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Wieso sind ihre Tempel so prächtig, wenn ihr Prophet Jesus ein armer Zimmermann war? Alejandro war erstaunt über die reichen Teppiche und Tapisserien, die er überall im Papstpalast erblickte; die kostbaren Gemälde waren von einer Feinheit, wie er sie noch nie gesehen hatte. Die üppigen Gestalten kaum bekleideter Göttinnen wirkten seltsam erregend auf ihn; nie zuvor hatte er so erotische Darstellungen des weiblichen Körpers gesehen, schon gar nicht in seinen medizinischen Lehrbüchern, wo die zweidimensionalen Abbildungen nichts von der lebensechten Anziehungskraft der Frauen an diesen Wänden besaßen. Dieser Palast ist ihnen heilig, dachte er verwirrt, denn er hatte ihn sich tempelähnlicher, spiritueller vorgestellt. Statt dessen wirkte er geradezu verschwörerisch weltlich. Sollte er Ehrfurcht vor diesen Christen empfinden, deren Art er, wie er sich eingestand, nicht begriff, oder sollte er sie dafür verachten, daß sie sich in ihrem Glauben so weit von jeder Schlichtheit entfernt hatten?

Mit der Zeit werde ich es wissen, dachte er bei sich. In der Hand hielt er die Schriftrolle mit der Anordnung, sich hier einzufinden, und er schaute sich nach jemandem um, der vielleicht wußte, was er jetzt zu tun hatte; endlich wandte er sich an einen Gardisten in verzierter Rüstung, der an einer Wand stand.

»Entschuldigt mich«, sagte er zu dem Mann. Er zeigte ihm die Rolle. »Ich sollte mich hier melden. Wohin soll ich gehen?«

Der Wächter schaute auf die Rolle und zeigte nach rechts. »Dort drüben, durch diese Tür«, sagte der bärtige Mann, ein mürrischer Grobian, der, wie Alejandro bei sich entschied, unter seinem kräftigen Panzer entschieden kein Priester war. Vor der nächsten Flügeltür, die aus dickem Holz wunderbar geschnitzt und größer war, als er je eine Tür gesehen hatte, stand ein weiterer Wächter. So viele Wachleute, dachte er und fragte sich: Wozu braucht dieser arme Zimmermann eine Armee? Wieder zeigte er die Schriftrolle vor, und der neue Wachmann öffnete die schweren Türflügel und wies Alejandro in einen großen Raum, eine Art höfisches Vorzimmer, dachte er, wo schon viele andere, genauso verwirrt aussehende Männer warteten.

Er trat in die Mitte des Raumes, überwältigt von seiner Umgebung, und gesellte sich zu einer Gruppe anderer Männer, die ebenso ehrfürchtig wirkten und auf die Pracht ringsum starrten. Als am ande- ren Ende des Raumes ein Geräusch ertönte, drehten sich alle gleichzeitig um. Große hölzerne Flügeltüren schwangen auf, und zwei weitere Wächter in Rüstungen traten ein. Jeder trug einen Zeremonienstab, und zwischen ihnen schritt ein großgewachsener Mann, der sich bewegte wie ein König. Aufgeregtes Flüstern ging durch die Gruppen der Wartenden.

Der Herr, der soeben eingetreten war, war in ein üppiges, langes Gewand in Rot gekleidet, dessen Kragen und Ärmel mit weißem Hermelin besetzt waren; die Schnalle seines Gürtels war aus Gold, besetzt mit bunten Juwelen und schimmernden Perlen. Majestätisch schritt er in die Mitte des Raumes und wartete, bis alle Anwesenden ihm ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten. Aus seinem ungeduldigen Gesichtsausdruck schloß Alejandro, daß der Mann, der die widerspenstige Menge mit offener Mißbilligung musterte, daran gewöhnt war, beachtet zu werden, und zwar sogleich. Seine intelligenten, scharf blickenden Augen, die über einer langen, spitzen Nase dicht beieinander lagen, wan- derten von Mann zu Mann; sie verweilten einen Augenblick bei Alejandro, und die beiden Ärzte starrten sich sekundenlang an. Mit der Andeutung eines Lächelns wandte der Mann in dem roten Gewand sich dann wieder ab, nickte einem der Stabträger zu, und dieser stieß seinen Stab laut auf den Boden; die überraschten Wartenden stellten augenblicklich ihr Geflüster ein. Der große Mann räusperte sich und begann zu sprechen.

