33

 

Der Arzt lag auf dem Strohbett in Mutter Sarahs Hütte, und neben ihm hielt das Kind Kate stille, tränenreiche Wache, während die Pest Alejandros Körper mit tückischen Giften und seinen Kopf mit schreckerregenden Wahnvorstellungen füllte. Er warf sich im Schlaf herum und schlug wild mit den Armen, als könne er so die Last seiner Krankheit abschütteln und sie weit hinaus in die Nacht schleudern, damit sie ihn nie mehr quäle.

Er träumte; er rannte wie ein verwundetes Tier über den bewaldeten Pfad aus der Lichtung draußen vor der Hütte; seine Füße flogen, wenn er über die Steine und Wurzeln auf dem Waldboden sprang. Er wagte nicht, sich umzudrehen, um nicht langsamer zu werden und seinen Verfolgern in die Hände zu fallen. Aber er mußte unbedingt feststellen, wie die Jagd stand, und so wandte er den Kopf gerade weit genug, um einen Blick auf zwei Gestalten zu erhaschen, die ihn eilig verfolgten; jedesmal, wenn er hinschaute, schien die Entfernung zu ihnen kleiner geworden zu sein, und verzweifelt versuchte er, noch schneller zu rennen. Er verlängerte seine Schritte, pumpte mit den Armen und atmete keuchend, bis seine Lungen brannten. Er rannte, lief und schlug Haken durch den Wald, Matthews und Alderon auf seinen Fersen; er sprang zwischen dem immer dichter werdenden Unterholz umher, das sich mit jedem Schritt enger um ihn schloß.

Er hörte das erschreckende Klappern der hölzernen Pfeile, die noch immer in Matthews Brust steckten, vermischt mit dem schweren Dröhnen von Alderons polternden Schritten. So verdammt lang war der Weg doch nicht, als ich ihn das letzte Mal nahm! Inzwischen müßte ich doch schon die Eichen vor mir sehen ... Doch noch immer lag eine lange Strecke vor ihm, und das vertraute Eichentor war nicht zu erkennen. Der Boden wurde tückischer; Wurzeln und Zweige schienen mit knorrigen Fingern nach seinen Füßen zu greifen, während er immer höher sprang, um ihnen zu entkommen. Schließlich verfingen sich seine Zehen in einer vorstehenden Wurzel, und er stürzte.

Er landete hart auf dem Waldboden, und der Schock des Sturzes schmerzte tief in seinen Gelenken und Knochen. Er landete auf dem Gesicht, und sein Mund war gefüllt mit Erde und kleinen Blättern. Ich muß das ausspucken; meine Zähne knirschen auf kleinen Steinen, und ich möchte nichts als würgen; lieber Gott, bitte gewähre mir nur einen Schluck Wasser ...

Er kämpfte mit dem, was er im Mund hatte, konnte es aber nicht herauswürgen, denn irgendeine erstickende Wand war vor seinem Gesicht, und er konnte sie nicht durchdringen. Er drohte zu ersticken, konnte nicht atmen; endlich, in dem verzweifelten Bemühen, seine Zunge freizubekommen, schluckte er, denn er hatte keine andere Wahl, weil er sonst an dem Krumen in seinem Mund erstickt wäre.

Er konnte sich nicht bewegen, keinen Muskel auch nur einen Fingerbreit regen; er steckte in der Erde fest wie irgendein uralter Schlußstein. Matthews und Alderon setzten sich neben ihn, grinsten triumphierend und begannen mit ihren makabren Reden, während sie sich an seiner Seite ausruhten.

»Also, Arzt«, begann Alderon, »ich hätte auf meine Familie hören sollen; wenn ich das getan hätte, hätte ich mir die Schwierigkeit erspart, meine Zeit mit einem Scharlatan und Juden zu vergeuden. Wie gut es mir getan hat, die letzten Tage meines Lebens in Eurer Obhut zu verbringen! Ich hielt den Bader für einen Narren, aber er hatte wenigstens den Anstand, mir zu sagen, da sei nichts mehr zu machen. Dabei war ich der Narr, auf Euch zu vertrauen! Er ließ mich nicht zur Ader, gab mir keine schrecklichen Brechmittel und läuterte mich auch nicht von faulen Gasen, aber in Eurer Obhut erlitt ich all diese Dinge, und meine Schmerzen wurden davon nicht besser.« Er wandte sich an seinen schattenhaften Gefährten. »Ist es nicht so, Matthews?« sagte er.

»Ja«, sagte dieser.

