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Cervere, Aragon, 1348
Alejandro Canches wischte sich mit seinem erdverkrusteten Arm die Schweißperlen von der Stirn und hinterließ einen dunklen Schmutzstreifen. Die eiserne Schaufel, die aufrecht in dem Erdhügel neben ihm stand, war ein prachtvolles Werkzeug, das ein ärmerer Mann sich nicht hätte leisten können, aber sie war viel zu schwer, um sie in einer schwülen Nacht in Aragon zu benutzen. Er stützte einen Arm auf den Griff der Schaufel und beugte sich darüber, rastete für einen Moment und wünschte sich aus vollem Herzen, die Arbeit, die vor ihm lag, hätte warten können, bis das Wetter kühler war. Aber ach, dachte er, sie kann nicht warten.
Während sein Lehrling vom Rand des Loches aus herunterschaute und nervös aufpaßte, daß sie keine unerwünschten Zuschauer bekamen, nahm der Arzt Canches die Schaufel wieder zur Hand und begann, sie rhythmisch in den Boden zu stoßen. Das Loch wurde tiefer, der Haufen wurde hö- her, bis endlich das Blatt der Schaufel auf etwas Hartes prallte und seine schmerzenden Schultern und sein gebeugtes Rückgrat erschütterte. Rasch warf er die Schaufel beiseite und rief dem Jungen zu, er solle zu ihm in das Loch herunterspringen. Mit bloßen Händen schaufelten sie hektisch die Erde weg und hofften, daß sie endlich auf die hölzerne Kiste gestoßen waren, das letzte Ziel ihrer heimlichen Bemühungen.
Auf einmal stieß der Lehrling einen lauten Schrei aus und umfaßte eine Hand mit der anderen. Alejandro hörte zu graben auf und nahm die Hand des Jungen in seine; er konnte einen großen Splitter im Handgelenk ertasten, ihn aber in der feuchtheißen Dunkelheit nicht sehen.
Er zischte ihm zu, leise zu sein. »Wenn wir bei dieser Arbeit erwischt werden, braucht keiner von uns mehr Hände! Vergiß deinen Schmerz fürs erste und geh wieder an die Arbeit! Ich kümmere mich darum, wenn wir wieder in meiner Praxis sind.«
Alejandro konnte den wütenden Blick des verletzten Knaben nicht sehen. Der Junge wappnete sich gegen den pochenden Schmerz der Wunde, machte sich wieder an die Arbeit, kratzte widerwillig die Erdklumpen beiseite und schäumte innerlich, weil sein Meister darauf bestand, daß er trotz seines erheblichen Unbehagens weitermachte.
»Hier!« sagte der Arzt drängend; er war nur noch ein paar Fingerbreit Erde von seinem Preis entfernt. »Hilf mir, das wegzuräumen!«
Zusammen legten sie einen kleinen Teil der Oberfläche der Kiste frei, wo der Deckel an eine Seite stieß. Alejandro bohrte mit seinen Fingern am Rand entlang, bis er eine Spalte fand. Er lächelte triumphierend in die Finsternis, nahm die Schaufel zur Hand und zwängte sie in den engen Zwischenraum. Er hoffte, die Nägel würden weggehobelt; zu seiner großen Enttäuschung war das Holz noch nicht verfault genug, um die eisernen Stacheln freizugeben. Bald, das wußte er, würden sie verrostet und leicht zu entfernen sein; doch leider konnte er sich den Luxus, darauf zu warten, daß die Natur seine Arbeit vollendete, nicht leisten.
Zusammen übten sie heftigen Druck auf den Griff der Schaufel aus, und der Deckel öffnete sich mit einem lauten Krachen. Sie packten ihn und zogen ihn mit aller Kraft hoch, während sie mühsam auf dem freigelegten Rand der Kiste balancierten und vor Anstrengung ächzten und keuchten. Alejandros Schultern und Arme waren vor Erschöpfung fast nicht mehr zu gebrauchen, aber er würde jetzt nicht aufgeben, wo der Erfolg so nahe war und die Zeit so schnell verging.
Mit einer letzten mächtigen Kraftanstrengung rissen sie den Deckel ab und legten ihn auf den festen Grund neben dem offenen Grab. Auf einer Seite der Kiste kauernd, während Erde neben seinen Füßen herunterrieselte, beugte Alejandro sich vor, so weit er konnte, packte den Leichnam unter den Schultern und hievte ihn hoch. Der Junge zog nun einen langen Streifen grob gewebtes Tuch unter dem Rücken durch und auf der anderen Seite wieder heraus. Sie vollführten dasselbe unter den Knien und kletterten dann zum Rand des Loches zurück. Alejandro packte die Enden eines Tuchstreifens, der Junge die des anderen; ächzend und fluchend zogen sie, bis der Leichnam endlich hochkam. Sobald er den Rand des Loches erreicht hatte, schoben sie ihn zur Seite und legten ihn auf unberührten Boden.
Keuchend vor Anstrengung, lehnte Alejandro sich einen Moment zurück, um wieder zu Atem zu kommen. Als er wieder sprechen konnte, tätschelte er den schmutzigen Leichnam mit so etwas wie Zuneigung und sagte: »So, Señor Alderon, mein verstorbener Freund, sehen wir uns also wieder. Ich habe mich auf dieses Zusammentreffen gefreut.« Er beugte sein Gesicht dicht über den Kopf der Leiche und flüsterte: »Und bevor ich Euch wieder in die Erde lege, das schwöre ich Euch bei den Knochen meiner eigenen Vorfahren, werde ich wissen, was Euch getötet hat.«
Er hatte diesen Mann gekannt und in seiner qualvollen tödlichen Krankheit mit einem Mangel an Erfolg behandelt, der ihn bitter schmerzte. Carlos Alderon war Schmied in Alejandros Heimatstadt Cevere in der spanischen Provinz Aragon gewesen, ein tüchtiger Mann, der genau die Schaufel geschmiedet hatte, mit der jetzt sein Sarg wieder geöffnet wurde; höchstwahrscheinlich hatte er auch den Hammer und die Nägel hergestellt, mit denen er verschlossen worden war.
