20

 

Das Handlesegerät war nun bei der dreißigsten Wiederholung des Reinigungsvorgangs. Jedesmal, wenn es sich selbst scannte, entdeckte es Bakterien, die die letzte Reinigung überlebt hatten, und fuhr daher fort, sich unter Strom zu setzen. Auf diese Weise geriet das Programm völlig durcheinander und umging die übliche Abkühlungsperiode zwischen zwei Reinigungen. Die Verdrahtung überhitzte sich, und beim einunddreißigsten Reinigungsprozeß gab es einen Kurzschluß. Blaue Funken sprühten, als einer der Drähte schmolz, und ein kleines Rauchwölkchen stieg zur Decke.

Es reichte aus, um einen Rauchalarm auszulösen, der direkt an das Londoner Büro von Biopol ging. Das Signal erreichte über Funk auch das lokale Emergency Response Unit, die Notfalltruppe, und binnen einer Minute war eine ganze Kompanie von ERU-Personal auf dem Weg zum Labor; ihre Sirenen übertönten den Verkehr in den überfüllten Londoner Straßen.

Im Hauptquartier von Biopol reagierte man nicht ganz so schnell, aber wesentlich überlegter; die Mitglieder der Einsatzgruppe nahmen sich die Zeit, ihre Schutzanzüge anzuziehen, ehe sie sich zu dem Schauplatz begaben, den ihr computerisierter Stadtplan anzeigte. Binnen fünf Minuten kletterten zehn Männer und Frauen in hellgrünen Raumanzügen in den rückwärtigen Teil eines BiocontainerFahrzeugs. Als sie losfuhren, nahm sich jeder Biocop eine Waffe aus dem Gestell im Wagen und prüfte, ob sie richtig geladen war.

Bruce hatte die Hälfte der Telefonnummer eingetippt, um das Auftreten von Yersinia pestis zu melden, als Janie ihm eine Hand auf den Arm legte.

»Was ist das?« sagte sie.

Bruce hielt mitten in der Bewegung inne und lauschte. »Irgendein Alarm«, sagte er. Er hörte genauer hin. »Hört sich an wie das Rauchalarmsystem.« Er legte den Hörer auf, bevor er die Nummer zu Ende gewählt hatte.

Janie rannte zur Haupttür des Labors und versuchte sie zu öffnen. »Wir sind eingeschlossen!« sagte sie. »Ich kann die Tür nicht aufmachen!«

»Dann muß der Rauchalarm auf dem Gang losgegangen sein«, sagte Bruce und kam zu ihr. Er drückte ein paar Knöpfe an einem Wandbrett, um die automatische Sperre vielleicht zu überlisten, doch als er selbst die Tür zu öffnen versuchte, rührte sie sich nicht. »Das Sicherheitssystem aktiviert automatisch die Sperre, um das Feuer aus dem Labor zu halten.« Er versuchte es nochmals, doch die Tür gab nicht nach. »Auf diesem Weg kommen wir hier nicht raus.«

Janie lief zu dem kleinen Fenster des Labors, schaute hinaus und sah das ERU-Team ankommen. Kaum war die Sirene verstummt, hörte sie in der Ferne schon die nächste.

Inzwischen stand Bruce neben ihr und hörte die zweite Sirene ebenfalls. »Das werden die Biocops sein. Wir müssen sofort verschwinden.«

»Mein Gott«, sagte Janie. »Warum kommen sie her?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte Bruce, »aber ich denke, daß wir es durch schlichtes, blödes Glück geschafft haben, hier drin zu sein, als der Rauchalarm losging. Ich finde, wir sollten nicht bleiben, um festzustellen, ob ich recht habe.«

Auf der anderen Seite des Labors hörten sie, wie jemand die Türklinke bewegte und die Tür zu öffnen versuchte. Janie sah Bruce besorgt an und zeigte auf die Tür. »Da versucht jemand reinzukommen!«

Sie hörten eine gedämpfte Stimme aus dem Gang Bruces Namen rufen. »Wahrscheinlich derselbe Wachmann, den wir vorhin gesehen haben«, sagte er.

Janie sah sich rasch um, suchte nach einem an- deren Ausgang, fand aber keinen. »Wie kommen wir hier raus?«

Ihr gefiel weder Bruces Schweigen noch sein Gesichtsausdruck, als er über ihre Frage nachdachte. »Es wird nicht so einfach sein, oder?« sagte sie.

Bruce runzelte die Stirn und konzentrierte sich. »Es gibt nur einen anderen Weg, wie man vielleicht hier rauskommt, und das wird schwierig. Wir müssen durch einen Luftschacht im Hauptkühldepot. Da sind eine Menge Filter im Weg. Eigentlich dient er nur dazu, gereinigte Luft wieder nach draußen abzuführen, aber vielleicht kommen wir durch. Komm«, sagte er und winkte in Richtung Kühlraum. »Wir haben nicht viel Zeit! Und vergiß deine Aktentasche nicht! Sonst finden sie heraus, daß du hier warst ...«

Sie blieb stehen, als sie das dreieckige rote Biowarnschild an der Tür mit seiner verhängnisvollen Botschaft sah:

DAS GESAMTE PERSONAL MUSS BEI BETRETEN DIESER EINHEIT KOMPLETTE BIOSCHUTZANZÜGE TRAGEN

»Bruce!« sagte sie und hielt ihn zurück. »Da können wir nicht rein! Es ist schlimmer als die Hölle!«

»Janie, wenn wir jetzt nicht von hier verschwinden, kommen wir in sehr große Schwierigkeiten!« Sein Gesichtsausdruck besagte: Keine Widerrede.

Aber sie protestierte weiter. »Da drinnen wimmelt es doch von Bakterien und Viren! Wir kommen sowieso um!«

»Nicht, wenn wir nichts anfassen und keine ungefilterte Luft atmen.« Er öffnete einen kleinen Schrank in der Nähe der Tür und nahm zwei Masken heraus. Er reichte ihr eine und sagte. »Setz die auf. Sie ist für Plasmide zugelassen. Nichts, was groß genug ist, dir Schaden zuzufügen, kommt da durch, wenn wir vorsichtig sind.«

Sie nahm die Maske und starrte sie an. Sie wog nur ein paar Gramm; wenn sie in der Kühleinheit waren, würde das leichte Plastikmaterial alles sein, was ihre Lungen von unzähligen Milliarden infektiöser Tierchen trennte. Sie sah Bruce sorgenvoll an. »Aber sie ist so klein und sieht nach nichts aus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie ausreicht .«

Wieder wurde an der Tür gerüttelt.