»Sind irgendwelche Juden unter Euch? Wenn ja, sollen sie vortreten.«

Angst ergriff Alejandro. Haben die spanischen Soldaten Avignon ereicht? Werde ich jetzt entdeckt? Ängstlich sah er sich um, was die anderen Männer im Raum taten. Warum ruft dieser Mann nur die anwesenden Juden auf? Er hatte kein Wort darüber gehört, daß das päpstliche Edikt, welches die Juden schützte, widerrufen worden wäre. Er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, während er in dem Raum voller Fremder stand, mußte sich aber Mühe geben, sein Zittern zu verbergen; er wußte, wenn man ihn eingehender nach seiner Herkunft fragen würde, würde er mit Sicherheit die Fassung verlieren und sich verraten.

Erschrocken beobachtete er, wie die Juden einer nach dem anderen vortraten; einige hatten gelbe Kreise auf die Ärmel ihrer Kleidung genäht; sie hatten keine Wahl. Sie sammelten sich in einer Gruppe und erwarteten nervös ihr unbekanntes Schicksal. Alejandro bemerkte die Furcht in ihren Augen, aber auch den stolzen Trotz; er schämte sich seiner eigenen Feigheit.

Der große Mann in Rot betrachtete die Gruppe verächtlich. »Ihr seid entlassen«, sagte er.

Die Juden sahen einander ungläubig an, und auf ihren zuvor ängstlichen Gesichtern zeichnete sich Erleichterung ab. Rasch wandten sich alle zur Tür und eilten hinaus, verblüfft über ihr Glück.

Es war zu spät, sich ihnen anzuschließen. Zerknirscht sah Alejandro zu, wie sie aus dem Raum verschwanden. Der große Mann gab den übrigen Anwesenden ein Zeichen, sich zu setzen, und sie schauten sich nach einem angemessenen Platz um. Zu Alejandros Überraschung wurden sie zu einer Reihe luxuriös gepolsterter Stühle gewiesen, die er zuvor schon bewundert hatte.

Nachdem alle Platz genommen hatten, setzte sich der Mann in Rot auf einen prachtvoll vergoldeten Stuhl, der auf einem erhöhten Podest stand. »Gelehrte Ärzte und Kollegen«, begann er, »ich bin Guy de Chauliac, und es ist mir eine große Ehre, Leibarzt seiner Heiligkeit Clemens VI. zu sein. Heute handle ich im Auftrag seiner Heiligkeit, der Eure Dienste in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit für die Heilige Kirche und das Königreich Frankreich verlangt.

Wie Ihr alle zweifellos wißt, werden wir von einer schrecklichen, verheerenden Seuche heimgesucht; man berichtet, daß inzwischen ganz Europa von dieser Geißel ergriffen ist und jeden Tag Tausende umkommen. Die Nachrichten aus anderen Ländern sind ebenso düster wie die, die wir zu versenden hätten. Unser geliebter Bruder, Edward III. von England, hat uns von der Ankunft der Pest an seinen Ufern geschrieben, und wir betrauern deshalb das Hinscheiden des Erzbischofs von Canterbury.

König Edward selbst hat den Tod seiner Tochter Joanna zu beklagen, die zur Vermählung mit dem Königshaus von Kastilien unterwegs war, als sie grausam von der Pestilenz dahingerafft wurde.«

Die junge Edelfrau auf ihrer Brautreise nach Kastilien! Alejandro erinnerte sich an die cantina, wo er auf seiner Reise nach Avignon zum ersten Mal von der Geschichte erfahren hatte.

»Seine Heiligkeit hegt große Achtung und Zuneigung zum englischen Königshaus und erkennt dessen Bedeutung für die Aufrechterhaltung der politischen Stabilität in Europa an. Trotz des Grolls, der augenblicklich zwischen unseren beiden Ländern herrscht, wünscht seine Heiligkeit die edlen Führer Frankreichs und Englands zu ermutigen, ihre Differenzen beizulegen und die Allianzen weiter zu fördern, die für die Wiederkehr von Frieden und Wohlstand so wesentlich sind. England muß sich unbedingt mit den anderen Adelshäusern Europas verbünden. Wenn die Königshäuser dezimiert würden, würde dies schwerwiegende Folgen für die Ordnung unserer Welt haben, und das wäre den Interessen der Kirche nicht dienlich.«

Alejandro sah sich unter den Umsitzenden um; alle folgten mit gespannter Aufmerksamkeit den Ausführungen de Chauliacs, der seine dramatische Rede fortsetzte.

»Während dieser grauenhaften Seuche wache ich persönlich über die Gesundheit und das Wohlbefinden Seiner Heiligkeit; meine Methoden sind unorthodox, und meinem Herrn gefällt seine Gefangenschaft zwar nicht, aber gegen die Ergebnisse ist wohl kaum etwas einzuwenden.