Alejandro erinnerte sich an den einst massigen Mann, der vor seiner Krankheit stark und gesund gewesen war, eine Gnade, die der Arzt für Gottes Belohnung für ein anständiges Leben mit ehrlicher Arbeit hielt. Obwohl sie vor Carlos’ Krankheit nur selten miteinander in Berührung gekommen waren, hatte Alejandro von ferne die Art bewundert, wie Carlos seiner hart arbeitenden bäuerlichen Familie in Cervere liebevoll Bequemlichkeit und Wohlstand verschafft und ihr so ermöglicht hatte, sich weit über ihre bescheidenen Anfänge zu erheben. Er hatte seine Tochter gut verheiratet, und in der Schmiede gab es reichlich Arbeit für die Söhne; die Ehefrau war ansehnlich rund geworden und hatte das cholerische Temperament angenommen, das ihrer gehobenen sozialen Stellung entsprach.
Als der hingebungsvolle Familienvater begann, Blut zu husten, war er daher um sich selbst nicht sonderlich besorgt. Schließlich, so hatte er Alejandro einmal gesagt, war Gott gut zu ihm gewesen, und er hatte keinen Grund zu der Annahme, sein Glück werde nicht von Dauer sein. Doch nach den üblichen vierzehn Krankheitstagen hatte sein Husten nicht abgenommen, und das Sputum wurde mit jedem Tag blutiger. Seine Frau behandelte ihn mit Kräuteraufgüssen und Eukalyptustee, doch der Erfolg war nur vorübergehend. Widerstrebend ging Carlos zum örtlichen Bader, der nach kurzer Untersuchung des Auswurfs weise genug war, Carlos zu sagen, diese Krankheit liege außerhalb seiner begrenzten Erfahrung.
Noch immer neben dem geschrumpften Leichnam keuchend, erinnerte Alejandro sich an den Tag, an dem der große Mann an seiner Tür erschien, den Hut in der Hand, und um Behandlung seiner erschreckenden Symptome bat. Carlos war sichtlich nervös gewesen, da er nicht wußte, wie man sich in einer solchen Situation richtig verhielt. Es war jüdischen Ärzten verboten, Christen zu behandeln, und obwohl man mit den Juden in der Stadt Cervere nicht sonderlich wohlwollend verfuhr, duldete man sie immerhin ohne unbillige Bosheit. Alejandros wohlhabende und erfolgreiche Familie war innerhalb der jüdischen Gemeinde sehr angesehen, was zu vorteilhaften Heiraten seiner jüngeren Schwestern geführt hatte (ihm selbst allerdings war es gelungen, sich dem Zugriff des Ehevermittlers zu entziehen). Er zögerte, ihre Stellung zu gefährden, indem er sich auf eine verbotene Handlung einließ.
Und so war Alejandro verständlicherweise auf der Hut vor seinem neuen Patienten, als dieser an seiner Tür erschien. Er hatte noch nie einen Christen behandelt oder auch nur berührt, außer auf der Medizinschule in Montpellier, und selbst damals hatte er nie einen anständigen Christen angerührt, nur Sträflinge und Huren, die keine andere Wahl hatten, als stillzuhalten. Wenn der lokale Klerus davon Wind bekam, würde seine Familie in schrecklichen Schwierigkeiten stecken. Er war ein überaus tüchtiger Arzt, aber viel zu mitfühlend und jugendlich unwissend, was die Folgen seines Verhaltens betraf; es fehlte ihm die harte Weisheit, Carlos Alderon einfach wegzuschicken. Törichterweise hieß er ihn willkommen und beschloß, dem großgewachsenen Mann nach Kräften zu helfen.
Er probierte jede bekannte Behandlungsmethode für Lungenkrankheiten aus, darunter Aderlaß, Abführmittel, Einläufe und feuchte Dämpfe, aber nichts wirkte. Er hatte ein Pergament zusammengerollt und ein Ende der Röhre auf die Brust des Mannes gestützt, wie man es ihn gelehrt hatte, und dann am anderen Ende gelauscht. Was er hörte, war schrecklich verwirrend für ihn, denn einer von Alderons Lungenflügeln hörte sich sauber an, während die Luft in dem anderen zu gurgeln und zu wimmern schien. Alejandro begann zu argwöhnen, daß einer der Lungenflügel etwas enthielt, was der andere nicht enthielt, doch er hätte seinen Verdacht nur bestätigen können, indem er in die Brust des Mannes schaute. Wenn ich doch nur in ihn hineinsehen könnte, hatte er damals enttäuscht gedacht. Hilflos mußte er zusehen, wie Carlos’ Körper gebrechlich wurde und sein Lebensmut schwand; als der einstige Riese schließlich starb, hatte er das Aussehen eines zusammengeschrumpften Ledersacks voll geknickter und gebrochener Zweige.
