avram Canches. Er wünscht Euch für Eure Freundlichkeit und die gerechte Behandlung zu danken.«
Ein Ausdruck großer Furcht breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus, und das freute Alejandro. Der Bischof wich zurück, denn er ahnte, was auf ihn zukam. Alejandro verschwendete keine Zeit. Er zog das Messer aus seinem Stiefel und stieß es tief in die Brust des zurückweichenden Geistlichen.
Als er die schlaffe Gestalt auf dem Boden vor sich sah und beobachtete, wie das Blut sich auf der Vorderseite seines prächtigen Gewandes ausbreitete, wunderte sich Alejandro, daß er, ein Arzt und Heiler, so ruhig das Leben eines anderen menschlichen Wesens beenden konnte. Er hatte geschworen, vor allem keinen Schaden zuzufügen, und hier in diesem luxuriösen Salon hatte er ohne Zögern und völlig gnadenlos einem Menschen den äußersten Schaden zugefügt. Er sah sich selbst in einem Spiegel. Wer ist dieser Schwindler? fragte er im stillen sein fremd aussehendes Spiegelbild. Er nahm dem Bischof die Schriftrolle aus der Hand, schob sie in eine Tasche seines Hemdes, wischte dann das Blut des Verräters von seinem Messer und steckte es wieder in den Stiefel. So leise, wie er eingetreten war, ging er auch wieder hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Dann schritt er, als sei nichts geschehen, durch die Gänge der Abtei und traf draußen Hernandez. Sie wendeten ihre Pferde nach Osten und machten sich auf den Weg nach Avignon.