Unser geliebter Papst hat angeordnet, daß wir uns aktiv am Schutz der Königsfamilien Europas beteiligen. Er hat Euch in Anerkennung Eurer medizinischen Leistungen und Eurer großen Gelehrsamkeit heute hierher gerufen, damit Ihr an einem Heiligen Krieg gegen die Pestilenz teilnehmt. Ihr alle werdet nun unter meiner persönlichen Aufsicht in den Methoden unterwiesen, mit denen die Gesundheit unseres Heiligen Vaters beschützt wird, danach werdet Ihr alle als Botschafter an die Königshöfe Europas und Englands gesandt. Eure Aufgabe wird sein, über die Gesundheit dieser Familien zu wachen, um sie vor der Krankheit zu bewahren. Wir werden nicht zulassen, daß die Seuche Bündnisse zerstört, die viele Jahre lang Bestand hatten, und wir werden auch nicht zulassen, daß sie für die Zukunft geplante Bündnisse verhindert.«

Es war eine meisterhafte Vorstellung, und Ale- jandro war davon ebenso ergriffen wie alle anderen Männer im Raum.

»Wenn ich Euch entlasse, werdet Ihr sofort in Eure chirurgischen Praxen zurückkehren, um Eure Gerätschaften zu holen, denn Ihr werdet abreisen, sobald Eure Unterweisung beendet ist. Wenn irgend jemand von den Anwesenden eine Familie zu erhalten hat, so wird Seine Heiligkeit in Eurer Abwesenheit für ihre Bedürfnisse sorgen. Ich werde jetzt Eure Namen feststellen, und unser Schreiber wird sie dem Heiligen Vater bringen.«

Alejandro Canches war sich darüber klar, daß sein wirklicher Name ihn womöglich sofort als Mörder des Bischofs Johann von Aragon verraten würde. Er hatte keine andere Wahl, als ihn aufzugeben. Traurig dachte er, daß er ihn vermissen würde; er hatte ihm, solange er lebte, gute Dienste geleistet, und er war stolz, als Avram Chances’ Sohn bekannt zu sein.

Als er an die Reihe kam, sah er de Chauliac ins Gesicht, konzentrierte den Blick auf die durchdringenden blauen Augen des Mannes und sagte ruhig: »Hernandez. Ich bin Alejandro Hernandez.«

»Spanier?« fragte de Chauliac.

»Oui, Monsieur, ich bin Spanier.«

Alejandro und seine erstaunten Kollegen wurden während der drei Tage ihrer intensiven Ausbildung unter de Chauliacs wachsamem Auge prachtvoll im Papstpalast beherbergt. Jeder hatte seinen eigenen Raum mit einer privaten Toilette. Sie wurden gut ernährt und in jeder Weise verwöhnt, denn der Papst wollte ihre totale Loyalität gewinnen. De Chauliac hielt die Männer ganz unter seinem Einfluß und seiner Vormundschaft und unterrichtete sie in allen Einzelheiten über seine Maßnahmen, den Papst vor Ansteckung zu schützen; dabei beobachtete er genau, ob sie die angeborenen Qualitäten besaßen, die nötig waren, um die Aufgabe zu erfüllen, für die sie ausgebildet wurden, denn diese Qualitäten konnte man nicht erlernen.

Jeden Tag besuchten die angehenden medizinischen Gesandten Vorlesungen in einem der prächtigen Säle des Papstpalastes.

De Chauliac pflegte auf einem Podium zu stehen und stundenlang mit professoraler Stimme Vorträge zu halten. Alejandro staunte, daß er nie müde zu werden schien. Er liebt seine Arbeit genauso wie ich, dachte der Schüler über den Lehrer.

»Ihr müßt Euch mit Astrologen beraten«, sagte er am ersten Tag der Unterweisung, »um die günstigsten Tage für Bäder, Ausgänge und die sonstigen normalen Verrichtungen des Alltagslebens zu erfahren. Normale Aktivitäten, denen Eure Patienten früher ganz beiläufig nachgingen, müssen jetzt mit Argwohn betrachtet werden, denn wir wissen einfach nicht, welche Aktivitäten das Potential haben, das Individuum mit der Seuche in Berührung zu bringen. Ihr werdet feststellen, daß Eure königlichen Patienten, die daran gewöhnt sind, jede ihrer Launen zu befriedigen, sich Euren Anweisungen, wann und wo sie gewisse Dinge tun dürfen, widersetzen werden. Bleibt unbeugsam und laßt keine Herausforderung Eurer Autorität zu.«

Alejandro versuchte sich vorzustellen, wie er einem König sagte, was er zu tun hatte und wann, konnte dieses unwahrscheinliche Bild aber nicht heraufbeschwören. »Und wenn sie sich trotzdem weigern?« fragte er.

»Bittet sie, sich daran zu erinnern, daß Ihr die Macht des Allmächtigen Gottes besitzt, die Euch durch Seine Heiligkeit verliehen wurde, und daß Ihr, falls nötig, davon Gebrauch machen werdet, um ihre Gesundheit zu schützen.«

An diesem Abend fühlte Alejandro sich sehr klein und verwirrt, als er zu Bett ging. Das Schwierigste an dieser Aufgabe, dachte er, wird sein, die arroganten Patienten zum Gehorsam zu bewegen.