»Komm schon!« sagte Bruce.

Sie setzte die Maske auf und zog das Band am Hinterkopf fest. Sie hatten gerade noch genug Zeit, um auch Handschuhe und Stiefel anzuziehen.

»Atme tief ein!« sagte Bruce zu Janie. Er öffnete die Tür zur Luftschleuse, und sie eilten hinein. Während sie kostbare Sekunden abwarteten, bis der automatische Luftaustausch vollzogen war, schaute Janie zur Seite und sah den jetzt ruhenden mechanischen Arm mit seinen seltsam menschlichen Fingern. Sie stellte sich vor, wie ein geschickter Techniker das empfindliche Gerät handhabte, um eine Probe zu entnehmen, statt sich den tödlichen Wirkstoffen auszusetzen, die im Gefrierraum gelagert waren; das erinnerte sie sofort daran, daß sie im Begriff war, einen Ort zu betreten, an dem sie nichts zu suchen hatte.

Sie passierten die zweite Tür, die klickend hinter ihnen zufiel, als sie den eigentlichen Kühlraum betraten. Fast sofort waren ihre Masken beschlagen. »Scheiße!« sagte Bruce. »Wir hätten sie kühlen sollen, bevor wir reinkamen. In ein oder zwei Minuten sind sie wieder klar, aber wir bleiben besser stehen, bis es soweit ist.«

Janie sah sich durch ihre eigene, schnell beschlagende Maske um, während sie in einem Wald von Glaskolben standen. Es war auf unheimliche Art schön in dem stillen Gefrierraum; alles bestand aus klarem Glas oder aus Chrom, und die Umrisse ver- schwammen durch die beschlagene Maske wie durch einen Weichzeichner; hier und da hingen aufrührerische Eiszapfen, die es in der trockenen Kunstluft eigentlich gar nicht geben durfte, rebellisch an den Wänden der Kolben. Ihr Atem strömte in kleinen Wölkchen aus den Filtern der Masken und kristallisierte sich fast sofort bis zur Unsichtbarkeit. Janie wurde jetzt klar, woher die Eiszapfen kamen: Sie waren die Überreste warmen menschlichen Atems.

Sie sah eine Ansammlung willkürlich aufgestellter Lagertanks, alle am Boden befestigt; sie argwöhnte, daß sie einige der tödlichsten Proben enthielten, die separat und bei noch niedrigeren Temperaturen aufbewahrt wurden.

Sie hörte ein Geräusch und drehte sich rasch um; ihre Maske wurde zwar allmählich wieder klar, aber noch nicht so klar, daß sie die Quelle des Geräuschs orten konnte.

»Runter!« flüsterte Bruce und drückte sich mit seiner behandschuhten Hand hinunter. Sie duckten sich hinter einen großen Lagertank und spähten dahinter hervor, als durch die gläserne Trennwand der Wachmann, den sie vorher im Flur getroffen hatten, sichtbar wurde. Gerade, als Janies Maske endlich ganz klar war, sah sie in seinem Nacken etwas explodieren, und der Mann brach unverzüglich zusammen.

Janie und Bruce keuchten hinter ihren Masken; die Geräusche waren gedämpft und verzerrt, aber sie begriffen, was sie bedeuteten.

»Mein Gott, sie haben ihn erschossen!« sagte Janie.

»Herr im Himmel«, sagte Bruce, »das war eine chemische Kugel!«

»Sie haben ihn getötet, einfach so?«

Bruce hielt mit beschwichtigender Geste den Finger an die Maske und flüsterte, ohne die gläserne Trennwand aus den Augen zu lassen: »Sie gehen davon aus, daß bei einem Laborunfall jeder infektiös ist. Das ist seit dem Arbovirus-Zwischenfall vor zwei Jahren ihre Politik. Zuerst schießen, hinterher rechtfertigen.«

»Und das machen sie auch mit uns, wenn sie uns hier finden?«

»Weiß ich nicht«, sagte er nervös. »Vielleicht überlegen sie es sich zweimal, bevor sie blindlings in diesen Kühlraum schießen. Schau dich doch um; selbst eine chemische Kugel könnte eine Menge Schaden anrichten.«

Sie brauchte sich nicht groß umzusehen, um zu begreifen, was er meinte. Auf dem Tank, hinter dem sie kauerten, standen die Worte »Ebola, Zaire«, gefolgt vom Namen der afrikanischen Krankenschwester, die vor ein paar Jahren bei einer Mini-Epidemie mit 500 Toten die erste Patientin gewesen war. Janie erinnerte sich, in einer medizinischen Zeitschrift einen Bericht über das rasche Voranschreiten der Symptome gelesen zu haben, bei dem das Opfer auf schreckliche Weise durch innere Blutungen aus allen Organen und Blutgefäßen umkam. Das Virus hatte inzwischen zahlreiche Mutationen hinter sich, und die gegenwärtige Version war noch tödlicher.

»Aber trotzdem, diese Burschen sind gut, und die Gewehre haben Wärmesensoren, die auf 37 Grad eingestellt sind, also können wir nicht annehmen, daß sie auf keinen Fall schießen würden«, flüsterte Bruce, den Blick immer noch auf die Stelle gerichtet, an der sie den Wachmann hatten stürzen sehen. »Und sie treffen fast immer.«

Janie ließ den Kopf sinken und sagte: »Statt des Wachmanns hätte das einer von uns sein sollen.«

Und das ist erst der Anfang, dachte sie, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Ted ist auch tot, und Caroline ist irgendwo da draußen pestkrank unterwegs und steckt vielleicht Hunderte von Leuten an, das neueste Mitglied des Clubs der Erstpatienten. Yersinia pestis wird sich mit einer anderen Mikrobe zusammentun und sich ein Plasmid mit einem Gen für Antibiotikaresistenz schnappen, und dann sind wir wieder mitten im vierzehnten Jahrhundert. Nur brauchen die Ratten diesmal nicht auf Segelschiffe zu warten. Heute können sie Flugzeuge benutzen.

