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Janie und Caroline standen an einem Tisch im Hauptlabor der mikrobiologischen Abteilung des British Institute of Science, umgeben von Glas und poliertem Chrom und weißem Plastiklaminat. Das Labor befand sich in einem alten Gebäude mit altmodischen Merkmalen: hohen Decken, großen Fenstern, widerhallenden Echos, vielleicht sogar einem Gespenst, dachte Janie. Ehrfürchtig und überwältigt standen sie in der Mitte eines Raumes, der sowohl die würdige Autorität des Alters als auch die einschüchternde Macht der Technologie verkörperte. »So was hab ich noch nie gesehen«, sagte Janie. »Mein Gott, was würde ich dafür geben, hier einen Monat herumspielen zu dürfen.«

Der Techniker, der sie gerufen hatte, damit sie sich ansahen, was er in der letzten Röhre voll Erde gefunden hatte, lachte laut.

»Passen Sie bloß auf, daß Ihnen keiner von Biopol über die Schulter guckt. Und wenn Sie wirklich herumspielen wollen, dann lassen die Sie solche Kleider anziehen.« Er wies auf ein nahes Regal mit Biosafe-Ausrüstungen, alle vom gleichen unange- nehmen Grün, das Janie schon an den Biocops auf dem Flughafen gesehen hatte.

»Die Farbe steht mir nicht«, sagte sie lächelnd.

»Die steht keinem«, sagte er und erwiderte flirtend ihr Lächeln. »Ich weiß nicht, wer sie ausgesucht hat, aber er sollte jedenfalls wegen Verschwörung zum Zwecke visueller Selbstverstümmelung vor Gericht gestellt werden.«

»Mindestens wegen Verschwörung zur Verursachung von Kopfschmerzen«, warf Caroline ein.

Der Techniker war auf eine sehr urbane und überaus britische Art charmant. »Richtig«, sagte er. »Nun also, ich glaube, diese Kleinigkeit dürfte für Sie von Interesse sein.« Er reichte Janie ein kleines Stück Stoff, annähernd kreisförmig und etwa so groß wie der Durchmesser der Röhre, in der er es gefunden hatte. »Der Form nach würde ich sagen, daß Sie mitten durch das Zeug geschnitten haben, als Sie die Röhre in den Boden gedreht haben.«

»Ich würde sagen, daß es ein bißchen gedehnt wurde, bevor die Fasern nachgaben«, sagte Janie. »Sehen Sie diese kleinen Zacken? Die können nur entstanden sein, indem es im Boden ein bißchen gedreht wurde. Ein größeres Stück von dem Zeug muß da unten noch liegen.«

Während sie das faszinierende Stück in der Hand hielt, verging Janies frühere Scham über die »illegale« Aneignung des Bodens und wich der Erregung darüber, daß sie etwas Bedeutsames darin gefunden hatte. »Es ist in bemerkenswert gutem Zustand«, sagte sie. Sie maß die Entfernung von der Spitze der Röhre bis zu der Markierung, die anzeigte, in welcher Tiefe der Gegenstand sich befunden hatte. »In dieser Tiefe könnte es vor mehr als fünfhundert Jahren dort abgelegt worden sein, aber es weist kaum Verfall auf. Vermutlich, weil der Boden hier in der Gegend so torfig ist. Kaum luftdurchlässig. Ich wette, wir sehen nicht mehr so gut aus, wenn uns mal einer ausgräbt.« Sie gab dem Labortechniker den kleinen Kreis aus Stoff, dessentwegen er sie angerufen hatte, wieder zurück und sagte: »Damit werden wir allerhand Spaß haben, wenn wir in die Staaten zurückkommen.«

»Möchten Sie gleich jetzt einen Blick darauf werfen?« fragte er.

Sofort kam ihr eine Liste unausgesprochener Fragen in den Sinn. Wer hat es dort abgelegt? Wann? Wo ist es gewesen, bevor es seinen endgültigen Ruheplatz fand? Sie bedachte all diese Unbekannten und merkte, daß die Faszination, sie zu entziffern, der Grund war, warum ihr erzwungener Wechsel von der Chirurgie zur Forensik ihr weniger schrecklich erschien als die anderen Möglichkeiten. Trotzdem zögerte Janie. »Vielleicht sollten wir besser warten«, sagte sie. »Jetzt, wo wir alle Bodenproben haben, können wir uns richtig an die Arbeit machen. Ich möchte nicht von etwas abgelenkt werden, was nicht eigentlich zum Projekt gehört, obwohl ich zugeben muß, das das wirklich ein hübscher Fund ist. Vielleicht kann ich ihn irgendwie in die Doktorarbeit einbauen, aber im Moment geht es mir mehr darum, die Arbeit zu beenden, die schon drinsteckt.« Sie sah den Techniker direkt an. »Wir sind bereit, heute mit den chemischen Untersuchungen anzufangen, wenn Sie Zeit haben.« Sie wollte damit, ohne ihn unter Druck zu setzen, zu verstehen geben, daß es ihr nicht gerade das Herz brechen würde, wenn die Laborarbeit schnell beginnen könnte.

Aber der Techniker schien sie nicht zu verstehen. Er sagte: »Ich hab hier noch ein paar unerledigte Sachen, die ich zuerst abschließen muß, bevor ich mir Ihre Arbeit vornehmen kann. Für mich wäre Montag besser. Dann kann ich Ihnen ein paar Tage meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, und Sie können nach Hause fahren. Aber ich habe genug Zeit, um jetzt sofort einen raschen Blick zu riskieren, wenn Sie wollen.«

»Ach, kommen Sie, Janie«, sagte Caroline, deren Interesse offensichtlich war. »Werfen wir nur mal einen Blick drauf. Was kann das schaden?«

Was kann das schaden? fragte sich Janie. Wahrscheinlich nichts. Aber trotzdem ...