Am zweiten Tag erläuterte de Chauliac seine Theorien über die Ansteckung. »Es ist meine feste Überzeugung, die auf Beobachtung begründet ist, daß es in der Luft unsichtbare Säfte und Dämpfe gibt, und daß diese Ausdünstungen die Seuche verbreiten. Das lebende Opfer gibt diese Säfte an die Luft ab, wenn es atmet, und gibt so die Krankheit weiter, ohne daß das nächste Opfer ihr entkommen kann. Deshalb müssen die Patienten isoliert werden. Setzt sie in ihren Schlössern fest; laßt keine Händler oder Reisenden ein, die Ihr nicht untersucht habt. Und da man diese Dämpfe und Dünste nicht immer sehen kann, wenn sie sich bilden, ist es die klügste Vorgehensweise, überhaupt keinen Verkehr mit der Außenwelt zuzulassen. Mein geschätzter Vorgänger, Henri de Mandville, war sehr von seinen Ansichten über die Ansteckung überzeugt; er brachte meinen Lehrern bei, sich vor und nach dem Berühren eines Patienten die Hände zu waschen, da er fest daran glaubte, daß diese Dämpfe auch durch die Hände weitergegeben werden können. In der Bibliothek Seiner Heiligkeit befinden sich Abschriften von de Mand- villes diesbezüglichen Lehrbüchern, und wer möchte, kann sie lesen.«

Aber das ist ja auch meine Theorie! dachte Alejandro erregt, als er erfuhr, daß andere Ärzte seine Überzeugung von der Bedeutung der Reinlichkeit teilten. Wieder meldete er sich ungebeten zu Wort.

»Ich habe außerdem die Erfahrung gemacht, daß eine mit Wein ausgewaschene Wunde schneller heilt. Irgendein Bestandteil des Weins scheint die Sepsis zu attackieren.«

»Vielleicht wird sie betrunken und findet ihren

Weg zur Wunde nicht mehr«, warf ein Mann ein und erregte damit allgemeines Gelächter.

Alejandro errötete, doch de Chauliac hob die Hand. Die Gruppe verstummte sofort. »Man soll nie über die Beobachtungen eines Kollegen lachen«, sagte er. »Auch die Weisesten von uns vermögen diese Pest nicht zu heilen. In unserer Unwissenheit sind wir alle gleich.« Er sah Alejandro direkt an. »Wir werden später unter vier Augen darüber sprechen.«

Alle Köpfe wandten sich dem jungen Juden zu, der seinem Lehrer nur zunickte und dann die Augen senkte. »Deshalb«, fuhr de Chauliac fort, »müßt Ihr den Hofastrologen, obwohl sie dieser Forderung nicht leicht nachkommen werden, einschärfen, Euren Patienten zu sagen, daß jeder Tag günstig für Bäder ist ...«

An diesem Abend wurde Alejandro von einem Gardisten des Papstes abgeholt und in de Chauliacs Privatgemach geführt. Er erstieg hinter dem Gardisten, den sein Panzer und seine Waffen sichtlich behinderten, mehrere Treppen.

Zögernd betrat er den Vorraum. De Chauliac winkte ihn hinein.

»Kommt, kommt«, sagte er, »und setzt Euch.« Er wies auf eine weich gepolsterte chaise longue und sagte: »Macht es Euch bequem.«

Schüchtern nahm Alejandro auf der dicken Polsterung Platz. Der Pädagoge und Lehrmeister war verschwunden, und an seine Stelle war ein liebenswürdiger und angenehmer Gastgeber getreten. Die Verwandlung erschien ihm verblüffend. »Unter vier Augen seid Ihr ein anderer Mensch, Doktor de Chauliac«, sagte er vorsichtig.

De Chauliac bot ihm ein Glas Wein aus einem schweren Silberpokal an, das sein Gast akzeptierte. »Und wieso findet Ihr mich verändert?« fragte er, eine Augenbraue neugierig hochgezogen.

Nach einem herzhaften Schluck Wein sagte Alejandro: »Ihr seid ein strenger Lehrmeister, und Eure Gegenwart ist ziemlich .« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Gebieterisch.«

De Chauliac lachte zynisch. »Man muß den Eindruck erwecken, alles zu beherrschen, wenn man Narren unterrichtet«, sagte er, »sonst lernen sie nichts, und man vergeudet seine Anstrengungen. Ich hasse es, kostbares Wissen an Leute weiterzugeben, die seinen Wert nicht begreifen.«

Alejandros Miene verriet, daß er verletzt war. »Herr, ich ...«, begann er protestierend.