Während er und sein Lehrling den Leichnam jetzt auf ihren Karren luden, schien er noch immer schwer, und Alejandro fragte sich, ob sie das wohl auch geschafft hätten, wenn der Mann ohne vorherigen Verfall an irgendeiner Verletzung gestorben wäre. Sie bedeckten die Leiche mit frischem Heu und legten die Schaufel und ein paar andere Werkzeuge daneben. Dann zogen sie ihre Kapuzen so weit herunter, daß ihre Gesichter teilweise verborgen waren und hofften, wie Bauern auszusehen, die früh auf dem Weg zu einem Markt durch die Stadt zogen.
Sie waren beide erhitzt und schmutzig und erbärmlich ängstlich, erwischt zu werden, und der gefährliche Rückweg zu Alejandros Praxis würde auf den holperigen Wegen fast eine Stunde in Anspruch nehmen. Trotzdem weinte der Junge bitterlich wegen der Wunde in seiner Hand, die jetzt schmerzhaft pochte; sein Jammern und Klagen hatte die unerwünschte Wirkung, den ohnehin störrischen Maulesel noch weiter zu reizen. Alejandro zog unter dem Sitz eine Flasche starken Rotwein hervor und wies den Jungen an, kräftig davon zu trinken, da er wußte, daß die betäubende Wirkung des Weins vergangen sein würde, bevor sie den Leichnam erneut bewegen mußten. Der Junge wehrte sich nicht, sondern schüttete den Wein in sich hinein, als sei er aqua vitae, das Wasser des Lebens, und der letzte, den er jemals trinken würde. Danach kamen sie ungestörter voran, je nachdem, wie gut das schwindende Mondlicht ihren Weg erhellte. Der nervöse Maulesel scheute, weil er ohne Laterne durch die Dunkelheit trotten sollte, und der Arzt dachte unterwegs viele Male, er selbst hätte den Karren schneller ziehen können.
Kurz vor der Morgendämmerung langten sie endlich in dem Stall neben Alejandros Haus an und schlossen die schweren Türen hinter sich zu. Sie hinterließen ihre gräßliche Fracht sicher im Stall versteckt und nahmen im Licht einer Laterne den dunklen Durchgang ins Haus. Jeder Schritt erinnerte schmerzhaft an die Anstrengungen der Nacht, doch der Arzt hatte nun einmal versprochen, sich die Wunde des Jungen anzusehen, sobald sie sicher in seiner Praxis waren, und seine eigenen Beschwerden würden ihn nicht daran hindern.
Er hielt die Hand des Jungen unter das Licht einer Laterne und untersuchte sie sorgfältig. »Es tut mir leid, daß ich mich nicht eher um dich kümmern konnte«, entschuldigte er sich, und sein Bedauern wuchs, als er die Schwere der Verletzung erkannte. Der Junge zuckte zusammen, überempfindlich durch den Schmerz in seiner Hand, den sogar seine Trunkenheit nicht völlig auslöschen konnte. Alejandro versuchte, die Hand ruhig zu halten, während er sich darauf vorbereitete, den Splitter herauszuziehen, aber jedesmal, wenn er ihn berührte, zuckte der Junge zurück.
»Halt still, Junge; sonst kann ich diesen gottverdammten Splitter nicht richtig packen!«
Schockiert von Alejandros gotteslästerlichem Befehl, gehorchte der Knabe, aber der Schaden war schon angerichtet; der Splitter brach am Rand der Wunde ab, und ein beträchtliches Stück blieb im Fleisch stecken.
Alejandro wusch Schmutz und Blut von der Hand des Jungen und goß Wein über die Wunde, um sie noch besser zu reinigen. Er hatte schon lange die Erfahrung gemacht, daß mit Wasser gesäuberte und mit Wein behandelte Wunden eher ohne Eiterung heilten, obwohl er keine Erklärung für die heilende Macht dieser Vorgehensweise besaß. Um den Schmerz zu betäuben, träufelte Alejandro Nelkenöl auf die Wunde, wobei der Junge zusammenzuckte und keuchend Luft holte.
»Das Stechen wird rasch vergehen«, sagte er zu ihm. »Und jetzt halte still, während ich die Hand verbinde. Und trinke mehr Wein. Der wird dir helfen zu schlafen.« Im stillen betete der Arzt, der Junge möge durch die Eiterung, die sich zweifellos einstellen würde, nicht die Hand oder gar sein Leben verlieren.
Als am Horizont die ersten Sonnenstrahlen sichtbar wurden, legte Alejandro sich auf sein Bett; seine Kräfte waren völlig erschöpft. Lebhafte Träume von Carlos Alderon störten seinen unruhigen Schlaf; das grauenerregende Gespenst in fleckigem schwarzem Leichenhemd jagte ihn unablässig durch dunkle, gefährliche Wälder. Alejandro war dem Griff des Schmiedes immer nur knapp einen Schritt voraus, als er sich in den unbekannten Forst stürzte; unbeholfen stolperte er über endlose Hindernisse, und seine bleiernen Glieder mühten sich ab wie in einem unkrautübersäten Sumpf. Er hatte keinen anderen Wunsch, als sich aus diesem Sumpf zu schleppen und zu langer Ruhe niederzulegen.
Aufgestört von dem erschreckenden Traum, zuckte der erschöpfte Körper des Arztes krampfartig, unfähig, sich loszureißen und der verwirrenden Verfolgung zu entkommen. Immer weiter floh er, gejagt von Alderons Geist, ohne sichere Zuflucht vor sich; wahre Ruhe war noch immer sehr, sehr fern.