Alderon fuhr fort: »Und dann habt Ihr die Tollkühnheit, mich aus meiner Ruhestätte zu reißen, und zwingt mich, Euch durch ganz Europa nachzujagen, bis ich endlich von Angesicht zu Angesicht mit Euch sprechen kann.«

»Aber seht Ihr denn nicht, Señor? Versteht Ihr denn nicht?« flehte der entsetzte Arzt. »Ich habe versucht, für Euch zu sprechen. Ich konnte nichts tun, um Euch zu retten, das gebe ich zu; es tut mir leid, wenn meine Behandlungen Euch Schmerzen verursachten. Aber ich sah Eure Krankheit in Eurer Brust! Ich fühlte sie mit meinen Händen! Und eines Tages werde ich der Welt von dem harten, grausamen Ding erzählen, das ich in Euch fand, und irgendein weiser Mann wird wissen, was zu tun ist! Andere werden leben, weil ich die Krankheit in Eurer Brust gesehen habe ...«

»Arzt«, sagte der ernste Geist von Alderon, »mein letzter Gedanke zu Lebzeiten war der Wunsch weiterzuleben. Das habt Ihr nicht für mich erreicht, und Gott hat es nicht gewährt. Mein erster Gedanke auf der anderen Seite war der Wunsch nach ewiger Ruhe. Die gewährte mir Gott, weil ich ein guter und anständiger Mensch war. Aber Ihr habt sie gestört.«

Erschöpft und reglos lag der Arzt da und hörte sich die Anschuldigungen an, die er am meisten fürchtete. »Señor«, flehte er, »ich bitte Euch, vergebt mir .«

»Ich habe auch etwas zu sagen«, sagte der Soldat neben Alderon. »Welcher Narr vertraut schon einem Spanier, selbst einem gelehrten Herrn im Dienste meines Königs? Habt Ihr gewußt, Doktor, daß ich selbst die Ansteckung nicht trug, sondern nur Reed so grausam davon befallen war? Und obwohl Ihr vom Gegenteil überzeugt seid, bin ich hier, um Euch zu sagen, daß ich jetzt meinen jungen Sohn auf meinem Knie wiegen würde, wenn Ihr mich hättet leben lassen.«

Das Gespenst von Matthews erhob sich und starrte auf Alejandro nieder, der vor Entsetzen wie gelähmt war.

»Eure Geschicklichkeit ist Täuschung. Ihr seid nicht besser als eine Hexe! Ihr könntet dem König als Hofnarr weit besser dienen denn als Arzt, denn dann könnten alle über Eure belanglosen Erfolge lachen! Aber was Ihr getan habt, ist nicht zum Lachen. Ich bin tot, und dennoch lebt Ihr!«

Alejandro fand seine Stimme wieder und rief laut: »Was soll ich Euch sagen, Soldat? Ich verfluche täglich meine eigene Unwissenheit, ich weine um die gequälten Seelen derer, für die meine Heilmittel wertlos waren; was soll ich denn tun?«

Die grauen Schatten derer, die auf seiner Reise gestorben waren, sammelten sich um sie. Fünf tapfere Soldaten, die dem Papst gedient hatten und in Frankreich durch das Schwert ihres Hauptmanns gestorben waren, die Juden, die in den Händen der Flagellanten gelitten hatten, und endlich sein teurer Gefährte Hernandez.

»Und was ist mit der Lady, Arzt? Was wollt Ihr der sagen?« fragte Matthews.

Aus der Ferne sah Alejandro die zarte Gestalt Adeles auf sich zuschweben. Er rief nach ihr, sie kam näher, antwortete aber nicht auf seinen Ruf. Sie schwebte weiter, kam näher, aber nicht in seine Reichweite, er konnte den Arm nicht bis zu ihr ausstrecken, und er konnte die Lücke nicht überbrücken, die zwischen ihnen klaffte.

O lieber Gott, Adele, bitte, komm zurück, verlaß mich nicht. Ich bin in den Fängen dieser beiden Gespenster, und ich schulde ihnen ein Leben. Sie wollen diese Schuld jetzt einfordern, und mein Leben ist das einzige, das ich noch habe ... O Geliebte, bitte, halt ein; ich hätte mit Freuden mein eigenes Leben für deines gegeben, und Mutter Sarah sagte mir, Gott habe entschieden, daß du leben solltest . ich weiß nicht, warum du es nicht getan hast!

Doch die bleiche Vision verlangsamte ihre Bewegungen nicht und verschwand wie sich auflösender Nebel. Bald war nichts mehr von ihr zu sehen.

Die Stimme einer Frau rief nach ihm, und er drehte den Kopf nach der Stimme um, verzweifelt hoffend, es möge Adele sein. Statt dessen sah er die gebeugte Gestalt von Mutter Sarah. Die alte Frau lächelte, was die Gespenster rings um ihn herum verächtlich und ängstlich zischen ließ.