Diese Weltuntergangsvorstellung drehte sich wie ein Endlosband in Janies Kopf, während sie darauf warteten, was als nächstes passieren würde. Sie hockten mit schmerzenden Beinen eine scheinbare Ewigkeit lang hinter dem Tank und lauschten den elektronisch verstärkten Stimmen der Biocops jenseits der Glastrennwand. Endlich, als sie nicht länger kauern konnten, setzten sie sich auf den kalten Laborboden, den Rücken gegen ein verchromtes Lagerregal gelehnt. Die Temperatur im Kühlraum betrug fast zwanzig Grad minus, und die Luft war äußerst trocken; Janie zitterte in ihrem leichten, nassen Mantel, der allmählich steif wurde. Als sie den Arm bewegte, platzten kleine Eisplättchen vom Ärmel und landeten auf dem Kachelboden unter ihr.

Auf der anderen Seite des Mittelgangs durch den Kühlraum konnten sie und Bruce das helle Grün von Raumanzügen sehen, das sich in der glänzenden Stahloberfläche des Schranks gegenüber spiegelte. Sie warteten reglos und schweigend und hofften inbrünstig, daß den Biocops kein Grund einfallen würde, den Kühlraum zu durchsuchen.

Nach einigen qualvollen Minuten sagte Bruce: »Vermutlich haben sie keine Ahnung, daß noch jemand hier drin ist. Sonst wären sie inzwischen längst da. Der Wachmann war der einzige, der uns beim Hereinkommen gesehen hat.«

Doch Janie war nicht von ihrer Sicherheit überzeugt. »Warte, bis sie die Hand finden«, sagte sie gerade so laut, daß Bruce sie verstehen konnte. »Dann nehmen sie den Raum hier auseinander. Ich hatte keine Zeit mehr, sie wieder in meine Aktenmappe zu packen, bevor wir wegliefen. Sie liegt immer noch in einer Plastiktüte auf dem Boden.

Wenn sie Bakteriendetektoren benutzen, finden sie sie im Nu.«

»Oh, das werden sie; bei einem Laborunfall müssen sie das. Sie scannen mit Laser die DNS, und dann wissen sie, daß es Teds Hand ist«, sagte Bruce, »und anhand von Spuren auf seiner Haut werden sie herausfinden, wer Kontakt mit ihm hatte. Und dann geht der Spaß erst richtig los. Jeder, der hier arbeitet, wird vernommen, ich eingeschlossen, und sie werden auch alle anderen aufsuchen, auf die sie beim Scannen gestoßen sind.«

Plötzlich erschienen zwei grüne Gestalten und traten nahe an die Glaswand. Janie und Bruce zogen die Beine an und drückten sich eng aneinander; sie hielten für einige Augenblicke den Atem an, damit der Kondensationsnebel ihre Anwesenheit nicht verriet. Sie konnten sich nicht rühren, denn wenn sie es taten, würden sie vielleicht die Aufmerksamkeit der suchenden Biocops auf sich ziehen; der Mangel an Bewegung machte die Kälte noch beißender, da er ihren Blutkreislauf verlangsamte. Trotz des Adrenalinstoßes fühlte Janie sich benommen von der extremen Kälte. Sie schaute zu Bruce hinüber und sah, daß er ebenfalls benommen wirkte. Ihr dämmerte, daß, wenn sie nicht bald herauskamen, sie beide erfrieren könnten, während Caroline noch immer frei in London herumlief.

Sie schaute hinüber zu der Spiegelung auf dem Schrank und sah, daß jetzt nur noch eine grüne Gestalt da war; die andere war verschwunden. Auch diese Gestalt drehte sich abrupt um und war nicht mehr zu sehen. Janie tippte Bruce auf die Schulter und zeigte auf den Schrank.

»Sie sind weg«, sagte sie. »Vielleicht haben sie die Hand gefunden.«

Er setzte sich rasch auf und kam in geduckter Haltung auf die Füße. »Damit dürften sie für einige Minuten beschäftigt sein«, sagte er. »Vielleicht kommen wir hier raus.« Als nach einigen weiteren Augenblicken noch immer keine Spiegelung grüner Gestalten zu sehen war, sagte er: »Komm hinter mir her.«

Sie bewegten sich rasch durch den Mittelgang des Gefrierraums, wobei sie geduckt blieben, und kamen an zahllosen Gestellen mit Röhren und einem richtigen Wald aus Chromcontainern vorbei; Janie las im Vorbeigehen die Aufschriften und krümmte sich. Sie sah einen weißen Kanister mit dem Etikett »Marburg« und dachte an den schrecklichen Unfall, der vor vielen Jahren in einem deutschen Labor passiert war; die Probe eines obskuren und tödlichen afrikanischen Virus der Ebola-Familie war in einer zerbrochenen Ampulle nach Marburg gekommen und hatte die inneren Organe mehrerer Labormitarbeiter binnen weniger Tage in eine suppige Masse verwandelt. Trotz ihrer Maske hielt Janie den Atem an, als sie an diesem Behälter vorbeiging.

Bruce war bereits an der Luftschleuse. Seine steifen, behandschuhten Finger lösten ungelenk eine Schicht nach der anderen aus Klammern und Filtern, und Janie dachte bei sich, daß seine Verbrennung dabei entsetzlich schmerzen mußte. Jede Schicht von Klammern war so entworfen, daß sie einen Eindringling aufhielt, der von außen hereinwollte. Bald waren sie von einem Stapel aus Schirmen und Filtern umgeben: Bruce griff in den Schacht und zog den letzten, dicken Filter heraus. Mit den Füßen zuerst kroch er in den Schacht und trat die Außenverkleidung heraus, als er sie erreicht hatte. Er hoffte, daß niemand in der Nähe war, der ihn beobachten konnte. Doch als er in die Dunkelheit hinausschlüpfte, fand er sich hinter einer Gruppe von Büschen wieder, die von niemandem einzusehen war. Er drehte sich um und half Janie, sich ins Freie zu zwängen.

»Zieh das Zeug aus und steck es in den Schacht«, sagte Bruce zu Janie. »Faß das Gitter nicht an. Wir müssen es draußen lassen.«

Bruce konnte hören, wie Janies Zähne klapperten. Er legte die Arme um sie. »Komm, laß dich wärmen«, sagte er. »Noch ein paar Minuten da drinnen, und wir wären wirklich in großen Schwierigkeiten gewesen.«

»Wir sind in großen Schwierigkeiten«, sagte Janie. »Wie zum Teufel sind wir da bloß reingeraten?«

Sie verweilten ein paar Minuten im Gebüsch und klapperten mit den Zähnen, während sie versuchten, sich aufzuwärmen. Als sie sich etwas weniger mühsam bewegen konnten, stand Bruce vorsichtig auf und sah sich um.