Die Mittagssonne fiel durch Ritzen in den Läden, die die schmalen Fenster bedeckten, als der erschöpfte Arzt endlich die Augen wieder öffnete. Steif stand er von seinem Lager auf und wurde bei jeder Bewegung, die er versuchte, sofort wieder an die Anstrengungen der vergangenen Nacht erinnert. Noch nie hatte er so quälende Schmerzen in den Schultern gehabt. Narr, dachte er, es lag doch auf der Hand, daß du nach dieser schweren Arbeit leiden würdest! Er ging zu seinem Arzneischrank und fand eine Salbe aus Menthol und Kampfer, mit der er seine Schultern einrieb.
Das Wasser, das er sich ins Gesicht spritzte, erfrischte ihn nur wenig; es war am Vortag aus dem Brunnen geschöpft worden und unangenehm lauwarm. In seinem angeschlagenen Zustand hielt er es für unklug, sein Haus zu verlassen, nicht einmal, um zum Brunnen zu gehen, denn er trug noch immer die dreckverkrustete Kleidung des Vortags. Rasch legte er sie ab und wischte sich mit einem Tuch sauber, das er in das restliche Wasser getaucht hatte. Alejandro war normalerweise ein gewissenhafter Mann und aufrichtig in seinem Wunsch, ein Beispiel der Reinlichkeit zu geben, das, wie er hoffte, seine Patienten ermutigen wür- de, sich ähnlich sauberzuhalten, mit großem Nutzen für ihre Gesundheit. In seinem gegenwärtigen verschmutzten Zustand konnte er höchstens hoffen, gewissen Haustieren ein Beispiel zu sein.
Er stopfte sein langes schwarzes Haar unter einen Hut, legte ein schlichtes Hemd und einfache Beinkleider an und ergriff dann zwei hölzerne Eimer. Als er die Tür öffnete, fiel ihn die drückende Hitze an und erinnerte ihn daran, daß die Arbeit des Tages wirklich schrecklich sein würde.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand am Himmel erreicht, und ihre Strahlen brannten erbarmungslos auf den Stadtanger und rissen noch tiefere Sprünge in die bereits rissige Erde. Er beschirmte seine Augen vor der blendenden Helle und ging um eine Ecke zum Gemeindebrunnen.
Zu seiner Bestürzung sah er ihn umringt von Christenfrauen, die frisches Wasser für ihre Krüge und neuen Klatsch einholten, um ihre Zungen daran zu wetzen. Ein kleines Dach beschattete den Brunnen und verschaffte denen, die unter ihm versammelt waren, eine gewisse Linderung der lähmenden Hitze. Alejandro stand im Hintergrund im vollen Sonnenlicht und wartete, bis er an die Reihe kam, wobei er eine schwache, aber erfolglose Anstrengung unternahm, seine Ungeduld zu verbergen. Als sie bemerkten, wie er von einem Fuß auf den anderen trat, gingen die Frauen nur widerwil- lig beiseite, da sie ihren eigenen schattigen Aufenthalt am Brunnen gern verlängern wollten, ehe sie zu ihren häuslichen Pflichten zurückkehrten.
Er hängte einen der Eimer an den Haken und ließ ihn in den Brunnen hinunter. Wie kühl hörte sich das Plätschern an, als der Eimer tief unten das Wasser traf; wie stechend war der Schmerz in seinen Schultern, als er den Eimer, der nun voll und schwer war, wieder hochzog. Ich sollte den Jungen wecken, dachte er; solche Pflichten sind seine Sache, nicht meine! Dann erinnerte er sich an die verletzte Hand seines Lehrlings und beschloß, ihn schlafen zu lassen, bis er seine Hilfe bei der schwierigeren Obduktion brauchte. Alejandro verfluchte das Pech, das zu dem Splitter geführt hatte, und taumelte unter Schmerzen zu seinem Haus zurück, schwankend unter der Last der wassergefüllten Eimer. Als er wieder zum Brunnen zurückkehrte, hatte er nur noch einen Eimer bei sich; er wiederholte diese Gänge, bis das große Becken in seinem Operationszimmer ganz voll war.
Er war erleichtert, als er fertig war, denn er fürchtete die neugierigen Augen der Christenfrauen. Jedesmal, wenn er zum Brunnen zurückkam, versuchte ein junges Mädchen in grobem Kleid seinen Blick zu erhaschen, und jedesmal wich er ihren Augen aus, da er ihren Vorwitz nicht ermutigen wollte. Sie starrte ihn verführerisch an und zeigte unmißverständlich Interesse an ihm. Er nahm ihre Aufmerksamkeit nicht zur Kenntnis und erwiderte ihr kokettes Lächeln nicht. Er hoffte, sie würde ihre schweigenden, aber offenkundigen Avancen aufgeben, wenn er sie ignorierte.
Alejandro konnte nicht wissen, daß er in seiner europäisch anmutenden Kleidung den Angehörigen des anderen Geschlechts möglicherweise anziehend erschien; in seinem eigenen Volk wurde physische Schönheit nicht unbedingt als Vorzug angesehen, und er beachtete die seinige kaum. Aber er war groß gewachsen und muskulös trotz seiner drahtigen Schlankheit, hatte ein gut geschnittenes, kantiges Gesicht und glatte, olivfarbene Haut. Sein Gesicht war freundlich, doch sein Ausdruck gewöhnlich ernst und nachdenklich; selten lächelte oder lachte er aus vollem Herzen, denn gewöhnlich war er zu sehr damit beschäftigt, über irgendein gewichtiges medizinisches Geheimnis nachzugrübeln. Wenn er aber lächelte, dann stand in seinen bernsteinfarbenen Augen ein leuchtendes Funkeln, denn nur, wenn er wirklich glücklich war, gab er seine düstere Beherrschung auf; der Kontrast war immer verblüffend, sogar für die, die ihn gut kannten. Von diesen Vertrauten gab es allerdings nicht viele, denn er war schüchtern und blieb für sich, außer, wenn er seinem Beruf nachging. Er war die Art von geheimnisvollem und rätselhaftem Mann, der ein junges Mädchen anziehen mochte, dem die Raffinesse fehlte, seine feineren Eigenschaften zu schätzen. Seine Unschuld und sein Mangel an Erfahrung waren so groß, daß er nicht begriff, welchen Eindruck er machte. Er merkte nicht, wie das Mädchen am Brunnen verstohlen mit einer seiner Gefährtinnen zu flüstern begann; es hatte ihn trotz seiner ungewöhnlichen Aufmachung erkannt und war neugierig.