Janie schaute zu dem kleinen Stoffkreis hinüber und fragte sich, warum der Anblick ihr gerade genug Gänsehaut verursachte, um irgendeinen undeutlichen inneren Alarm auszulösen, sie begriff nicht, was den Wunsch in ihr weckte, das Ding in Ruhe zu lassen, aber irgend etwas hielt sie eindeutig zurück; sie konnte es nicht anders bezeichnen als ein Empfinden, diesen speziellen Gegenstand an diesem speziellen Tag besser sich selbst zu überlassen. Doch im Gegensatz zu ihrer vorsichtigeren Chefin wollte Caroline ihre Neugier sofort befriedigen.

»Es dauert bloß ein paar Minuten«, sagte sie. »Wir haben diese ganzen Grabungen durchgeführt, teilweise unter sehr interessanten Umständen, möchte ich hinzufügen, und bisher ist alles, was wir dafür aufzuweisen haben, Dreck unter den Fingernägeln und ein Stückchen Stoff. Mit dem Dreck werden wir den ganzen Montag zubringen. Wie wär’s, wenn wir uns zur Abwechslung heute mal ein bißchen mit dem Stoff amüsieren würden?«

Janie war überrascht über den frustrierten Unterton in Carolines Kommentar. Manchmal vergaß sie, daß Caroline hier war, weil sie so eine Gelegenheit zu lernen hatte, die ihr sonst nicht geboten worden wäre, eine Gelegenheit zu reisen, die sie vielleicht nie wieder bekommen würde. Sie war auf

Janies Kosten vorausgeflogen, um alles vorzubereiten, und hatte ihren Teil des Handels mit Fleiß erfüllt. Aber irgendwie nahm sie inzwischen genausoviel Anteil an dem Projekt wie Janie, obwohl Janie sicher war, daß sie das nach den Schwierigkeiten der letzten Tage mehr als einmal bereut hatte. Janie stellte fest, daß Carolines Interesse auch sie plötzlich wieder inspirierte, und so gab sie wider besseres Wissen nach.

»Ich denke, ein bißchen Spaß haben wir uns verdient«, sagte sie, »aber laßt uns vorsichtig sein. Eigentlich haben wir nicht die richtige Ausrüstung, und hier haben wir es mit Geschichte zu tun.«

Der Techniker führte sie zu einem Computer in der Nähe der Labormitte und stellte drei Stühle so auf, daß sie alle den Bildschirm gut sehen konnten. Er schaltete das System ein und befestigte den Stoff mit Hilfe eines schwachen Vakuums. Der Stoffkreis war ein bißchen größer als die Platte des Mikroskops, also mußte er ein wenig verschoben werden; Janie sah zu und zuckte jedesmal zusammen, wenn der Techniker das tat; sie fragte sich, welche mikroskopischen Schätze dabei jeweils verlorengingen. Endlich war der Stoff richtig plaziert, und sie stellten die erste Vergrößerung ein.

»Die Fasern sind wirklich in gutem Zustand«, sagte Janie. »Deswegen denke ich fast, es könnte Wolle sein.« Doch als sie die Fasern immer weiter vergrößerten, sah sie die vielsagenden langen Streifen, die auf die Wahrscheinlichkeit eines pflanzlichen Ursprungs hindeuteten, und änderte ihre Meinung. »Leinen vielleicht«, sagte sie, »obwohl ich nicht glaube, daß das so gut erhalten wäre. Sieht aus, falls es jemals Farbstoff enthielt, als ob der mit der Zeit verblichen wäre. Aber es gibt wenig Fluktuation in der Gesamtfarbe, deshalb vermute ich, daß es ursprünglich weiß war.«

Das seltsame Artefakt schien nach ihr zu rufen, sie näher heranzuwinken. Sie gehorchte und beugte sich dichter an den Bildschirm, um besser zu sehen. Je genauer sie hinschaute, desto neugieriger wurde sie, fast wider Willen. »Können Sie es noch ein bißchen stärker vergrößern?« sagte sie.

Der Techniker antwortete darauf, indem er mit der Computermaus ein Menü aufrief. Er klickte den Vergrößerungsbefehl an und wählte einen Prozentsatz. Fast sofort erschien ein neues Bild auf dem Schirm, und die Fasern waren nun doppelt so groß wie vorher.

Sie prüften den Ausschnitt, und Janie bat um eine noch stärkere Vergrößerung. Der Techniker tat ihr den Gefallen und wiederholte den Befehl auf ihre Anweisung hin so lange, bis jede vergrößerte Faser auf dem Bildschirm wie ein Baumstamm aussah. Sie bewegten den Ausschnitt auf und ab und hin und her, verschoben das Bild und hielten gelegentlich inne, um besonders interessante Punkte zu betrachten. Alles in allem, dachte Janie, ist da nicht so viel zu sehen, wie zu erhoffen war. Doch gerade als sie anfing, das Interesse zu verlieren, erschien auf dem Bildschirm verblüffend klar eine einzelne Zelle.

»Halten Sie da an«, sagte sie rasch und zeigte auf das Bild.

Sowohl Caroline als auch der Techniker, auf dessen Namenschildchen »Frank« stand, sogen die Luft ein, als sie die Zelle auf dem Bildschirm sahen.

»Schauen wir uns das näher an«, sagte Janie, und Frank gehorchte, indem er die Vergrößerung noch einmal steigerte und die Zelle auf dem Bildschirm zentrierte. Das Bild war leicht verschwommen; Frank aktivierte die automatische Scharfeinstellung, und es wurde etwas klarer.

Doch die Schärfe stellte Frank nicht zufrieden. Mit offenkundig erregter Stimme sagte er: »Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben, kann ich es Ihnen noch schärfer einstellen. Es gibt ein paar Filter, die ich einsetzen kann.«

»Nur zu«, sagte Janie eifriger, als ihr selbst lieb war.

Er spielte ein bißchen mit der Maus herum und tippte dann ein paar Werte in eine Bildschirmmaske. Eine elektronische Korrekturwelle rollte von oben nach unten durch das Bild und hinterließ ein mit vollkommener Schärfe erkennbares Bakterium.