»Wir sind im seitlichen Garten«, sagte er. »Sieht verlassen aus.« Janie stand auf, und sie klopften ihre Kleider ab; sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie etwas zu ordnen, und tat dasselbe bei Bruce. Dann verließen sie die Sicherheit des Gartens und gingen hinaus auf die Straße, um zu sehen, was sich da abspielte.

Sie erreichten die hinteren Reihen der Menschenmenge und versuchten, mit ihr zu verschmelzen. Draußen vor dem Haupteingang des Instituts hatte sich hinter einer Absperrung aus grünem Band eine immer größer werdende Schar von Neugierigen angesammelt, und Janie und Bruce schoben sich möglichst behutsam vor, um niemanden anzurempeln. Als sie eine gute Sicht hatten, blieben sie stehen und beobachteten aus sicherer Entfernung, wie die Biocops das Gebäude betraten und verließen. Es dauerte nicht lange, bis sie den langen, schmalen Behälter erspähten, der vermutlich den Leichnam des Wachmannes enthielt; er wurde von vier gar nicht fröhlich wirkenden Riesen die Vordertreppe heruntergetragen.

»Sie gehen kein Risiko ein«, flüsterte Bruce in Janies Ohr. »Sie haben ihn luftdicht versiegelt. Später werden sie ihn testen und dann verbrennen.«

Janies Augen füllten sich mit Tränen; sie weinte lautlos, während sie zusah, wie ein anderer Biocop einen kleineren Behälter allein die Vordertreppe heruntertrug. Großer Gott, die Hand, dachte sie bei sich.

Bruce mußte ihre Gedanken gelesen haben. »Sie werden etwa eine halbe Stunde brauchen, um festzustellen, wem sie gehört. Wir verschwinden besser, ehe mich jemand erkennt.«

Ein paar Blocks weiter fanden sie einen Lebensmittelladen; drinnen gab es eine Telefonzelle. Bruce wählte die Notrufnummer von Biopol und meldete anonym den unversiegelten Luftschacht, der aus dem Labor führte. Caroline oder das Pestbakterium erwähnte er gar nicht; ihre Situation war inzwischen zu kompliziert. Trotz der hochmodernen Technologie von Biopol wußte er, daß sie in sicherer Entfernung sein würden, bis die Biocops ihre Schutzmasken fanden und ihren Weg bis zur Telefonzelle verfolgten, also tätigte er den Anruf ohne Bedenken. Doch als er Janies besorgten Blick sah, sagte er: »Der Apparat wird von zu vielen Leuten benutzt, als daß sie beweisfähige Spuren sichern könnten. Man wird nicht auf uns kommen.«

Keiner von ihnen sprach darüber, was sie vielleicht getan hätten, wenn sie aufgrund der Meldung hätten identifiziert werden können. Als sie hinaus in die Dunkelheit Londons schlüpften, fragte Bruce sich, ob er imstande gewesen wäre, sich dem Wohl der Allgemeinheit zu opfern. Er wußte es nicht. Und er wollte es nicht wissen.

Lieutenant Michael Rosow von der Londoner Abteilung der International Biological Police stand in der Dekontaminierungskammer und ließ die Sterilisationsflüssigkeit über die Oberfläche seines grünen Anzuges rinnen. In dunkelblauen Strömen floß sie durch die Falten und Vertiefungen des glatten Plastikoveralls. Sie erinnerte ihn an das Frostschutzmittel, das sie für ihre Wagen benutzt hatten, bevor die solare Temperaturregelung eingeführt wurde.

Das war ein Teil, den er immer gehaßt hatte, dieser langsame, langwierige Prozeß nach dem Verlassen eines kontaminierten Bereichs vor Wiedereintritt in die sterile Welt. Als endlich das Signal aufleuchtete, das verkündete, die Schleuse werde gleich geöffnet, seufzte er erleichtert und wandte sich der Tür zu. Er wartete auf das zischende Geräusch, mit dem die Pumpe die Luft aus der Kam- mer in das Filtersystem saugte. Dann trat er hinaus und blieb über dem Abtropfbecken stehen, während zwei Techniker, die Handschuhe, Masken und Stiefel trugen, begannen, ihm seinen Anzug auszuziehen.

Als endlich alle Schichten abgeschält waren, stand er nackt da und schloß die Augen, um die letzte Dekontaminierungsdusche über sich ergehen zu lassen. Dabei richteten die Techniker ihre Sprühdüsen mit der warmen Flüssigkeit von Hand auf alle Falten und Vertiefungen seines Körpers; dieser Teil der Dekontaminierung war mehr als nur ein bißchen erotisch, und zu seiner großen Verlegenheit hatte er darauf schon des öfteren reagiert.

Er trocknete sich ab und zog wieder »normale« Kleidung an. Dann ging er geradewegs ins Untersuchungslabor. Seine schnelle Gangart verriet, wie aufgeregt er war; sosehr er die langwierige Sterilisierungsprozedur auch haßte, das, was jetzt kam, liebte er, und es entschädigte ihn reichlich für das unangenehme Bad in Frostschutzmittel.

Er hatte die Hand bereits gescannt, um die DNS zu identifizieren. Drei Ergebnisse waren verzeichnet - das erste betraf den Eigentümer der Hand, einen gewissen Dr. Theodore Cummings, Direktor des Labors, in dem sie gefunden worden war; der Mann wurde offenbar vermißt und war, wenn der Zustand der Hand auf das Gesamtbild schließen ließ, vermutlich tot. Das zweite Ergebnis war ein Enterobakterium in ausreichender Menge, um vom Scanner als »Lebewesen« erkannt zu werden, das er noch nicht identifiziert hatte. Das dritte Ergebnis betraf eine unbekannte weibliche Person, die offenbar nicht geprintet worden war, weil sich nichts gezeigt hatte, als er ihre DNS mit allen bekannten Proben auf der Welt verglich. Rosow wußte, daß ein solches Resultat eines von drei Dingen bedeuten konnte. Die Frau konnte sehr alt sein, alt genug, um vom Gesetz zur Erfassung der Identität nicht mehr betroffen gewesen zu sein, doch daran zweifelte er wegen des guten Zustands der Zellen im Identifizierungsmuster. Sie konnte auch eine Marginale sein, der es irgendwie gelungen war, dem Printen zu entgehen. Diese Möglichkeit konnte er nicht ausschließen und mußte sie daher offenlassen. Die dritte Möglichkeit war, daß sie ungeprintete Bürgerin eines anderen Staates war, die sich mit einem begrenzten Visum in Großbritannien aufhielt und sich nicht printen lassen mußte, wenn sie nicht länger als vier Wochen im Land blieb.