»Euch habe ich nicht gemeint«, sagte de Chauliac rasch, »denn Ihr würdet heute abend nicht hier sein, wenn ich eine solche Meinung von Euch hätte. Ich spreche von den anderen Ärzten. Eine Bande von Tölpeln, denke ich. Anscheinend hat die Seuche unsere besten Ärzte dahingerafft und nur Idioten zu- rückgelassen.« Er erhob sich von seinem Stuhl und setzte sich auf einen anderen, der näher bei Alejandro stand. Er beugte sich vor und wirkte sehr erregt. »Aber in Euren Augen sehe ich Feuer und eine Liebe zum Lernen, und das erfreut mein Herz.«

»Ihr erweist mir zuviel Ehre, Herr.«

De Chauliac musterte ihn eingehend. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Ich habe beobachtet, wie Ihr meine Vorträge anhört, und Ihr könnt Eure Intelligenz nicht verbergen. Ich habe mich danach gesehnt, mit jemandem zu sprechen, der über die Sepsis dasselbe denkt wie ich. Ich bin froh, daß Ihr Euch heute zu Wort gemeldet habt. Jetzt müßt Ihr mir sagen, wie Ihr zu Eurer Überzeugung gekommen seid, daß Wein zur Heilung von Wunden beiträgt.«

Alejandro entspannte sich; er begriff, daß er nicht entdeckt worden war, sondern daß de Chau- liac ebenso wißbegierig war wie er selbst. »Ich habe viele Experimente mit verschiedenen Flüssigkeiten gemacht, um nach Operationen Wunden zu waschen«, begann er, »und es gibt viele, die keinerlei Wirkung haben. Manche scheinen die Heilung sogar zu verzögern. Aber Wein, selbst der schlechteste, ungenießbare Wein, beschleunigt den Heilungsprozeß immer. Das habe ich jedenfalls beobachtet. Zuerst habe ich es gesehen, als ich in Montpelllier war .«

»Ihr habt in Montpellier studiert?«

»Ja«, sagte Alejandro.

»Ich halte oft Vorlesungen in Montpellier. Wann wart Ihr dort? Vielleicht habt Ihr damals einen meiner Vorträge gehört.«

»Ich war dort ...«, begann Alejandro, hielt dann aber inne; er kannte die Jahreszahlen nur so, wie die Juden sie zählten. Er geriet in Panik; wie sollte er de Chauliac erklären, daß er das Jahr nicht wußte?

»Ich war, äh, vor sechs Jahren dort.«

»Also 1342.«

»Ja.« Seine Stirn wurde heiß und feucht.

»Ach, dann haben wir uns vielleicht verpaßt. Ich habe dieses Jahr in Paris verbracht und den König behandelt. Er leidet fürchterlich unter Gicht. Mich überrascht das nicht; trotz seiner unerklärlichen Schlankheit ernährt der Mann sich sündhaft üppig, sosehr ich ihn auch um Mäßigung bitte.« Mit Schwung hob er seinen Becher und trank einen Schluck Wein. »Seine Majestät wollte keinen anderen Arzt als mich, deswegen war ich gezwungen, meine Lehrtätigkeit für die Dauer seiner Krankheit aufzugeben. Ein Jammer, daß wir uns damals nicht getroffen haben; ich denke, ich hätte einen bemerkenswerten Studenten wie Euch im Gedächtnis behalten und mich über ihn gefreut.«

Zweifellos würde ich mich auch an Euch erinnern, dachte Alejandro. Aber mit Freude ...

»Nun, es spielt keine Rolle«, sagte de Chauliac. »Jetzt seid Ihr hier. Wie kommt ein Spanier nach Avignon?«

Nach einer kurzen Pause sagte Alejandro leise: »Ich bin auf Wunsch meiner Familie hier.« Nähere Erläuterungen gab er nicht.

Aber de Chauliac fragte nicht weiter nach seinem persönlichen Leben; ihm lag mehr daran, von anderen Dingen zu sprechen. »Ihr sagt also, Ihr seid zu diesem Schluß über den Wein gekommen, indem Ihr einfach wieder und wieder Versuche mit anderen Mitteln gemacht habt, bis Ihr deren Wirkung kanntet? Wie wunderbar originell! Wie oft warten wir, daß der Zufall uns etwas lehrt, und selbst dann lernen wir nur langsam .«

Nach und nach wich Alejandros Panik, und er gab sich ganz der Diskussion hin; für den Rest des Abends unterhielten sie sich bei Wein und köstlichen Früchten und tauschten sich über Ideen und Theorien zu Chirurgie, Krankheit und Behandlungsmethoden aus. Wie gleichwertige Kollegen sprachen sie bis spät in die Nacht und teilten einander ihre Hoffnung auf die Entdeckung von Heilmethoden mit. Als Alejandro das Gemach de Chauliacs verließ, hatte er sehr viel mehr Respekt vor seinem Lehrer als bei seiner Ankunft, und er war ganz sicher, daß mit diesem Mann nicht zu scherzen war.