Sicher in seinen Operationsraum zurückgekehrt, fing er an, sich auf die wenig angenehme Aufgabe vorzubereiten, die ihn erwartete, die Obduktion des Leichnams von Carlos Alderon. Sie würde entweder seinen Verdacht bestätigen, daß der Ursprung von Carlos’ Krankheit nicht das vermutete Ungleichgewicht zwischen seinen Lungen und seinem Herzen war, sondern etwas, das man genauer erkennen und sehen konnte, oder sie würde eine Fülle neuer Fragen aufwerfen. Er empfand gleichzeitig Abscheu vor der Verwesung, die er vor sich sehen würde, und Erregung bei dem Gedanken an mögliche Entdeckungen; nicht oft hatte er eine solche Gelegenheit, etwas zu lernen. Während seiner ganzen medizinischen Ausbildung hatte er nur vier Sektionen mit angesehen; der christliche Papst hatte dem massiven Druck weltlicher Stellen nachgegeben und widerwillig gestattet, daß jede medizinische Fakultät eine Sektion im Jahr durchführte, und dafür das offizielle kirchliche Verbot solcher Vorgehensweisen aufgehoben. Bei diesem schrecklichen jährlichen Ereignis pflegte sich die gesamte Studentenschaft auf einem offenen Platz zu versammeln, um zuzusehen, wie ein Bader-Chirurg den Kadaver öffnete und dann im Laufe von drei Tagen Stück für Stück auseinandernahm. Verweste Organe wurden den Studenten zu näherer Betrachtung und eingehendem Studium dargeboten, während der Professor sich in sicherer Entfernung hielt und Dinge beschrieb, die er nicht mit eigenen Augen sehen konnte. Die Professoren pflegten Galen zu zitieren, dessen geschriebenes Wort für die Medizin das war, was die heilige Thora den Juden bedeutete, und damit Informationen weiterzugeben, die häufig falsch waren, wie Alejandro später entdeckte, denn das, was sie da lehrten, war vor vielen Jahrhunderten geschrieben worden. Wir haben seither soviel gelernt, dachte er immer, wenn er die Vorgänge beobachtete; sicher könnten wir Besseres leisten! Er wollte die Wahrheit über den menschlichen Körper wissen, und er wollte ihn selbst aus größerer Nähe sehen, um aufgrund eigener Beobachtungen eigene Schlüsse zu ziehen. Dies, so wußte er, war die einzige Art, wie er bekommen konnte, was er wollte. Er würde sich sein Wissen stehlen müssen, wenn keiner zuschaute.
Alejandro sammelte seine Werkzeuge. Er wünschte sich, ein noch besseres als das feine Messer zu haben, das er besaß; er verfluchte auch seinen Mangel an Zeit, denn er hätte gern soviel wie möglich von dem Kadaver untersucht. Er weckte seinen Lehrling, und zusammen nahmen sie ein leichtes Mahl aus Brot und Käse zu sich, bevor die Arbeit ihnen jeden Wunsch nach Essen vergehen ließ.
Er sah sich die Wunde des Jungen noch einmal an, und wie erwartet hatte sie zu eitern begonnen. Aber der Junge würde genug leisten können, um von einigem Wert zu sein; er hatte auch kaum eine Wahl, wenn sie die notwendigen Fortschritte machen wollten. Alejandro träufelte nochmals einen Tropfen Nelkenöl auf die Wunde, und sie bereiteten sich darauf vor, den Leichnam zu sezieren.
Sie banden sich mit aromatischen Kräutern gefüllte Tuchmasken über Mund und Nase, um den unvermeidlichen Punkt hinauszuzögern, an dem sie ihre Arbeit aufgeben mußten, weil der Geruch sie überwältigte. Sie entfernten sorgfältig das Heu und legten es für die Rückfahrt zum Friedhof beiseite. Dann hoben sie den Leichnam an den rohen Tuchstreifen an und trugen ihn in den Operationsraum. Da die Fensterläden zum Schutz vor neugierigen Augen bereits geschlossen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als Fackeln anzuzünden, um Licht zum Arbeiten zu haben, was die ohnehin kaum erträgliche Hitze rasch noch steigerte. Nachdem sie die Überreste von Carlos Alderon auf den Tisch gelegt hatten, entfernten sie vorsichtig die Leichentücher und hoben sie auf, um den Leichnam später wieder darin einzuhüllen.