Er setzte sich in den Drehsessel vor dem Computer und machte es sich bequem. Er rief das Programm zur Interpretation von DNS auf und starrte neugierig auf den Bildschirm, während er eine Reihe kurzer Befehle eingab. Eine sanfte weibliche Stimme, die sexy klang, sprach beruhigend zu ihm.

»Die verlangte Operation wird in sechs Minuten durchgeführt sein. Bitte warten Sie. Möchten Sie während der Verarbeitungszeit etwas Musik hören?«

Rosow antwortete: »Ja.«

Die Stimme sagte: »Bitte wählen Sie aus der Liste auf dem Bildschirm. Sprechen Sie Ihren Wunsch langsam und deutlich aus.«

Er sah die Liste rasch durch und verglich die Länge der Musikstücke mit der erwarteten Dauer der Datenverarbeitung; dann gab er ein: »Brahms, Deutsches Requiem, Fünfter Satz.«

Der Computer antwortete: »Eine ausgezeichnete Wahl. Einen Augenblick, bitte.«

Als die große Stimme seines Lieblingssoprans den Chor übertönte, beobachtete er gespannt den Bildschirm. Bit um Bit formte sich das Bild; er war wie in Trance und konnte den Blick nicht abwenden. Langsam entstand vor seinen Augen die Abbildung einer Frau; während der ganze genetische Code der Zellen, die man unter den Fingernägeln von Ted Cummings’ abgetrennter Hand gefunden hatte, interpretiert wurde, veränderte und verformte sich das Bild der Frau auf dem Bildschirm.

»Komm schon, Darling«, sagte er, »laß dich anschauen.«

Während die Musik anschwoll und mit hohen Soprantönen über dem harmonischen Chor endete, erschienen auf dem Schirm die letzten Details des Bildes. Rotes Haar, blaue oder grüne Augen, etwas über einssechzig groß, schlank, wenn sie nicht fett geworden war. Eine echte Schönheit; eine auffallende Erscheinung.

»Oh, Baby, Baby, Baby!« flüsterte er, während er das Bild schärfer stellte. Rosow fragte sich, wie sie in Wirklichkeit aussehen mochte, nachdem sie so lange in der realen Welt gelebt hatte, wie sie es eben tat. Er hatte nie den Nerv gehabt, sein eigenes Bild abzurufen, zu sehen, was das Leben im Vergleich zu seinem unangetasteten Potential aus ihm gemacht hatte. Er hatte das bei ein paar Bekannten getan (ohne deren Wissen oder Zustimmung, wie er einräumen mußte) und war entsetzt gewesen, wie Schwerkraft, Wetter und Sorgen allen Menschen zusetzen. Aber diese Frau hatte mit einem tollen Potential angefangen und würde vermutlich auch heute nicht allzu schlecht aussehen. Die Interpretation der Zellgenerationen bestätigte seine Einschätzung ihres Alters.

Er isolierte ihre Gesichtszüge und vergrößerte sie auf dem Bildschirm. Er holte ein Eingabefenster auf den Schirm und kennzeichnete alle Merkmalsdaten, die er aussenden wollte. Als er mit den ausgewählten Informationen zufrieden war, drückte er die »Senden«-Taste und wartete ein paar Sekunden, während der Apparat das Gesicht dieser Frau und eine Liste mit Identifizierungsmerkmalen an alle Biopol-Stationen und mobilen Einheiten in ganz England übermittelte.

Michael Rosow konnte nicht auf die Programme warten, von denen man munkelte, sie würden im Institut entwickelt, und die ihm angeblich ermöglichen würden, das rekonstruierte Bild dieser Frau genauso atmen und sich bewegen zu lassen, wie es die echte Frau tun würde.

Die sexy Stimme meldete sich wieder. »Die Übertragung wurde erfolgreich beendet. Sonst noch etwas?«

Rosow lachte und sagte: »Ja, Schätzchen. Zeig mir, wie du aussiehst.«

Die zerlumpte Frau war vielleicht die seltsamste von den vielen hundert Silhouetten, die sich von der untergehenden Sonne abhoben, als sie ihren Einkaufskarren über die Brücke schob. Autos sausten vorbei, vereinzelte bunte Flecken in der rasch dahinziehenden Herde schwarzer Taxis, die vom Glück begünstigte Menschen in ihre bequemen Vorortheime beförderten. Andere, ein bißchen weniger vom Glück begünstigte Leute gingen zu ihren Apartments am Rande Londons, und daher herrschte auf der Brücke einiger Fußgängerverkehr. Obwohl sie wußte, daß ihre Gefährten wieder nach ihr Ausschau hielten, war die Frau, die ihren Kar- ren über die Brücke schob, etwas ängstlich. Sie hätte sich sehr viel wohler gefühlt, wenn sie wieder bei der Gruppe gewesen wäre, die unter der Brücke zu finden war, eine sehr andere Art von Gesellschaft.

»Ich mag Menschenmengen nicht sonderlich«, sagte sie zu Caroline, die sich eine ganze Weile nicht bewegt hatte und nicht in dem Zustand war, in dem man eine Antwort von ihr hätte erwarten können. »Hatte nie was übrig für große Gruppen von Leuten.« Sie ging langsamer und dachte über andere Routen nach, die sie nehmen könnte und auf denen sie den Bedrohungen der Zivilisation weniger ausgesetzt wäre. Doch jede war mit irgendeinem Problem verbunden, und jede bedeutete eine gefährliche Verlängerung der Zeit, die sie brauchen würde, um ihre kranke Fracht abzuliefern. Irgendwie mußte sie auf die Südseite des Flusses gelangen, und diese Brücke wies die wenigsten Hindernisse auf, denn wie ein Rollstuhl konnte ihr Einkaufswagen keine Treppen bewältigen; auf dieser Brücke waren die Gehsteige wie die Straße glatt und eben.