Am dritten Tag bereitete de Chauliac seinen Schülern eine unerwartete Überraschung. Sie versammelten sich in einem großen, luftigen Raum im Erdgeschoß des Papstpalastes, einem angenehmen Saal mit vielen wunderbaren Gemälden. De Chau- liac stand hinter einem langen, mit einem schweren Tuch bedeckten Tisch und grinste breit. Als alle Studenten sich um den Tisch versammelt hatten, zog er das Tuch fort und enthüllte den Leichnam eines frisch verstorbenen Pestopfers, eines Mannes von vielleicht dreißig Jahren.

Ein Raunen der Überraschung ging durch die Menge der versammelten Schüler, denn es war offensichtlich, daß de Chauliac die Absicht hatte, den Leichnam vor ihren Augen zu sezieren. »Wie Ihr alle wissen müßt, verbietet Seine Heiligkeit die Sektion von Leichen«, sagte er.

Alejandro stand schweigend da und dachte bei sich: Wenn Ihr ahnen würdet, wie gut ich das weiß

»Weil aber«, fuhr de Chauliac fort, »die Notwendigkeit gebietet, daß Ihr lernt, und weil solche Studien des Körpers aus unmittelbarer Anschauung so großen Nutzen bringen, hat Seine Heiligkeit mir die Erlaubnis gegeben, diesen Leichnam zu sezieren. Seinen Segen allerdings nicht, möchte ich hinzufügen, wenn das Opfer auch Jude war und ohnehin keine Aussicht auf Erlösung hatte ...«

Alejandro schaffte es irgendwie, Haltung zu bewahren; seine Augen wanderten zu den Lenden des Toten, wo er den unbestreitbaren Beweis seiner Zugehörigkeit zum Judentum erblickte.

»Und nun«, sagte de Chauliac, »brauche ich Hilfe.« Er sah Alejandro an. »Doktor Hernandez, würdet Ihr mir vielleicht zur Hand gehen?«

Traurig betrachtete Alejandro den Leichnam des Juden; der Hals war dick geschwollen, Finger und Zehen schwarz von angesammeltem Blut; er fand es eigenartig, daß er, der einzig andere anwesende Jude, derjenige sein sollte, der ihn aufschnitt. Vielleicht ist das bloß eine Strafe für meine Sünden, dachte er betrübt. Vielleicht ist es auch einfach Gottes Wille, daß mir diese Aufgabe gestellt wird, denn wer würde behutsamer mit dem Leichnam eines Juden umgehen als ein anderer Jude?

Er trat näher an de Chauliac heran und nahm schweigend Hammer und Meißel zur Hand. »Gut«, sagte de Chauliac, »Ihr nehmt die Öffnung vor.«

Alejandro legte eine Hand auf die Brust des Toten, um den richtigen Ansatzpunkt für den Meißel zu finden. Der Leichnam war noch nicht ganz kalt; der Mann konnte noch nicht länger als ein paar Stunden tot sein. Gut, dachte er, dann wird der Gestank nicht so schlimm sein. Wie in Cervere bei Carlos Alderon setzte Alejandro sorgfältig den

Meißel an und schlug dann mit dem Hammer darauf. Er hörte die Rippen brechen und legte die Werkzeuge beiseite. Er ergriff das Messer und nahm die entsprechenden Schnitte vor.

»Wie geschickt Ihr seid, Doktor Hernandez«, sagte de Chauliac, während er Alejandros Arbeit beobachtete. »Man könnte fast meinen, Ihr hättet das schon öfter gemacht.«

Der scheinbar beiläufige Kommentar verblüffte Alejandro. Was kann er damit meinen? fragte er sich nervös. Er fürchtete sich, de Chauliacs Blick zu begegnen, weil er Angst davor hatte, was er darin sehen würde: Wiedererkennen aus Montpellier vielleicht; Wissen um seinen wirklichen Namen und die Umstände seiner Flucht; den spöttischen Ausdruck von jemandem, der einen Mann seine möglicherweise letzte Handlung in Freiheit vollbringen sieht. Während er den Brustkorb öffnete, schwieg Alejandro. Das Herz des toten Juden war sehr groß, und alle Anwesenden wußten, was das bedeutete: daß der Mann auf dem Tisch vor ihnen im Leben ein sehr guter und freundlicher Mensch gewesen war. Mit qualvoller Langsamkeit hob Alejandro den Kopf und starrte seinen Lehrer an.