Die Leiche, schon beim Begräbnis verschrumpelt und abgemagert, war jetzt wie ein Skelett; das, was vom Fleisch noch übriggeblieben war, hatte die Farbe eines Fischbauches. Die knorrigen Finger und Zehen waren fest gekrümmt, als umklammerten sie kostbare Juwelen, und durch die dünne Haut konnte man beinahe die Knochen sehen. Es war gräßlich, und Alejandro konnte nicht ganz verhindern, daß ihm übel wurde. Ätzende Galle stieg ihm in die Kehle, und er mußte den Kopf abwenden und atmen, ehe sein Magen wieder zur Ruhe kam. Doch trotz der Hitze, des Gestanks und der Angst in seinen Eingeweiden konnte der junge Arzt seine Erregung kaum unterdrücken. Die Tiefe seiner morbiden Faszination durch dieses tote Ding, das keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen hatte, erstaunte ihn, und seine gottlose Begierde, es zu sezieren, verstörte ihn.
Er machte einen langen senkrechten Schnitt in die Brustmitte des Leichnams. Am oberen und unteren Ende dieses Einschnitts setzte er noch zwei waagerechte Schnitte. Dann klappte er die Lappen aus Haut und Muskeln zur Seite und legte den Brustkorb frei. Dankbar, daß seine Arbeit nicht von dem Blut behindert wurde, das nach solchen Schnitten aus einem lebendigen Körper geflossen wäre (aber ach, dachte er, was würde ich für die Erfahrung geben, wenn sie schmerzlos möglich wäre!), zerbrach er das Brustbein mit einem Meißel. Er achtete darauf, das, was darunter lag, nicht zu beschädigen, und teilte den Brustkorb dann in der Mitte in zwei Hälften. Ein neuer Schwall von Fäulnisgestank schlug ihm entgegen. Er ignorierte seine wiederkehrende Übelkeit, spähte in die Körperöffnung und sah sich die Lungen genau an. Ihre Größe war auffallend und unterschiedlich. Ich wußte es doch! dachte er, und seine Erregung stieg. Er tastete den größeren Lungenflügel ab; seine Finger glitten auf der schleimigen Oberfläche herum. Doch er konnte spüren, daß sie hart und fest war, und er fragte sich, wie durch eine scheinbar so unbewegliche Masse Luft aufgenommen werden konnte. Der kleinere Lungenflügel dagegen war weich und nachgiebig und ähnelte trotz der grauen Farbe in Form und Beschaffenheit einer getrockneten Aprikose.
Er schnitt den größeren Lungenflügel auf und mußte dabei an das Tranchieren von Fleisch denken; als er in den kleineren schnitt, war dessen Beschaffenheit ganz anders, nämlich nicht trocken und fest, sondern noch immer feucht und etwas weich. Das begriff er überhaupt nicht; er hatte immer angenommen, daß beide Lungenflügel gleich sein müßten, da die Brust sich beim Atmen gleichmäßig hob. Trotz des grauenhaften Anblicks lächelte Alejandro hinter seiner Maske, und seine Augen funkelten vor Erregung. Dies war einer der seltenen Anlässe, bei denen er wirklich glücklich war, denn er wußte, er hatte entdeckt, woran Carlos Alderon gestorben war.
Die innere Oberfläche des kleineren Lungenflügels war dunkel und wirkte beinahe rußig, übereinstimmend mit der populären medizinischen Theorie, vergiftete Luft könne für die Entstehung eines gewissen Ungleichgewichts verantwortlich sein; er fragte sich, welches dunkle Gift in Carlos Alderons Lunge eingedrungen war und sie veranlaßt hatte, sich zu verteidigen, indem sie einen großen Schutzschild anlegte. Es erschien ihm unsinnig, daß der Körper daran sterben konnte, daß er seine eigenen Lungen verteidigte, aber da in seinen Händen lag unbestreitbar der harte Panzer.
Verwirrt drückte er die Lungen beiseite, um das dunkelbraune Herz freizulegen, das sich noch immer fest anfühlte und mit Flecken von weißem Fett bedeckt war, die sich leicht abziehen ließen, nicht unähnlich dem Talg, den Bauern ihren Hühnern unter das Futter mischten, um sie zu mästen. Dieses Herz war denen sehr ähnlich, die er im offenen
Brustkorb lebender Tiere gesehen hatte. Señor Al- deron hatte ein friedliches Leben geführt, und Alejandro nahm daher an, daß sein Herz nicht krank war, denn sonst hätte er logischerweise zu Lebzeiten gewisse Anzeichen eines unguten Temperaments aufweisen müssen. Obwohl sie sehr verschieden waren und die Behandlung unter Schwierigkeiten und heimlich vor sich ging, hatte Carlos nie ein unfreundliches Wort zu ihm gesprochen. Alejandro bedauerte seine mangelnde Erfahrung mit menschlichen Herzen, fand aber dennoch, daß dieses ziemlich groß aussah, was der angenehmen Wesensart seines Besitzers entsprach.
Er wischte seine besudelten Hände an einem Tuch ab und spülte sie dann mit Wasser. Nachdem er sie sorgfältig abgetrocknet hatte, setzte Alejandro sich an einen nahen Tisch und nahm seine Schreibutensilien heraus, einen feinen Federkiel und eine kleine Flasche schwärzlicher Tinte sowie ein ledergebundenes Buch mit Pergamentseiten, sein »Weisheitsbuch«, wie er es bei sich inzwischen nannte. Es war ein Geschenk, das er mit auf die Medizinschule in Montpellier genommen hatte, eine letzte Gabe seines Vaters, bevor er seinen einzigen Sohn zu den Christen geschickt hatte, damit er dort eine Ausbildung erhielt, die der Vater im Grunde nicht wollte. Alejandro hatte sich immer geschworen, seine Familie würde einmal stolz auf ihn sein, trotz ihrer Einwände dagegen, daß er in die christliche Welt eintrat; er war entschlossen, ihnen zu zeigen, daß seine Anstrengungen der Mühe wert waren. Jetzt enthielt das Buch viele sorgfältige Zeichnungen und Seiten voller präziser Notizen, die er bei seiner Arbeit ständig zu Rate zog. Er schlug eine neue Seite auf und trug gewissenhaft Worte und Skizzen ein, damit er sich später, wenn dieses Wissen ihm bei der Behandlung eines anderen Patienten zugute kommen könnte, noch daran erinnerte.