Es war ein rundlicher, aufgeblähter kleiner Torpedo mit spinnenartigen Geißeln, die sich nach allen Seiten ausbreiteten. Während Janie seine tote Starre betrachtete, konnte sie sich die wellenförmigen Bewegungen dieser Geißeln am lebenden Bakterium vorstellen, wie sie durch die Nährflüssigkeit gingen, in der es einst lebte. Daraus, daß auf dem Stoff keine Blutflecken zu sehen waren, schloß sie, daß das Bakterium in Schweiß, Tränen oder vielleicht Speichel enthalten gewesen war. Sie konnte den Stoff in John Sandhaus’ Universitätslabor auf Spuren dieser Körperflüssigkeiten untersuchen.

»He, hoppla«, sagte Frank und grinste über ihren Fund. »Was für ein hübsches kleines Exemplar das ist! Sieht aus wie irgendein Enterobakterium, obwohl es keins ist, das ich auf Anhieb erkennen könnte.«

Caroline stieß einen leisen, erstaunten Pfiff aus. »Sehr hübsch, wirklich sehr hübsch.«

Janie behielt ihre Gedanken für sich. So einfach und perfekt, und so unglaublich gut erhalten, dachte sie. Uneingeladen schlich sich ein anderer Gedanke ein. Gefährlich, lautete er. Sie wußte, daß sie die Geschichte dieser Mikrobe weiter verfolgen würde, wenn sie nach Hause kamen, und dachte, sie könne ihr vielleicht sogar zusätzliche Informationen für ihre Doktorarbeit geben. Doch sie jagte ihr Schauder über den Rücken, und sie wußte nicht, warum. Weder Caroline noch Frank schienen ähnlich darauf zu reagieren.

»Können wir diese Stelle irgendwie markieren?« fragte sie, da sie plötzlich den Wunsch hatte aufzuhören. »Ich würde sie gern wiederfinden können, ohne nochmal das ganze Stück durchsehen zu müssen.«

»Ich kann eine chemische Farbmarkierung anbringen«, sagte Frank. »Wir können einen kleinen Fleck markieren und als Suchdatei festhalten. Später können Sie die Datei dann wieder öffnen und das Programm anweisen, die entsprechende Stelle auf dem Stoff zu suchen, und Sie können dieselbe Datei mit nach Hause nehmen und mit Ihrem eigenen Computersystem dasselbe machen. Die meisten Biomed-Programme sind darauf eingerichtet, bestimmte Farbstoffe aufzufinden. Ich kann einen sehr gebräuchlichen nehmen, zur Sicherheit. Wir können dieses Bild jetzt auch ausdrucken, wenn Sie möchten, und ich kann die gesamte Datei auf einer separaten Diskette sichern, die Sie mit in die Staaten nehmen können.«

Janie, die vor sich selbst zu rationalisieren versuchte, daß sie ihren zarten Fund potentiell schädigender Feuchtigkeit aussetzte, antwortete: »Es ist in seiner Geschichte wahrscheinlich mehr als einmal naß geworden, also denke ich, ein bißchen Farbe wird es nicht umbringen. Es ist ja ohnehin schon tot.«

Er nickte. »Ich markiere es jetzt gleich, und dann sollten wir es für ein Weilchen nicht anrühren, damit die Färbung sich so wenig wie möglich ausbreitet. Wenn Sie wollen, kann ich es für Sie so verpacken, daß es morgen rausgehen kann.«

»Das wäre prima«, sagte Janie, erleichtert, daß ihr die Last der Exportdokumentation abgenommen war. »Sie sind ja sicher mit Ihren eigenen Bioexport-Prozeduren sehr viel vertrauter als wir. Dürfte ich Sie bitten, die Abbildung auf dem Bildschirm zweimal auszudrucken? Einen Ausdruck würde ich gern meinem Doktorvater in Amerika schicken. Ich möchte seine Meinung darüber hören. Er läßt die Bilder durch ein paar Programme laufen, und wenn wir zurückkommen, erwarten uns Unmengen von Daten.«

»Kein Problem.«

Er schaltete den 3600 DPI-Laserdrucker ein und holte dann das Dateimenü auf die obere Randleiste des Bildschirms. Er klickte den Befehl an, die Datei zu sichern. »Denken Sie sich einen Namen dafür aus«, sagte er zu Janie.

Nach einem Augenblick des Nachdenkens sagte sie: »Gertrude. Wir benennen sie nach meiner Großmutter. Von ihr stammen meine ersten finanziellen Mittel.«

»Guter Name«, sagte er, während er die Buchstaben eintippte. »Also Gertrude.« Er ließ das Bild zweimal ausdrucken, gab beide Ausdrucke Janie und sicherte ihr zu, er werde gut auf das Original achtgeben.

Janie und Caroline gingen, und Frank blieb allein mit dem geheimnisvollen Geschöpf. Er suchte sich verschiedene Mittel und Werkzeuge zum Färben zusammen, darunter auch eine sehr kleine Spritze mit Durchflußsperre. Bei der gleichen Vergrößerung wie zuvor ließ er einen winzigen Tropfen Färbemittel austreten, der in die Fasern des Stoffes floß und die einzelne Zelle überflutete. Mit der Maus zeichnete er einen Kasten um das gefärbte Bild auf dem Computerschirm und gab den Befehl, den eingegrenzten Bereich als separate Datei zu speichern. Dann verließ er das Mikroskop und wandte seine Aufmerksamkeit einer Liste anderer Laboraufgaben zu, die auf ihn warteten, während der Farbstoff absorbiert wurde.

Kurze Zeit später kam er zurück, um die Probe vom Objektträger des Mikroskops zu nehmen. Aus reiner Neugier beschloß er, noch einen Blick darauf zu werfen, ehe er alles verpackte. Er setzte sich auf den Stuhl und schaute auf den Bildschirm.

Gertrude hatte sich bewegt.

Er sah noch einmal genauer hin; das war nicht möglich. Das Bakterium war tot und konnte sich überhaupt nicht bewegen. Er dachte, vielleicht hätte er seine ursprüngliche Position falsch im Gedächtnis. Ohne das Programm zu stoppen, zog er das Printmenü vom oberen Rand des Bildschirms herunter und gab den Befehl ein, die vorhin gespeicherte Datei auszudrucken. Gespannt sah er zu, wie die Seite langsam aus dem Drucker kam, nahm sie heraus, als sie endlich fertig war, und verglich die ausgedruckte Seite mit dem Bildschirm.