Die Brücke bestand aus Stahlträgern und - balken, elegant und neu, ein stärkerer Ersatz für die ursprüngliche Brücke aus Stein und Zement, die vor ein paar Jahren von der Bombe eines Terroristen zerstört worden war, zusammen mit einer Menge Geschichte. Der Frau hatte die alte Brücke besser gefallen. Sie war eine schöne, stattliche Verbindung zwischen den beiden Ufern gewesen und hatte zu den umgebenden Gebäuden gepaßt.

»Eine Schande, wie sich alles verändert«, murmelte sie. Sie beugte sich dichter über Caroline, als könne die jüngere Frau wirklich hören, was sie zu ihr sagte. »Früher kannte ich meinen Weg durch diese Stadt, aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist sie für mich wie ein fremdes Land. Zu viele große Gebäude. Zu viele Leute.«

Sie fühlte sich bereits schlecht und war überrascht, wie schnell der unsichtbare, aber erwartete Eindringling die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Es war erst eine kurze Weile her, daß sie Carolines Schicksal in die Hand genommen hatte, und sie hatte mehrmals umkehren müssen, wenn sie vor einem unüberwindlichen Hindernis stand. Sie wurde des ständigen Gehens allmählich müde und hätte sich gern ausgeruht, und sei es nur für ein paar Minuten. Der Zustand ihrer Passagierin aber, der sich rapide verschlechterte, ließ nicht zu, daß sie sich den Luxus einer Pause gönnte, um über ihr eigenes Befinden nachzudenken. Sie behielt ein langsames, aber stetiges Tempo bei, denn sie wußte, das war ihre einzige Hoffnung, ihr Ziel zu erreichen, bevor es zu spät war, das zu tun, was getan werden mußte.

»Nur zu, du kleiner Quälgeist, sei ruhig schwierig.« Lieutenant Rosow hatte nicht viel Erfolg bei der Identifizierung des Bakteriums, das er auf Ted Cummings’ Hand gefunden hatte, und war ziemlich frustriert. Wie häufig, wenn er Objekte untersuchte, redete er mit ihm, mal nett, mal mit offenkundigem Zorn, als könne er den starrsinnigen Gegenstand so dazu bewegen, sein Inneres und all seine Geheimnisse preiszugeben.

Er war verwirrt; diese Bakterien wiesen Ähnlichkeiten mit einer Reihe von Spezies auf, doch im Datenspeicher gab es keine exakte Entsprechung. Daß er auf etwas stieß, was er einfach nicht identifizieren konnte, war schon lange nicht mehr vorgekommen; er hatte einen Trick entwickelt, Mutationen zurückzuverfolgen und dann diese Mutationen auf existierende Bakterien zu extrapolieren, und bei vielen verschiedenen Gelegenheiten hatte er damit sehr erfolgreich Entsprechungen gefunden.

Aber dieses kleine Ding hier, das sich so hektisch vermehrte, schien sich nicht aus irgend etwas entwickelt zu haben, das er in seinem Datenspeicher hatte. Er erstellte zehn verschiedene Mutationsoptionen, einige davon über mehrere Generationen, aber er fand nichts. Verblüfft wies er den Computer an, einen Quervergleich mit anderen unidentifizierten Proben in der Datei anzustellen. Er erwartete nicht, Entsprechungen zu bekommen.

Doch er irrte sich. Nach nur zehnminütiger Suche unter Millionen von Proben gab es sechs positive Entsprechungen. Alle gegenwärtigen noch un- identifiziert.

Und alle sechs aus den letzten zwei Tagen.

Er richtete sich kerzengerade auf und schaute intensiv auf den Bildschirm. Die Berichte über jeden der Fälle wurden aus den verschiedenen Eingabequellen gesammelt. Fünf der Entsprechungen waren aus verschiedenen Krankenhäusern gekommen, eine war bei einer routinemäßigen Compudoc- Untersuchung gefunden worden. Drei waren Londoner, die anderen drei wohnten in nahen Vororten. Die Träger ähnelten sich in keiner Weise, hatten weder den gleichen Beruf noch den gleichen Wohnsitz noch die gleichen Gewohnheiten oder Laster. Alle fühlten sich ungefähr um dieselbe Zeit krank und klagten über identische Symptome. Hohes Fieber, geschwollene Drüsen, dunkle Flecken am Hals und in den Leisten; eine exakte Diagnose war nicht gestellt worden. Vier der Träger waren bereits gestorben, als die letzte Aktualisierung der Daten durchgeführt worden war, die beiden anderen waren schwer krank.

Um den Computer automatisch tätig werden zu lassen, waren zehn unidentifizierte Entsprechungen nötig. Rosow wußte, daß er diese potentielle Epidemie nicht entdeckt haben würde, wenn er nicht in Kontakt mit Ted Cummings’ Hand gekommen wäre und anschließend nach Entsprechungen gesucht hätte. Irgendwann würde es genug Opfer gegeben haben, um das System aufmerksam werden zu lassen, aber bis dahin konnte, was immer er mit seinem charakteristischen blinden Glück gefunden haben mochte, bereits außer Kontrolle geraten sein.

Vielleicht werden sie jetzt auf mich hören, dachte er. Er hatte mehrmals vergeblich versucht, die Auslöseschwelle auf vier Fälle herunterzudrücken, aber er war der einzige, der das für nötig hielt. Die Gewerkschaft der Biocops fand, daß ihre Arbeitsbelastung damit dramatisch erhöht werden würde, und blockierte die vorgeschlagene Änderung. Ro- sow war damals wütend auf die Gewerkschaftsführer gewesen, und das war er noch immer. Er ging nicht einmal mehr zu den Versammlungen.

Er setzte die Suche nach einem Muster unter den Opfern fort, aber keines fiel sofort ins Auge. Erst als er alle Interviews mit den nächsten Angehörigen gelesen hatte, fand er endlich, was er brauchte.

Das erste Opfer, das gestorben war, war der Besitzer eines sehr schicken Londoner Restaurants, und drei der anderen hatten am gleichen Abend dort gegessen. Rosow rief sofort die Angehörigen der beiden anderen an und stellte fest, daß einer davon ebenfalls dort gewesen war.

Das schien ihm auf ein mit Nahrung verbundenes Toxin zu deuten, und diese Spur verfolgte er zuerst, aber eines der Opfer hatte überhaupt nichts gegessen, sondern nur Wein getrunken, während sein Begleiter aß. In seinem Magen war nichts enthalten, als sie ihn aufschnitten. Die Untersuchung einer anderen Flasche des gleichen Weins ergab keinen Hinweis darauf, daß der Wein kontaminiert war. Der Begleiter hatte einen anderen Wein bestellt.