Ohne jede Emotion nickte de Chauliac und sagte: »Fahrt fort.«

Die Schreiber des Papstes fertigten Abschriften von Rezepten für Amulette und Arzneien an, die an die Ärzte verteilt wurden, zusammen mit reichen Vorräten an den für ihre Tränke notwendigen Ingredienzien.

Alejandro schrieb das, was er erhielt, direkt in sein Buch, wobei er darauf achtete, daß es genau den Angaben entsprach, die die Schreiber notiert hatten. Während er die letzten Eintragungen vornahm, erschien unangemeldet de Chauliac bei ihm und ertappte ihn mit dem Buch in den Händen.

»Ich bin wieder einmal erstaunt über Euren Fleiß, Doktor Hernandez; so etwas ist bei Spaniern selten.«

Ach, wenn er die Wahrheit wüßte ... aber vielleicht kennt er sie ...

Alejandro klappte das Buch rasch zu, ehe de Chauliac lesen konnte, was er geschrieben hatte, und sagte: »Ich habe seit meiner Studentenzeit die Gewohnheit, alles niederzuschreiben, was ich gelernt habe. Sonst könnte ich die Weisheiten vergessen, deren Träger ich sein soll.«

De Chauliac glaubte keine Sekunde lang, daß Alejandro auch nur die geringste Einzelheit des Gelernten vergessen würde. Er kann seinen Eifer nicht verbergen; er ist schlau und gestattet sich kein Versagen.

»Vielleicht können wir eines Tages wieder miteinander speisen, und Ihr gewährt mir einen Blick in dieses Buch.«

»Wenn ich nach Avignon zurückkehre, vielleicht«, sagte Alejandro tonlos. Falls ich nach Avignon zurückkehre, dachte er.

Am Morgen der Abreise betrachtete Alejandro sich im Spiegel und dachte, wenn seine Mutter und sein Vater wunderbarerweise noch am Leben wären, würden sie ihn in den von de Chauliac gestellten Kleidern kaum wiedererkennen. Was werden sie tun, wenn sie hier ankommen und keine Spur von mir finden? fragte er sich. Er hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, ein anderes Schild an der Tür seiner chirurgischen Praxis anzubringen, die nun mit ihren Geräten und Werkzeugen und versprochenen Dienstleistungen bis zu seiner Rückkehr leerstehen würde. Würden sie glauben, daß ihm etwas zugestoßen war, daß er Avignon vielleicht gar nicht erreicht hatte? Werden sie glauben, ich hätte ihr Vertrauen mißbraucht? dachte er bitter.

Gott verdamme diese Pest und die arroganten Narren, die glauben, sie könnten sie nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Er betrachtete sein Spiegelbild genauer; er haßte die Veränderungen an seiner Person, sehnte sich nach den vertrauten fließenden Gewändern, die er in Cervere getragen hatte. In so kurzer Zeit hatte er sich so verändert! Er war glattrasiert und sein Haar nach der französischen Mode der Zeit gut kinnlang geschnitten. Er trug enge Beinkleider von weinroter Farbe, weiche Lederstiefel mit Stulpen in Wadenhöhe und darüber eine langärmlige Tunika aus einem Leinen im weichen Blaugrün des Mittelmeers; sie war bis hoch zum Hals zugeknöpft, wofür er dankbar war, denn so würde sie seine Narbe verbergen. Die Tunika reichte ihm bis zu den Oberschenkeln. Über all dem trug er einen luxuriösen Mantel mit weiten Ärmeln und breitem Revers. Er bestand aus Wolle, hatte die gleiche tiefrote Farbe wie seine Beinkleider und reichte ihm bis unter die Knie. Auf dem Kopf trug er eine achteckige Kappe aus dunkelgrüner Wolle, die schräg aufgesetzt wurde und mit einer bunten Feder geschmückt war, für seinen Geschmack ein wenig zu keck. Wenn der Spiegel ihn nicht täuschte, sah er aus wie der Inbegriff eines modernen französischen Edelmanns. Die sichtbarste Veränderung allerdings betraf sein Gesicht; er war nicht mehr der unschuldige, sorglose junge Mann, der er in Cervere gewesen war. Seine bernsteinfarbenen Augen hatten jetzt einen harten Blick und eine traurige Weisheit, die er nicht verbergen konnte, nicht einmal vor sich selbst.

Die Truhe, die de Chauliac ihm gegeben hatte, enthielt drei weitere vollständige Anzüge im gleichen Stil. Genug für den Rest meines Lebens, dachte er, falls ich nicht dick werde.

Außerdem enthielt seine Truhe noch die Kleider, die er auf seiner Reise erstanden hatte. Diese einfachen Sachen waren noch gut zu gebrauchen, und er hielt es für wahrscheinlich, daß er sie bald wieder nötig haben würde. Reiten würde er allerdings mit seiner eigenen Satteltasche, ob de Chauliac das nun gefiel oder nicht, denn darin bewahrte er sein Vermögen und sein Buch auf, von denen er sich nicht trennen wollte.