Gertrude hatte sich eindeutig bewegt. Sie muß sich bloß totgestellt haben ... Er speicherte das, was sich auf dem Bildschirm befand, als neue Datei, die er diesmal nach sich selbst »Frank« nannte. Muß im Keimstadium gewesen sein ... Er grenzte den unmittelbaren Zellbereich ab und löschte alles andere vom Bildschirm; diese kleinere Datei speicherte er dann als Frank2 und verließ das Programm.

Er schäumte über vor Erregung; solche Dinge passierten nicht alle Tage, und er konnte es kaum erwarten, jemandem von dem zu erzählen, was er über die Mikrobe herausgefunden hatte. Rasch durchwühlte er auf seinem Schreibtisch einen Stapel loser Zettel, die kleine Informationen enthielten, die er nicht vergessen durfte, fand die Telefonnummer von Janies Hotel und wählte sie. Doch nachdem der Anruf von der Zentrale durchgestellt worden war, meldete sich niemand unter ihrer Zimmernummer.

»Verdammt«, sagte er. Äußerst frustriert legte er auf und ging zum Computer zurück. Er überlegte, ob sie anderswohin gefahren sein könnte als in ihr Hotel.

Nach einigen Augenblicken des Tippens und Klickens war das Bild des Bakteriums erfolgreich über Modem auf ein anderes System übertragen, das in der Nähe stand und ein Programm namens Microorganism Identification Catalog, kurz MIC, enthielt. Von allen Leuten, die im Institut arbeiteten, kannte Frank die Nuancen dieses speziellen Programms am genauesten, und binnen Sekunden hatte er es aufgerufen und aktiviert. Es enthielt Dateien von Tausenden bekannter Mikroben in graphischem Bildformat und konnte diese Dateien mit einem neu eingespeisten Bild vergleichen, um eine vorläufige visuelle Identifizierung vorzunehmen.

Er rief die Datei Frank2 auf und wies das Programm dann an, nach einer Entsprechung zu suchen. Nach einigen Minuten gab das System einen freundlichen Piepser von sich und kündigte damit seine Entscheidung an.

VORLÄUFIGE KATEGORISIERUNG: ENTE-ROBAKTERIUM

Wieder richtig, Frank! dachte er triumphierend. Seine Erregung wuchs weiter. Er wies das Programm an, die Suche zu vertiefen.

PRÜFE DATEIEN FÜR SUBKATEGORIEN Cedeacea Citrobacter E. Coli Edwardsiella Erwinia Hafnia Klebsiella Kluyvera Morganella Providencia Proteus Salmonella Serratia Shigella Yersinia Großer Gott! dachte er. Was für eine bösartige kleine Versammlung! Fähig, eine wahrhaft exklusive Auswahl von inneren Krankheiten auszulösen, von denen die meisten den Wirtsorganismus entweder umbrachten oder veranlaßten, um einen schnellen Tod zu beten. Das Programm setzte seine Sortierarbeit fort, indem es Möglichkeiten verwarf, während jedes Merkmal identifiziert und mit den bekannten Proben verglichen wurde. Schließlich, nach einigen Augenblicken, ließ der Computer eine Art elektronischer Fanfare erklingen, um sich selbst zu beglückwünschen, bevor er MICs Entscheidung bekanntgab.

»Entzückend«, sagte Frank laut, obwohl ihn keiner hören konnte. »Ganz süß. Also, was haben wir da?«

 

Yersinia pestis

  • Wahrscheinliche Genauigkeit: 98 %
  • Identifizierung beendet.

 

Kein alltägliches Enterobakterium, dachte er, sonst würde ich es besser kennen. Yersinia pestis. Er erinnerte sich vage, das Yersinia-Bakterium irgendwann einmal studiert zu haben, aber offensichtlich war es in Großbritannien nicht aktiv, sonst hätte er Memos darüber bekommen. Frank verließ den Computer und ging zu dem weit entfernten Bücherregal. Er zog einen Band heraus, fuhr mit dem Finger ungeduldig an den Indexspalten entlang und fand endlich den gewünschten Eintrag. Rasch schlug er die angegebene Seite auf und las die relevanten Informationen.

Als er sich dem unteren Rand der Seite näherte, stieß er einen leisen Pfiff aus. »Mein Gott ...« flüsterte er.

Er nahm den Band mit zum Computer und verglich die Diagramme im Buch mit dem Organismus auf dem Bildschirm. Während er noch schaute, erzitterte die Mikrobe; ihre Ränder bebten von der ungeheuren Anstrengung, sich nach so langem Schlaf zu bewegen. Unwillkürlich sprang Frank zurück und preßte das Buch an seine Brust, als wolle er sich schützen.

Er legte den schweren Band ab. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, als könne die Mikrobe jederzeit heraushüpfen und ihn mit all ihrer vergrößerten Wucht anspringen, tastete er hinter sich, bis er einen Stuhl fühlte. Er zog ihn heran und setzte sich vorsichtig hin. Fasziniert sah er zu, wie die Mikrobe weiter kämpfte, fasziniert von ihrem gewundenen Tanz, und fragte sich, was sie wohl zu erreichen versuchte. Diese Art von Organismus, die zu den einfachsten auf der Erde gehörte, war auf zwei wesentliche Aktivitäten beschränkt: Sie konnte entweder Nahrung aufnehmen oder sich durch Teilung vermehren. Und essen tat sie entschieden nicht.

Sie versuchte sich zu verdoppeln! »Das kleine Farbbad hat dir gefallen, was, Herzchen?« sagte er. Offensichtlich erfrischt, hatte Gertrude einige hundert Jahre reglosen Schlafes abgeschüttelt und versuchte, ihren normalen Lebenszyklus wieder aufzunehmen. Frank starrte auf den Bildschirm und sah mit frustrierter Faszination zu, wie die Ränder der Kreatur ohne Ergebnis bebten - ein winziger Houdini, in Ketten gefesselt, nur einen Augenblick vom tödlichen Verschlucktwerden entfernt ... er war fast versucht, sie anzufeuern.