»Na, hoffentlich hast du’s genossen, das letzte Glas Wein und so«, sagte er laut. »Ich hätte ein Bier vorgezogen.« Dann fügte er hinzu: »Wenn ich’s gewußt hätte.«

Also nicht der Wein, nicht das Essen, keine berufliche Gemeinsamkeit, kein gleicher Wohnort. Nur ihre Anwesenheit in dem Restaurant verband die Opfer miteinander; das Restaurant besaß keine Klimaanlage, sonst hätte er auf eine Form von Legionärskrankheit getippt. Aber die Symptome paßten nicht dazu.

Rosow war noch verblüffter als zuvor. Er wußte nicht, wie er verfahren sollte. Doch eines war sicher: Er mußte diese rothaarige Frau finden.

Vor sich in der Ferne sah die müde Frau zwei hellgrüne Biocops auf dem Bürgersteig in der Nähe der Stelle stehen, wo das Ende der Brücke auf die Hauptstraße stieß. Sie waren, ob sie das nun wußten oder nicht, dem Ort sehr nahe, wo die meisten Mitglieder des lokalen Clans der Marginalen ihre unter der Brücke gelegene Gemeinde betraten. Und obwohl ihr dieses Wissen ganz allgemein mißfiel, hatte die Anwesenheit der Cops in der Nähe des Eingangs zur Unterwelt keine direkte Auswirkung; sie hatte nicht vor, dort einen Besuch abzustatten. Dazu war keine Zeit.

Aber irgendwie würde sie sie umgehen müssen, denn sie standen ihr unmittelbar im Weg. Sie hörte auf, ihren Karren zu schieben, und dachte darüber nach, was sie nun tun sollte. Sie konnte nicht genug sehen, um den Grund für ihre Anwesenheit zu erkennen; sie würde also weitergehen müssen, bis sie ihn bestimmen konnte. Nervös sah sie sich nach Hinweisen auf ihre flüchtigen Gefährten um, denn sie wußte, daß sie bei diesem Teil der Reise deren Hilfe brauchen würde.

Nach einem schnellen Blick auf Caroline war der alten Frau klar, daß es unklug wäre, sie hierzulassen und ohne sie weiterzugehen, um die Lage zu erkunden. Sie beugte sich vor und sagte: »War doch nicht gut, wenn jemand in diesem Karren herumsuchen würde, während ich mit anderen Dingen beschäftigt bin, was?« Die Situation machte ihr Sorgen; es schien keine andere Möglichkeit zu geben, als weiterzugehen. Wenn sie jetzt plötzlich kehrtmachte und zurückging, würde das mehr Verdacht erregen, als weiterzugehen, falls einer der Biocops sie schon bemerkt hatte. Natürlich würden sie wissen wollen, was sich in dem Karren befand und warum; wenn sie einfach weiterging, wären sie vielleicht von ihrer unmittelbaren Aufgabe zu sehr in Anspruch genommen, um sonderlich auf sie zu achten.

Als sie den Biocops näher kam, wurde der Grund für ihre Anwesenheit offensichtlich; der Körper eines Mannes, offensichtlich eines Marginalen, lag quer auf dem Gehsteig. Sie untersuchten den Leichnam und hatten den Verkehr um ihren geparkten Wagen herumgeleitet; schlimmer aber war, daß die Leiche ihr den Weg über den Gehsteig versperrte und sie sie irgendwie würde umgehen müssen.

Der Verkehr war einfach zu dicht für den Versuch, über die Fahrbahn zu gehen. Sie konnte anhalten, bleiben, wo sie war, und darauf warten, daß der Transporter von Biopol den Leichnam wegbrachte, aber angesichts Carolines Zustand verwarf sie diesen Gedanken. Die Zeit wurde knapp.

Sie ging weiter, und der rostige Karren quietschte unangenehm, als sie sich dem Hindernis auf dem Gehsteig näherte. Sie hatte große Angst, wollte es aber nicht zeigen, denn dann würde man sie mit Sicherheit verdächtigen; sie nahm all ihren Mut zusammen, warf sich ihren Schal dramatisch über eine Schulter und reckte stolz das Kinn. Sie näherte sich einem der Biocops und sagte zu ihm: »Hören Sie mal, junger Mann, diese Leiche ist mir im Weg, und ich habe Termine einzuhalten! Junge Burschen helfen alten Damen doch immer noch über die Straße, oder?«

Ihre selbstbewußte Äußerung überraschte die beiden kräftigen Cops unverhofft. Einer kam zu dem Karren, schob die Zeitungen zur Seite und beäugte Caroline, während die Frau danebenstand und zusah und verzweifelt versuchte, nicht zu zittern. Er sah sie an und schaute ihr direkt in die Augen. Sie nahm alle Kraft zusammen, die sie in ihrem Inneren finden konnte, und sagte: »Die schläft ihren Rausch aus. Ich glaube, ich habe sie nicht richtig erzogen.« In diesem Moment stöhnte Caroline, als wolle sie die Behauptung ihrer angeblichen Mutter bestätigen.

Die Alte benutzte dieses Stöhnen zu ihrem Vorteil. »Schon gut«, sagte sie beruhigend zu Caroline, »du gibst das üble Zeug einfach von dir, und dann machen wir uns wieder auf den Weg.« Sie sah den nächststehenden Cop an und sagte: »Sie treten besser ein bißchen zurück. Sie wird sich gleich übergeben, wie immer. Und Sie wollen doch Ihren schönen grünen Anzug nicht schmutzig machen.« Damit hatte sie recht; das war das letzte, was der Cop wollte. »Beschmutzung des Anzugs« verlangte Berge von schriftlichen Erklärungen und eine ausgedehnte Sterilisierungssitzung, die keiner mochte.

Plötzlich erschienen zwei ihrer rauhen Gefährten als Retter an ihrer Seite und dienten sich geschäftig als Helfer an. Ihre verwirrende Ankunft war genau die Ablenkung, die sie brauchte; die Biocops wandten ihre Aufmerksamkeit von Caroline ab und beäugten mißtrauisch die plötzliche Ansammlung von Marginalen. Zusammen hoben diese den Karren an und trugen ihn über den Leichnam weg, wobei sie sich freundlich unterhielten. Die Frau war zwar überrascht über dieses abrupte Eingreifen, spielte aber mit und bedankte sich überschwenglich für die Hilfe. Dann verschwanden die Helfer genauso plötzlich, wie sie erschienen waren.