»Ach, Ihr Narr«, sagte sie zu Alejandro, »glaubt Ihr, Ihr kenntet den Willen Gottes? Im Dienste Gottes kann keine Unwahrheit gesprochen werden. Ich habe nicht gelogen, als ich Euch sagte, ein Leben solle gerettet werden, aber denkt sorgfältig nach: Habe ich gesagt, wessen Leben es sein würde? Hattet Ihr gedacht, darüber könntet Ihr entscheiden? Hätte ich Euch gesagt, was ich befürchtete, so hättet Ihr alle Hoffnung verloren und wärt niemals hierher zurückgekehrt, um Euer eigenes Leben zu retten. Ihr wolltet, daß diejenige leben sollte, die Ihr liebtet, aber Eures war das Leben, das gerettet werden sollte, und indem Ihr lebt, werdet Ihr bezahlen, was Ihr schuldig seid. Es ist noch vieles für Euch zu tun. Gott ist nicht mit Euch fertig.«

Sie streckte die runzligen Hände aus und sagte: »Kommt. Ich will Euch ein letztes Mal den Weg zeigen.« Er reichte ihr beide Hände; er hätte nicht sagen können, ob er ihre Haut fühlte oder nur die Vorstellung davon, doch das war ihm gleich, denn beides war ein Trost. Er konnte das Schlagen ihres Herzens hören, als ströme ihr Blut durch ihn, und langsam und unter Schmerzen begann er aufzustehen.

Ganz plötzlich zog sie ihn mit großer Kraft hoch und zwang seine Beine, ihr zu gehorchen. Die alte Frau flog vor ihm her, und er folgte dicht dahinter, noch immer ihre knorrige Hand haltend. Er konnte nicht spüren, ob seine Füße den Boden berührten, aber er wußte, daß er lief, aus aller Kraft vorwärtsstürmte.

Die Gespenster erhoben sich alle gleichzeitig und protestierten laut gegen seine Flucht. Matthews und Alderon machten sich an seine Verfolgung und mühten sich ab, die alte Frau einzuholen, die mit unerklärlicher Schnelligkeit mit ihrer Beute davoneilte. Alejandro schaute zu den beiden zurück, als sie alle auf das Tor aus den zwei Eichen zujagten, und er sah, daß alle fünf Soldaten und die verbrannten Juden sich der Jagd angeschlossen hatten und schnell näher kamen. Nur Hernandez blieb zurück und sah traurig der sich entfernenden makabren Parade nach.

Das Klappern der Pfeile kam näher, und Alde- rons fauler Atem wehte Alejandro warm in den

Nacken. »Schaut nicht zurück!« rief Mutter Sarah. »Die Vergangenheit wird Euch nichts nützen!«

Gerade als die Geister seiner Mißerfolge über ihn herfallen wollten, hörte er Mutter Sarah rufen: »Lebt wohl, und möge Gott Euch beschützen!« Dann wurde er heftig zwischen den Eichen hindurchgeschleudert, als stoße ihn der Schoß der Erde persönlich aus; der frische Wind traf sein Gesicht wie ein Guß kalten Wassers, und er wußte, daß er auf der anderen Seite war.

Kate stand da und starrte bestürzt auf den nassen Fleck auf dem Boden der Hütte, wo die gelbliche Flüssigkeit in der Erde versickerte. Der Arzt hatte in seinem Delirium um sich geschlagen und ihr die Schüssel aus den kleinen Händen geschleudert; entsetzt beobachtete sie, wie die Hälfte der noch verbliebenen Medizin verlorenging.

Er würde wissen, was zu tun war, aber sie konnte ihn nicht wecken; er war weit jenseits allen Bewußtseins und ließ sich nicht zurückrufen. Sie würde einfach ohne seine Hilfe ihr Bestes tun müssen. Also bückte sie sich und kratzte die nasse Erde in die Schale. Nachdem sie flüsternd um Erfolg gebetet hatte, preßte sie seine Nasenflügel zusammen, wie sie es die Nurse bei kleinen Babys hatte tun sehen, die irgendeine übel schmeckende Medizin brauchten, und zwang ihn, die Lippen weit genug zum Atmen zu öffnen. Mit der anderen Hand faßte sie den ganzen Klumpen Schlamm und steckte ihn ihm in den offenen Mund.

Er würgte und spuckte und versuchte, die Masse wieder von sich zu geben, aber sie drückte auf sein Gesicht, wie er es ihr gezeigt hatte, und bedeckte dabei auch seine Nase. Er würde schlucken oder ersticken müssen.