Seine Konzentration wurde vom Klingen des Autoklav-Timers und dem plötzlichen Aussetzen des leisen Hintergrundgeräuschs gestört, das sonst alle Operationen begleitete; das Geräusch störte Frank normalerweise nicht, er bemerkte es nicht einmal, bis es aufhörte und ihm auffiel, wie irritierend es eigentlich gewesen war. Er fluchte lautlos, sah auf seine Uhr und stellte fest, daß er über der winzigen Kreatur der Amerikanerin die Zeit vergessen hatte, sehr zum Schaden seines täglichen Arbeitspensums. Mit einiger Sorge wurde ihm klar, daß er wieder mal seinem Ruf gerecht wurde, immer zu spät dran zu sein, eine Unart, die er bei jeder jährlichen Leistungsbewertung vehement leugnete. Er hatte noch eine Liste von Materialien für ein anstehendes Projekt bereitzustellen und Post zu erledigen, und die Entdeckerin der ablenkenden Mikrobe auf dem Bildschirm vor ihm hatte er noch immer nicht erreicht. Rasch wählte er die Nummer; wieder ging niemand ans Telefon. Diesmal hinterließ er eine Nachricht; Janie sollte sich so bald wie möglich bei ihm im Labor melden.

Er betrachtete noch einmal Gertrude; sie zuckte und bebte noch immer. »Komm schon, Mädchen, du schaffst es ...«, flüsterte er dem Bild auf dem

Schirm zu. »Komm doch .« Aber sie fiel schließlich in ihre ursprüngliche Position zurück und hörte auf, sich zu bewegen, erschöpft von ihren Anstrengungen. Für mehrere lange, lange Minuten unternahm sie keine Versuche mehr, sich zu verdoppeln, und Frank riß sich widerwillig vom Bildschirm los. Er ging durch das Labor zu der Tür, auf der BIOLOGICAL COLD STORAGE stand und hinter der biologisches Material gekühlt gelagert wurde. Dort blätterte er das gedruckte Inhaltsverzeichnis durch und suchte nach einer bestimmten Probe, die er auftauen mußte. Er prüfte Seite um Seite lateinischer Bakteriennamen, jeder mit einem Datum und einem Code für den Ort seiner Unterbringung im Lagerregal versehen; rasch fuhr er mit dem Zeigefinger an der alphabetischen Liste entlang. Bei Palmerella Coli hielt er inne, es handelte sich um eine Familie von Enterobakterien, die man so gezüchtet hatte, daß sie Zellteile besaß, die sich ziemlich frei mit denen anderer Zellen vermischten; sie ging freundlicherweise großzügig mit ihren genetischen Bestandteilen um und konnte dazu veranlaßt werden, auf den winzigsten Anstoß hin Plasmide auszutauschen. Ein viriles, potentes und kraftvolles Bakterium mit einem Schuß ordentlicher britischer Gastfreundschaft. Er notierte sich, wo es zu finden war, und schloß das Register.

Während er durch die gläserne Trennscheibe in den Kühlbereich schaute, dachte er bei sich: Tausend Agenten des Todes, gleich auf der anderen Seite dieser Scheibe, Mikroben jenseits aller Vorstellungen. Ein oder zwei undichte Ampullen in den falschen Händen ... Er mochte nicht einmal daran denken. Sie lagen da auf der Lauer, leckten sich die Lippen, bereit, die ihnen rechtmäßig zustehenden Plätze in der Nahrungskette einzunehmen.

Ein kleiner Schluck…

Er schob diese Weltuntergangsgedanken von sich und setzte sich an die Bedienungskonsole des Robotgreifarms. Genau wie ein Videospiel, dachte er amüsiert und fand in dem kleinen Wald aus Röhrchen und Behältern mühelos die Probe, die er suchte. Behutsam hob er sie auf und führte sie in den Durchlaß zur Dekontaminierung der Oberfläche. Während er die nun leere Lagerstelle betrachtete, ließ er seiner Phantasie freien Lauf und versuchte sich vorzustellen, was passieren würde, wenn jemand eine leere Halterung ohne Markierung entdeckte. Horden von Biocops in ihren seltsamen grünen Raumanzügen mit gelben BiosafeBeuteln am Gürtel würden binnen Minuten über diesen Raum herfallen. Jeder Ausgang würde versiegelt, und keiner käme hinein oder heraus, bis die Biologische Polizei absolut sicher wäre, daß keine Möglichkeit einer weiteren Kontaminierung bestand. Es wäre faszinierend, das mal zu sehen, dachte er. Doch dann kehrte er in die Wirklichkeit mit all ihrer belastenden Ehrbarkeit zurück; er zollte ihr seinen Tribut und brachte eine Markierung an, die ihn als Entnehmer der Probe identifizierte. Er wußte, es gab vollkommen berechtigte Gründe für all diese Vorsichtsmaßnahmen, und Frank verstand sie nur zu gut.

Er verließ den Kühlbereich und stellte das Röhrchen in ein Gestell auf der Arbeitsplatte neben dem Mikroskop, unter dem Gertrude ruhte. Er schaute nochmals nach Gertrude und sah, daß sie sich noch immer nicht regte.

Am liebsten hätte er sie ein bißchen angestoßen und geschubst, um zu sehen, wie sie reagieren würde, und um sie zu voller Selbstverwirklichung zu ermutigen. Doch ringsum stapelte sich die Arbeit, seine üblichen Pflichten, die seine volle Aufmerksamkeit erforderten. Laß dich nicht ablenken, warnte er sich; erledige zuerst diese anderen Sachen. Die Pflicht kam an erster Stelle, aber er war sich einer hartnäckigen Faszination bewußt. Doch am Ende siegte das Pflichtbewußtsein. »Keine Sorge, Schätzchen«, sagte er zu Gertrude, während er den Computer herunterfuhr, »auf dich komme ich später zurück.«