Seine tiefe Konzentration wurde dadurch gestört, daß der Junge ihm beharrlich auf die Schulter klopfte und daran erinnerte, daß sie sich beeilen mußten. Er beendete seine Eintragungen und räumte das Buch fort; dann machte er sich an die gräßliche Arbeit, beide Lungenflügel wieder in ihre ursprüngliche Position zu bringen, während der Junge die Gliedmaßen so ordnete, daß die Reste der zerschnittenen Leichentücher wieder darumgelegt werden konnten.
Er trat ans Fenster und spähte durch eine Ritze, um festzustellen, wie spät es war. »Die Sonne wird bald untergehen«, sagte er zu dem Jungen, »wir können den Leichnam heute nacht wieder begraben.« Er war ungeheuer erleichtert, daß diese selbstauferlegte Mühsal bald zu Ende sein würde. »Nicht mehr lange, dann können wir die Läden öffnen und diesen üblen Geruch in die Dunkelheit entweichen lassen«, fügte er hinzu. Der Junge sagte nichts, nickte aber zustimmend.
Sie legten wieder die Reisekleidung an, die sie in der vergangenen Nacht getragen hatten, obwohl diese unbeschreiblich schmutzig war. Das, was sie bei der Untersuchung des Leichnams angehabt hatten, stank nach Tod und Verfall; diese Gerüche ließen sich auch mit der stärksten Seife nicht entfernen. Sie warfen die Sachen in eine Ecke des Stalls, um sie später zu verbrennen, denn es würde neugierige Aufmerksamkeit erregen, wenn sie es in einer so heißen Nacht taten.
Durch den Gang trugen sie den wieder verhüllten Leichnam in den Stall und legten ihn hinten auf den Karren. Nachdem sie ihn sorgfältig mit dem Heu bedeckt hatten, öffnete Alejandro die Stalltür und führte das Maultier vor den Karren, um es anzuschirren. Dabei stellte er fest, daß dessen stürmisches Temperament im Laufe des vergangenen Tages nicht fügsamer geworden war, denn es wollte nicht mithelfen. Dieses Vieh hat gewiß kein übergroßes Herz, dachte der Doktor angewidert, denn seine Veranlagung ist kleinlich und gemein. Nach einigem Streicheln und guten Worten war der Maulesel schließlich besänftigt; rasch legte Alejandro ihm die Ledergurte um den Bauch, solange er Gelegenheit dazu hatte.
Nach der stundenlangen Arbeit pochte die Hand des Jungen wieder, und er begann sich weinerlich zu beklagen, der Schmerz sei unerträglich.
Trotz seiner Ungeduld, endlich aufzubrechen, schickte Alejandro ihn in den Operationsraum zurück und ließ ihn eine Flasche Wein holen. »Wenn du schon betäubt werden mußt«, sagte er, »soll es wenigstens ohne Schmerzen geschehen.« Während er auf den Jungen wartete, führte er das Maultier aus dem Stall und auf den Pfad in Richtung Straße.
Die kühlere Abendluft war eine Wohltat für seine brennenden Lungen; er fühlte sich, als stünde seine Brust in Flammen nach dem Gestank bei der Sektion und der heißen Luft, die er während des langen Tages hatte einatmen müssen. Tief und geräuschvoll atmete er die süße Nachtluft ein und überhörte dabei eine Bewegung in der Nähe.
»Jude.«
Alessandro erstarrte vor Schreck beim Klang der jungen Frauenstimme. Wie hatte er übersehen können, daß da jemand war?
Wieder sagte sie: »Jude!« Diesmal lauter und kräftiger. Ohne hinzusehen wußte er, daß die Stimme dem Mädchen gehörte, das ihn am Brunnen so vorwitzig angesehen hatte. Sicher würde sie es nicht riskieren, mit mir ertappt zu werden, vor allem bei Dunkelheit! dachte er. Wortlos sah er sich nach ihr um, und ihre Blicke begegneten sich.
»Reagieren Männer Eurer Art immer so ungnädig, wenn sie von einer Dame angesprochen werden?«
Alejandro antwortete leise und absichtlich unfreundlich. Er wollte nicht, daß dieses Mädchen seine Absichten mißverstand. »Werte Dame«, sagte er und gestand ihr damit eine respektvolle Anrede zu, die sie gewiß nicht verdiente, »Männer meiner >Art< gestatten sich die Gesellschaft einer jungen Frau nicht, wenn dies aufgrund ihrer verschiedenen Stellungen im Leben nicht ratsam ist.« Er hoffte, sie würde annehmen, er räume ihr eine höhere Stellung ein, weil sie Christin war; er wollte nicht erklären, was er wirklich meinte.