Die alte Frau sah eine Chance, unbehelligt zu entkommen, und stürzte sich in ausführliche Dankesbekundungen, die sie an alle Umstehenden richtete einschließlich einiger angeekelter Passanten, die schnell an ihr vorbeieilten. Sie ließ ihren Karren einen Moment im Stich, näherte sich den beiden Cops und sagte: »So, nun gebt mir ein Küßchen, und weg bin ich!« Die beiden hoben abwehrend die Hände und winkten sie weg; mit gespielter Empörung stapfte sie davon und griff wieder nach ihrem Karren. Sie ließ zwei grüne Männer hinter sich, die sehr froh waren, keine Marginalen zu sein.

Als sie ihren Karren vom Schauplatz der Begegnung wegschob, zitterte sie heftig. Das war knapp, zu knapp ...

Vor ihr lag die letzte Steigung, der schwerste Teil ihres Weges, und sie war jetzt schon erschöpft. Sie blieb stehen und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche; dann goß sie etwas über Carolines Gesicht, um sie abzukühlen; mehr konnte sie nicht für die junge Frau tun, da sie sie nicht mehr zwingen konnte zu trinken. Mit einem schweren Seufzer machte sie sich auf den ansteigenden Weg und wünschte sich dabei, auf wunderbare Weise noch einmal in der Blüte ihrer Jugend zu stehen. Die Anstrengung der Steigung erhitzte sie, und so nahm sie ihren schmutzigen Schal ab und legte ihn über Caroline, schützte sie mit einer weiteren Bedeckung vor den spähenden Blicken der Passanten, von denen einige neugierig in den Karren zu schauen versuchten. Sie glaubte nicht, daß Caroline jetzt noch viel davon merkte, und die schäbige Erscheinung ihrer Begleiterin wäre ihr jetzt wohl auch gleichgültig gewesen. Die alte Frau sah sich noch einmal um und wünschte sich, sie hätte schon mehr Entfernung zwischen sich und die Brücke gelegt. Dann machte sie sich wieder auf den Weg.

Sie verschwand gerade außer Sichtweite, als ein dritter Biocop mit einem Farbdruck in der behandschuhten Hand aus dem Transporter stieg. Er reichte ihn seinen Gefährten, von denen ihn einer sorgfältiger betrachtete als der andere. Er schaute in die Richtung, wo er die zerlumpte Frau hatte verschwinden sehen. Er gab seinem Kollegen den Ausdruck zurück und stieg in den Transporter, wo er eine rasche Botschaft an Lieutenant Rosow tippte, der das Bild durchgegeben hatte. Er drückte ein paar Tasten auf der Computertastatur und schickte die Nachricht ab, in der er mitteilte, daß er die Gesuchte möglicherweise gesehen habe.

Ächzend und keuchend mußte die alte Frau schließlich stehenbleiben. Binnen weniger Augenblicke erschien ein Mitglied ihres Clans und faßte nach dem Griff des Karrens. Ehe der Mann den restlichen Weg übernahm, umarmte er sie und wünschte ihr alles Gute. Nachdem er aufgebrochen war, kam ein anderer Marginaler und führte die Frau, die jetzt Fieber und Schüttelfrost hatte, zu einem Ort, wo sie in Sicherheit sein würde. Sie lehnte sich an ihn, und zusammen gingen sie fort.

Der neue Marginale schob den Karren weiter; bald erreichte er ein altes Eisengitter und dahinter das kahle Feld, auf dem Caroline und Janie in der Dunkelheit gefroren und sich vor den Zeugen gefürchtet hatten, die sie spürten, aber nicht sehen konnten, den gleichen Marginalen, die ihm jetzt zu Hilfe kamen. Der Mann bewegte sich mit großer Energie und Entschlossenheit vorwärts, froh, daß die Aufgabe bald vollbracht sein würde und daß er dabei eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Jedem, der ihn gesehen hätte, wäre er wohl viel zu mager erschienen, um die Kraft für diese Aufgabe zu besitzen, aber er fühlte sich auf unerklärliche Weise beglückt und angeregt, und seine Leistung war bewundernswert.

Er beugte sich über seine Fracht und sagte: »Ich denke, da ist noch ein bißchen Feuer in mir. Und was machen wir jetzt mit Ihnen?«

Er öffnete das Eisentor und schob den Karren hindurch und auf das Feld. »Jetzt wird es etwas holprig«, entschuldigte er sich. »Da war vielleicht das Kopfsteinpflaster noch angenehmer für Sie.«

Aber Caroline war in einem Fiebertraum versunken. Sie lag in einem Holzkarren, der von einem Gespann müder Pferde über ein schlammiges Feld gezogen wurde, und sie spürte die Schlammspritzer, die ihre aus dem Karren hängende Hand trafen. In dieser Hand befand sich irgendein nicht identifizierter, kostbarer Gegenstand; sie hielt ihn mit aller Kraft fest, die sie noch besaß.

Als der Traum sich dem Ende näherte, hob der Marginale sie aus dem Karren und legte sie sanft auf eine trockene Erhebung auf dem Boden. Er lehnte sie leicht gegen einen Felsblock und hoffte, daß diese Stütze sie davor bewahren würde, in der Flüssigkeit zu ertrinken, die ihre Lungen fast schon füllte. Er deckte sie wieder mit Zeitungen zu und legte dann den kleinen braunen Stoffbeutel der Frau neben sie.

Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, drehte er den Karren um. Ohne Caroline war er viel leichter zu schieben, und er bewegte sich schnell auf den Rand des Feldes zu. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er den gleichen Schüttelfrost bekommen würde, den seine alte Freundin jetzt hatte; er fragte sich auch, ob bald noch andere seinen Schmerz teilen würden. Er blieb einen Moment stehen und sah sich nach Caroline um; er fragte sich, ob ihre Rettung den Preis wert war, den er und seine Gemeinde dafür bezahlten.

»Ich werde es vermutlich nie wissen«, sprach er in die leere Nacht. Da er nun zurückgezahlt hatte, was er Sarins Mutter schuldete, schob er den Karren hinter ein Gebüsch. Nach wenigen Minuten war er in der Londoner Finsternis verschwunden und unterwegs nach Norden zum Fluß und zum Trost der Brücke.