Er ließ den Stoffkreis unter dem Mikroskop liegen und tippte die Sperrziffern für die Sicherheitstür ein, als er hinausging. Auf halbem Weg durch den Gang fiel ihm ein, daß er die Post vergessen hatte; um sie rechtzeitig abzuschicken, hatte er das Labor eigentlich verlassen. Er rannte also zurück, legte seine Handfläche zur Identifikation auf den Kontrollschirm und wartete auf das Klicken des Schlosses. Ein paar Sekunden später sterilisierte der kleine Bildschirm sich selbst, indem er einen starken elektrischen Blitz durch die metallbeschichtete Oberfläche schickte (nachdem er dies vorher mit einem schrillen Piepen angekündigt hatte). Frank war einer der wenigen Menschen, die uneingeschränkten Zugang zu diesem Labor hatten, obwohl die Sicherheitskräfte mit vereinten Anstrengungen das System zu überlisten vermochten. Er empfand die ganze Anlage als entsetzlich lästig und hätte lieber etwas Einfacheres gehabt. Doch der Direktor des Labors hatte ihm gesagt, alles, was einfacher wäre, wäre zu leicht zu knacken und daher unzulänglich. So kam es, daß Frank, wenn er das Risiko für minimal hielt, die Tür manchmal einfach unverschlossen ließ. Angesichts der Tatsache, daß er nur wenige Minuten abwesend sein würde, beschloß er beim Hinausgehen, es auch diesmal so zu halten.

Als er draußen auf dem Bürgersteig auf eine Lücke im Verkehr wartete, spürte Frank den warmen Sonnenschein auf der Haut, eine willkommene Abwechslung nach den kalten grauen Betonwän- den und dem starken fluoreszierenden Licht des Labors. Still stand er im Gewühl des mittäglichen Gehsteigs und nahm die Sonnenstrahlen in sich auf, die in England selten so intensiv brannten. Als er wieder auf die Straße schaute, war sein Sichtfeld mit blauen Sonnenflecken gesprenkelt. Und so kam es, daß er das schwarze Londoner Standardtaxi, das mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke gebraust kam, nicht sah und sich zu seiner Überraschung ziemlich schnell durch die Luft segeln fühlte. Sein letzter Gedanke, ehe er mit dem metallenen Laternenmast zusammenstieß, war: Verdammte Scheiße. Yersinia pestis. Verdammte Beulenpest.

Sie saßen sich am Frühstückstisch gegenüber, und Janie las Caroline laut den Zeitungsartikel über Franks Tod vor. Als sie fertig war, legte sie die Zeitung hin, und beide Frauen schwiegen eine Weile.

Janie schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, daß er nicht da war, als ich ihn zurückgerufen habe. Hörte sich an, als hätte er wirklich was Aufregendes entdeckt. Jetzt werden wir nie erfahren, was es war.«

»Und gestern waren wir noch mit ihm zusammen«, sagte Caroline. »Was für eine Tragödie, er war noch so jung ...«

Janie war über den Verlust zwar betroffen, aber sie hatte pragmatischere Sorgen. Es kommt einem nicht mehr so schrecklich unnormal vor, daß Leute plötzlich sterben, dachte sie bei sich. »Wir müssen den Stoff und die restlichen Bodenproben aus dem Labor holen und in die Staaten schicken. Hier werden wir nicht fertig. Lassen Sie uns gleich ins Labor fahren und mit den Vorkehrungen anfangen. Ich möchte nicht soviel Zeit verlieren.«

»Es wäre erheblich einfacher, wenn wir die ersten Prüfungen hier durchführen könnten«, sagte Caroline, die an die Berge von Zollformularen dachte, die sie nun würde ausfüllen müssen. »Vielleicht können wir das immer noch. Reden wir doch mit dem Laborleiter und stellen fest, ob wir mit jemand anderem weitermachen können.«

Janies Stimme verriet ihre zunehmende Gereiztheit. »Ich wußte, daß so was passieren würde. Ich will nicht auf einen Ersatz für Frank warten. Ich habe zu Hause ein Leben, das ich gern so bald wie möglich wiederaufnehmen würde. Ich habe seit zwei Jahren nicht gearbeitet, Caroline, und fühle mich unglaublich eingerostet. In etwas mehr als drei Wochen muß ich hier raus sein, und Sie haben sogar noch weniger Zeit. Ich will mich nicht bo- dyprinten lassen!«

Caroline, normalerweise ruhig, versuchte zu argumentieren. »Unglücklicherweise wird das nicht Ihre Entscheidung sein«, bemerkte sie. »Wenn die Sie printen wollen, dann finden sie einen Grund, ob Ihnen das paßt oder nicht. Ich kann verstehen, warum Sie Ihren Körper aus dem System heraushalten wollen, aber Sie müssen sich klarmachen, daß es früher oder später passieren wird. Die kriegen jeden. Sie werden ihnen nicht entkommen. Und ich auch nicht. Finden Sie sich also besser damit ab.«

Janie wurde rot vor Verlegenheit, als ihr bewußt wurde, daß Carolines Strafpredigt vollkommen berechtigt war. Sie bewunderte die Bereitschaft ihrer Assistentin, so freimütig mit der Person zu reden, die ihr den Geldhahn zudrehen konnte. Sie entschuldigte sich sofort. »Sie haben recht. Ich wollte nicht so ein Theater machen. Ich hab bloß so gräßliche Angst davor. Warum, weiß ich selbst nicht genau.«

Caroline lächelte. »Zerknirschung steht Ihnen gut. Sie sollten’s öfter damit probieren.«

»Das werde ich wohl auch«, sagte Janie verlegen. »Und jetzt sollten wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Wir haben ein paar neue Umstände, die hinzugekommen sind. Ich bin Ihrer Meinung, es wäre einfacher, die Analysen hier machen zu lassen, als den ganzen Kram nach Hause zu transportieren. Wir wollen das als Hauptziel im Auge behalten. Hoffentlich können wir jemanden im Institut überreden, uns zu helfen.«

»Gehen wir einfach hin. Sie wissen doch, wie schwer es in diesem Land ist, etwas per Telefon zu erledigen.«

»Guter Vorschlag. Wir können gleich gehen, wenn wir hier fertig sind. Hat keinen Sinn, darauf zu warten, daß die Hilfe zu uns kommt. Und erinnern Sie mich unterwegs daran, daß ich diesen Ausdruck abschicke.« Sie hielt einen versiegelten und adressierten Umschlag aus Manilapapier hoch.