Er hielt fast zu lange durch, denn sie war am Ende ihrer Kraft, aber sie drückte weiter, so gut sie konnte, und flüsterte unter angstvollen Tränen: »Doktor, ich schulde Euch ein Leben ...«

Endlich schluckte er, und sie brach, vor Erleichterung weinend, auf seiner heftig atmenden Brust zusammen.

Das Dienstmädchen, das in ihren letzten Lebenstagen für Kates Mutter gesorgt hatte, war ein seltsamer und erheiternder Anblick, denn es hatte die feinen Gewänder seiner toten Herrin angelegt. Die zarten Kleider der zierlichen Frau, der sie gedient hatte, waren für ihre kräftigen Formen viel zu eng, doch sie hatte ihren üppigen Körper mit Gewalt hineingezwängt. Mit ungeübter Hand hatte sie auch die Schminkutensilien ihrer Lady benutzt, was ihr ein lächerliches, clownhaftes Aussehen gab.

Und so war sie, wie sie jetzt unsicher auf dem kleinen Pferd der Lady durch die Straßen Londons paradierte, in der Tat ein bizarrer Anblick. Doch aus der Ferne wirkte sie wie eine achtbare Frau, die vielleicht ihren Geschäften, einer Besorgung oder einem Besuch nachging, und Sir John Chandos hielt seine Truppe an, als sie ihr begegnete, und grüßte sie mit Respekt.

»Ich wünsche Euch einen guten Tag, Lady; wir sind im Auftrag des Königs unterwegs und brauchen Hilfe.«

Sie nickte höflich, da sie wußte, in dem Augenblick, in dem sie den Mund aufmachte, war sie verraten.

»Wir suchen jemanden, der vor der Justiz des Königs flieht. Einen Arzt. Er reist mit einem kleinen Mädchen.« Als er eine detaillierte Beschreibung von Alejandro und Kate folgen ließ, wußte das Dienstmädchen sofort, wen sie suchten.

»Habt Ihr ein solches Paar gesehen oder davon gehört?«

Heilige Jungfrau, was soll ich tun? Die Magd wußte, daß zwischen dem Kind und seinem nachlässigen Vater von Liebe kaum die Rede sein konnte, und daß der Arzt der Kleinen nicht schaden würde, stand fest. Selbst mit ihrem schlichten Verstand erkannte sie, daß es mit der Geschichte mehr auf sich hatte, als man ihr erzählte.

Sie schüttelte verneinend den Kopf und nickte Sir John dann höflich zu; dieser sah ihr fragend nach, als sie ungelenk ihr Pferd wendete und da- vonritt. Verwirrt über das seltsame Verhalten der Frau, saß er wieder auf und setzte seine Suche fort. Bei sich dachte er: Arme Seele; noch eine, die verrückt geworden ist.

Kaum hatte sie eine sichere Entfernung zwischen sich und den Suchtrupp gelegt, wendete das Dienstmädchen das Pferd der Lady erneut. Sie würde geradewegs zur Hütte reiten; Mutter Sarah würde wissen, was zu tun war.

Ein ganzer Tag verging, bis Alejandro die Augen öffnete und den Kopf des schlafenden Kindes auf seiner Brust sah. Langsam bewegte er seinen steifen Arm, denn nach der Krankheit und Reglosigkeit war er fast nicht mehr zu gebrauchen. Als er ihn wieder benutzen konnte, legte er vorsichtig die Hand auf die goldenen Locken und ließ sie dort liegen. Kate spürte das Gewicht seiner Hand, öffnete die Augen und erwachte. Als sie sah, daß er bei Bewußtsein war, richtete sie sich sofort auf, rieb sich die Augen und berührte dann seine Stirn.

»Sie ist wieder kühl, Doktor; einen ganzen Tag lang hattet Ihr glühendes Fieber.«

»Bitte, Kate, ich brauche etwas frische Luft . könntet Ihr die Tür öffnen?«

Kate riß die Tür weit auf, und Alejandro konnte das Pferd draußen am Pfosten sehen, das friedlich graste; er hörte das Summen träger Insekten im heißen Sonnenlicht. Nie war ihm der blaue Himmel so schön erschienen, und er dankte Gott für das Geschenk dieser wundervollen Farbe.

»Könntet Ihr mir etwas zu trinken bringen? Mein Mund ist voller Sand.«

Als sie ihm die Einzelheiten dessen erzählte, was während seines Deliriums passiert war, staunte er darüber, wie sein Traum die Realität des Geschehens widergespiegelt hatte, nur in das Gewand seiner Vergangenheit gekleidet.

»Seid Ihr geheilt, Doktor?« fragte das Kind.

»Ja, meine Kleine, es scheint so, und nicht nur von der Pest.«