Sie lachte, warf ihr langes, dunkles Haar auf eine Art zurück, die ihn erregen sollte, und sagte: »Ich halte es nicht für eine Sünde, die Gesellschaft eines gutaussehenden Mannes zu genießen, selbst wenn er unerklärlicherweise als Bettler verkleidet ist. Als ich Euch heute morgen am Brunnen sah, dachte ich, Ihr wolltet allen Damen gefallen. Ich gestehe, daß Euer Aussehen mir gefiel. Doch das ist eine andere Geschichte! Sagt mir, bezahlen Eure Patienten Euch nicht, oder reist Ihr heute abend zu einer Maskerade?«
Alejandro erfand rasch eine Geschichte, mit der er ihre Neugier zu beschwichtigen hoffte. »Ich bin zu einem entfernten Ort unterwegs, um gewisse medizinische Kräuter zu sammeln, die nur nachts blühen; das Gelände ist unwegsam, und ich würde meine normalen Kleider sicherlich ruinieren.«
Mit einem verführerischen Lächeln trat sie nahe genug an ihn heran, um seinen groben Umhang zu berühren, als wolle sie die Qualität des Tuchs prüfen. »Und an diesem Kleidungsstück ist sicher nichts mehr zu ruinieren«, sagte sie. Er fuhr zusammen und versteifte sich sichtlich, und sie lachte spöttisch über sein Unbehagen. Sie fuhr fort, seinen Umhang zu berühren, strich mit den Fingern langsam am vorderen Rand entlang, bis ihre Hände sich seiner Brust näherten, wobei sie seinen Blick nicht losließ und auf ein Zeichen zum Weitermachen wartete. Er blieb ausdruckslos, noch immer starr vor Angst; er verfluchte sich, weil er so achtlos gewesen war.
Er wußte, wenn der Lehrling zurückkam, würde sie so beschämt sein, daß sie fortlief. Gewiß wird sie keinem Zeugen gestatten, sie hier mit mir zu sehen, dachte er. Wo bleibt dieser gottverdammte Junge?
Sie runzelte ein wenig die Stirn, da sie erkannte, daß er ihrem Entgegenkommen widerstand. Entschlossen griff sie nach seiner Brust und zog ihn näher zu sich heran.
»Señorita«, sagte er nervös, »das kann weder Euch noch mir Gutes bringen. Verbieten uns nicht unsere Götter, auf diese Weise zusammenzusein?«
Sie lachte und erwiderte: »Mein Gott verbietet mir sogar, mit einem Mann meines eigenen Glaubens zusammenzusein, es sei denn, mein Vater hat ihn ausgewählt und ich bin rechtmäßig mit ihm verheiratet. Ich würde vor der ganzen Stadt in Schmach geraten, wenn ich mich einem Christen so nähern würde. Aber ich weiß, Ihr werdet keiner lebenden Seele erzählen, wenn ich Euch gegenüber unkeusch bin. Mein Vater würde Euren Tod fordern, und der Gouverneur würde ihn ihm sicherlich gewähren.«
»Señorita ...«
Sie lachte wieder. »Außerdem sagt man mir, daß Juden in Ihrer Männlichkeit anders sind als Christen. Ich werde nicht zugeben, viel darüber zu wissen, wie ein christlicher Mann ist, aber ich gebe zu, daß ich neugierig bin .«
Sie fuhr mit ihrer Verführung fort, und er spürte, wie seine Männlichkeit sich gegen seinen Willen erhob. Was ist das für ein illoyales Verhalten? fragte er im stillen seine sich regenden Lenden. Ihr erhebt euch für diese Dirne?
Wieder sagte er: »Señorita, ich bitte Euch ... tut das nicht .« Aber sie nahm ihre Hand nicht fort. Als sie lachte und ihre Hand in die Öffnung zwischen seinem Leib und seinen Beinkleidern schob, packte er ihr Handgelenk und stieß es weg. In seiner Angst griff er fest zu und tat ihr weh. Sie schrie laut auf und faßte schockiert nach ihrem schmerzenden Handgelenk.
Das launische Maultier war nervös vor und zurück getreten, soweit es das konnte. Von dem Mädchen in Anspruch genommen, hatte Alejandro das schwierige Tier kaum beachtet, obwohl er merkte, daß es gereizt war. Beim Schrei des Mädchens stieg das Maultier hoch, entschlossen, sich von den hinderlichen Ledergurten zu befreien. Der Karren, vor den es gespannt war, kippte zur Seite, und entsetzt sah Alejandro, wie das Heu aus dem Karren glitt, gefolgt von der lose eingehüllten Leiche Carlos Alderons, die zu Füßen des Mädchens landete, das Gesicht von den Leichentüchern entblößt. Der zusammengeschrumpfte Schmied lag da und starrte zu dem jungen Mädchen hinauf, als könne er dessen Unverschämtheit nicht fassen.
Ihre Schreie waren im ganzen Dorf zu hören, und rasch ertönten überall alarmierte Stimmen. Der Lehrling, der inzwischen seinen Schmerz ausreichend betäubt hatte, kam aus dem Stall gelaufen und sah gerade noch, wie das Mädchen mit fliegenden Röcken und unter entsetztem Kreischen zum Dorfplatz rannte.
Alejandro wußte instinktiv, daß sie nicht entkommen konnten; das Mädchen würde zum Schutzmann laufen, und man würde den Priester rufen, damit er sich um die entweihten Überreste Alderons kümmerte.
Der Lehrling sah ihn flehend an; er wußte nicht, was er tun sollte. Niemand hatte ihn bei ihrem Abenteuer mit Alderon gesehen; Alejandro scheuchte ihn eilig fort, und er nahm die Beine in die Hand, erleichtert, der Qual eines Prozesses und der möglichen Hinrichtung mit knapper Not zu entrinnen.
Alejandro fiel auf die Knie, unsäglich müde; er wußte, daß sein Leben für immer verändert war, und er betete zu Gott um Kraft für die schrecklichen Tage und Nächte, die ihm bevorstanden. Als er Leute herbeilaufen hörte, bedeckte er das Gesicht mit den Händen und weinte bittere Tränen.