»Geht er an John Sandhaus?« fragte Caroline.

»Ja. Er wird ihn sich gründlich ansehen. Wenn wir zurückkommen, werden wir sogar Gertrudes Schuhgröße erfahren.«

»Falls der Umschlag nicht auf seinem Schreibtisch untergeht.«

»Die Möglichkeit besteht immer. Jeder will dem armen Kerl was zeigen. Ich bin froh, daß er sich meinen Kram immer noch ansieht.«

»Da haben Sie aber Glück.«

»Ich weiß. Manchmal ist er ein Quälgeist, aber in dem, was er macht, ist er gut.«

Sie wollten gerade eine Seitenstraße nicht weit vom Institut überqueren, als Caroline einfiel, daß es am Ende der Straße einen Briefkasten gab. Sie wies die enge Straße hinunter und sagte: »Wenn wir hier entlanggehen, können wir den Ausdruck abschicken und dann durch den Haupt- statt durch den Seiteneingang ins Institut kommen.«

»Warum nicht?« sagte Janie. »Ein bißchen Abwechslung hin und wieder tut gut. Und wenn man bedenkt, wie diese Reise verläuft, haben wir sie uns verdient.« Sie wandten sich an der nächsten Ecke nach rechts und dann nach links und fanden sich vor der reich verzierten und abweisenden Fassade mit dem Haupteingang des Instituts wieder.

Janie blieb eine Minute stehen, um den großen Plan des Gebäudes zu studieren, der in der Eingangshalle hing. Sie fuhr mit dem Finger über die gravierte Oberfläche, bis sie das Büro fand, das sie suchte.

»Gehen Sie schon ohne mich vor, ja?« sagte Janie zu Caroline. »Ich muß bei der Buchhaltung ein paar Dinge regeln wegen der Tests, die sie für mich durchführen. Das dauert sicher bloß ein paar Minuten. Ich muß ein paar Fragen wegen der Verrechnung klären. Ich treffe Sie dann im Labor, sobald ich fertig bin.«

Sie trennten sich, und Janie ging in die eine Richtung, Caroline in die andere, dem Labor entgegen. Als sie es nach einem langen Weg durch die labyrinthischen Gänge des Instituts erreicht hatte, fand sie die Tür unversperrt und den riesigen Raum merkwürdig still vor. Zögernd trat sie ein. Sie hatte das Gefühl, das eigentlich nicht zu dürfen, und rief fragend, ob jemand da sei. Niemand antwortete.

Es handelte sich um einen riesigen und komplexen Raum mit mehr Apparaten, als sie je in irgendeinem anderen Labor gesehen hatte. Es gab Dutzende von Mikroskopplätzen; nach kurzer Suche fand sie den, an dem sie den ersten Blick auf den seltsamen Stoffkreis geworfen hatten. Er lag noch unter dem Mikroskop, anscheinend unberührt. Sie sah sich weiter um und schlenderte dann zu einem Ende des großen Raumes. Dort fand sie eine ganze Wand mit gekühlten Lagereinheiten und fragte sich, welche davon wohl ihre Proben enthalten mochte.

Sie faßte gerade nach dem Griff einer der Einheiten, als ein Wachmann, aufgescheucht von ihrem plötzlichen und unerklärten Erscheinen auf seinem Videoschirm, in das Labor kam. Er fragte, was sie da zu suchen hätte und wie sie hereingekommen wäre. »Ich fürchte, heute ist das Labor geschlossen, weil einer der Techniker gestorben ist«, sagte er. »Vor Montag wird hier nicht gearbeitet. Nur das Verwaltungspersonal ist heute da.«

Sie wandte sich nach dem Mikroskop um und fragte sich, welche Auswirkung es auf den Stoff haben würde, wenn er länger der Luft ausgesetzt blieb. »Hören Sie, kann ich nicht wenigstens eine meiner Proben wegräumen? Ich glaube, Frank hat unmittelbar vor seinem Unfall daran gearbeitet. Wenn er noch Gelegenheit dazu gehabt hätte, hätte er sie selbst eingelagert.«

Der Wachmann folgte ihr zum Mikroskop. Nachdem er sich die Gegebenheiten angesehen hatte, schüttelte er den Kopf. »Ich fürchte, das ist ganz unmöglich. Tut mir leid, Miss, aber ich kann Sie hier nichts anfassen lassen, solange dafür keine entsprechende Genehmigung vorliegt. Sie müssen mit dem Direktor sprechen«, sagte er und erklärte ihr den Weg zu den Verwaltungsbüros.

Er winkte sie aus der Tür, und widerwillig gehorchte sie, allerdings nicht, ohne ihm beim Hinausgehen einen eisigen Blick zuzuwerfen.

Bruce Ransom sah besorgt auf die Uhr und beobachtete verzweifelt, wie der Sekundenzeiger unaufhaltsam weiterlief. Jedes Ticken kam einer Verringerung der kurzen Zeitspanne gleich, die ihm blieb, um den Entwurf der Forschungsarbeit fertigzustellen, an dem er arbeitete. Heute morgen hatte er daran gedacht, Ted Cummings anzurufen und ihr Treffen zu verschieben, aber er wußte, daß Ted dieses Projekt unbedingt auf den Weg bringen wollte, trotz der Unannehmlichkeiten, die Franks vorzeitiges Hinscheiden verursacht hatte. Außerdem wurde Bruce allmählich kribbelig bei der Arbeit, hauptsächlich aus dem ehrlichen Wunsch heraus, sie sich vom Hals zu schaffen, damit er sich den interessanteren Dingen widmen konnte. Es war langweiliges Zeug, eine bestätigende Wiederholung von etwas, das er bereits gemacht hatte, ohne es ausreichend zu dokumentieren. Doch die Geldmittel für die umfassendere und interessantere Arbeit, die folgen sollte, hingen davon ab, daß Bruce diese Dokumentation vorlegte, und deswegen hatte er sich dazu bereit erklärt.

Er erinnerte sich noch, wie er sich an dem Tag gefühlt hatte, als er entdeckte, daß der »Bo- dyprint« irgendeines Bakteriums dazu benutzt werden konnte, ein dreidimensionales holographisches Bild zu erzeugen; indem er dieses »geprinte- te« Hologramm durch ein anderes Programm zur 3-D-Animation laufen ließ, hatte er den kleinen Kerl dazu veranlassen können, vor seinen Augen ein Tänzchen aufzuführen. Ein bemerkenswerter kleiner Trick; hätte er ihm auch noch einen Schnauzer und einen Hut verpassen können, hätte er das Geschöpf zu einer bakteriellen Version von Jimmy Durante aufgemotzt. Er konnte die von ihm erzeugten Bewegungen aufzeichnen und jedes kleine Detail studieren, indem er den Vorgang an irgendeinem beliebigen Punkt anhielt.

Niemand war sonderlich beeindruckt gewesen, bis Bruce erklärte, daß das, was er da gemacht hatte, sich signifikant von anderen Arten der 3-D- Computeranimation unterschied: Seine Version basierte auf realen, lebenden Wesen, und er konnte sie replizieren bis hinunter zu den einzelnen Zellen.

Weil er an der Entwicklung der Technik mitgewirkt hatte, wußte er, daß ein individueller Bo- dyprint in die separaten Körpersysteme zerlegt werden konnte, Kreislauf, Skelett, neurologisches System und so weiter, und daß diese Systeme einzeln analysiert werden konnten. Was, hatte Bruce zum Aufsichtsrat gesagt, wäre, wenn wir diese Informationen dazu benutzen könnten, Leuten, die ihre Gliedmaßen nicht bewegen können, durch maßgefertigte Computerrobotik die Kontrolle über ihren eigenen Körper zu geben?

Und obwohl der Institutsdirektor Ted Cummings von einem Kollegen scherzhaft als »sensationell mittelmäßiger« Wissenschaftler beschrieben worden war, erkannte er eine brillante Leistung, wenn sie ihm förmlich ins Gesicht sprang. Da im Institut schon lange keine Experimente mit Starqualität mehr durchgeführt worden waren, setzte sich die wissenschaftliche Maschinerie surrend in Gang. Ted, der sich auf das Einfädeln schlauer politischer Deals verstand, manipulierte das ehrwürdige Establishment mit makellosen Präsentationen zur Bewilligung von Mitteln. Bemerkenswert war, daß er den Löwenanteil der frühen Laborarbeit persönlich übernahm. Das entsprach ganz und gar nicht seiner üblichen Routine; Bruce hatte den Verdacht, daß Ted auf diese Weise an dem beteiligt sein wollte, was mit Sicherheit eine preisgekrönte Arbeit werden würde, ohne an der schwierigeren und anspruchsvolleren Phase mitwirken zu müssen; Beifallsrauschen war eine starke Motivation, selbst für einen talentierten Verwalter, der nur selten Latexhandschuhe anziehen mußte, um seinen Gehaltsscheck zu rechtfertigen. Vielleicht steht sein Vertrag zur Verlängerung an, dachte Bruce zynisch. Derart persönliche Anteilnahme an experimenteller Arbeit war höchst ungewöhnlich bei einem Mann, der in den letzten elf Jahren die Aktivitäten einer sehr begabten Gruppe von Forschern geleitet hatte, von denen er in einem Labor keinem einzigen das Wasser reichen konnte.

Eine von Teds angenehmeren persönlichen Eigenschaften war sein Hang zur Pünktlichkeit. Als Bruces Sprechanlage plötzlich summte, war er daher versucht, das Ding in die Hand zu nehmen und durch den Raum zu schleudern.

Herrgott, wie komme ich eigentlich dazu, mich dauernd mit diesen Abgabeterminen herumzuschlagen? Ach, ich bin ja selber schuld, antwortete er sich selbst. Das Institut hatte ihn direkt nach seiner Ausbildungszeit angeheuert. Bruce hatte ein lukratives Stipendium aufgegeben, das er eigentlich schon akzeptiert hatte, um in dieser hochmodernen Einrichtung zu arbeiten. Eine Chance auf eine private Praxis hatte er nie gehabt; man hatte ihn gleich zu einem Job in der genetischen Forschung überredet, eine Karriere, die viele Vorteile hatte, wie Bruce bereitwillig zugab. Die Arbeit war faszinierend, er hatte reichlich Gelegenheiten zu reisen und sich beruflich fortzubilden, und man hatte ihn nie mitten in der Nacht gerufen, um einem Baby auf die Welt zu helfen.

Trotzdem hatte sich sein Leben dramatisch verändert, als er diesen Weg einschlug. Er war fast über Nacht von Boston nach Kalifornien und dann schließlich hier nach England gezogen, womit sein früherer Plan, sich in einer netten, sicheren Praxis niederzulassen, ein abruptes Ende fand ...

Obwohl ihm eben noch danach gewesen war, die Sprechanlage auf eine Reise zum Jupiter zu schicken, drückte er nun auf den Knopf. »Ja, Clara, was kann ich für Sie tun?« fragte er und gab sich Mühe, verärgert, aber gefällig zu klingen.

Seine Sekretärin antwortete nervös: »Entschuldigen Sie, Dr. Ransom, tut mir leid, daß ich Sie störe, aber Dr. Cummings hat gerade aus dem Labor angerufen. Er erwartet Sie ungeduldig.«

Oh, Scheiße, dachte er, als er den Knopf drückte. »In Ordnung, ich gehe gleich. Aber tun Sie mir einen Gefallen. Rufen Sie ihn noch mal an und sagen Sie ihm, daß ich mich in einer Minute auf den Weg mache.«

Er beendete den Abschnitt, den er gerade diktierte, und druckte ihn rasch aus. Er war nicht so wohlgeordnet, wie er gehofft hatte, aber er würde reichen müssen. Da er sich ein bißchen zerknittert fühlte, ging er in seinen Waschraum und überprüfte sein Aussehen. Zufrieden damit, daß er niemanden erschrecken würde, eilte er mit wehendem Laborkittel durch das Vorzimmer, den Aktenordner in der Hand, und stieß sich prompt an einem Stuhlbein den Fuß.

»Scheißkerl«, murmelte er im stillen. Es würde kein leichter Tag werden.