Zumindest in diesem Punkt werde ich mich nicht ändern, dachte er und verließ sein Privatgemach, um sich den anderen anzuschließen.

Die Männer, die sich wieder in dem großen Saal versammelt hatten, unterhielten sich lautstark über ihr verändertes Aussehen, als er eintrat. Wie anders sieht es hier jetzt aus als vor ein paar Tagen, dachte Alejandro bei sich. Heute machen diese Männer den Eindruck, als gehörten sie in diesen Raum; sie sind so gut angezogen und ausgestattet wie die reichsten Edelleute.

De Chauliac hatte einen weiteren großen Auftritt; er baute sich vor seinen frisch ausstaffierten Schützlingen auf und ergriff das Wort.

»Messieurs, Ihr alle seid eine Zierde Eures Berufes; ich bin entzückt über Euren Fleiß und Lerneifer. Jeder von Euch ist in seinem Gewerbe geschickter geworden, und wir vertrauen darauf, daß Ihr Euer Können auch erweisen werdet, wenn Ihr in den Adelshäusern Europas Seine Heiligkeit repräsentiert. Seid gewissenhaft in der Anwendung Eurer Fähigkeiten und dient Eurem Gott gut. Ihr seid mit dem Schutz unserer Interessen betraut, und wir werden unablässig für Euren Erfolg beten.«

Dann nahm de Chauliac jeden Mann einzeln beiseite und gab ihm individuelle Anweisungen, die sein Reiseziel betrafen. Er ermutigte alle und versicherte sie des persönlichen Segens Seiner Heiligkeit. Einer nach dem anderen verließen die Ärzte den Saal, um ihre Reise in fremde Länder anzutreten.

Alejandro mußte warten bis zuletzt; alle anderen waren schon fort, und er blieb mit de Chauliac allein im Raum.

»Doktor Hernandez«, sagte de Chauliac, »wie großartig Ihr ausseht! Genauso sollte ein Arzt aussehen, wohlhabend und edel. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß die richtige Kleidung Eure Erscheinung verbessern würde. Bitte, nehmt Platz. Ich habe Euch vieles zu sagen, und im Sitzen habt Ihr es bequemer.«

Alejandro tat wie ihm geheißen, wobei er sich fragte, wie ein Mann so enge Beinkleider jemals bequem finden konnte. Wieder einmal war er mit seinem undurchschaubaren Lehrer und Kollegen allein. Wie kann ein so gelehrter Mann, ein so kluger Denker und logischer Geist, nur so bigott und arrogant sein? dachte er, als er ihn betrachtete.

Können diese widersprüchlichen Eigenschaften in einem einzelnen Menschen nebeneinander existieren, ohne ihn umzubringen oder zumindest in den Wahnsinn zu treiben?

»Ich habe mit Bewunderung zugesehen, welche neuen Fertigkeiten Ihr in diesen letzten Tagen erworben habt«, begann de Chauliac, »und wie ich Euch schon sagte, bin ich beeindruckt von Eurer Klugheit und Eurem Wissen. Ich habe daher nach eingehender Beratung mit Seiner Heiligkeit entschieden, daß Ihr am Hofe von König Edward III. dienen sollt, dessen Bitte um Schutz dieses ganze Unternehmen überhaupt erst in Gang gesetzt hat.«

Alejandro schluckte und nickte.

De Chauliac, der eine lebhaftere Reaktion erwartet hatte, fragte: »Nun, seid Ihr nicht erfreut? Das ist eine große Ehre für einen Arzt.«

Leise antwortete Alejandro: »Ich fühle mich hochgeehrt, Herr. Euer Vertrauen in mich ist ganz unverdient.«

»Das finde ich nicht, Doktor Hernandez. Ich sehe in Euch etwas von meiner eigenen Jugend, den gleichen brennenden Wunsch, Größe zu erlangen. Oh, nein, Monsieur«, fügte er beinahe heftig hinzu, »ich glaube nicht, daß ich Euch überschätze. Aber Eure Aufgabe wird schwierig sein, und zwar wegen der Natur des Königshauses, dem Ihr dienen werdet.«

Er hielt inne, um Alejandro Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, doch er bekam keine. Er seufzte tief und fuhr dann in düstererem Ton fort: »Ich verstehe Euer Widerstreben, doch begreift bitte, daß Eure Arbeit in England keine freie Entscheidung ist. Für Seine Heiligkeit steht viel auf dem Spiel, und wir werden in ständiger Verbindung mit dem englischen Hof stehen, um uns zu vergewissern, daß Ihr Eure Aufgabe mit Fleiß erfüllt. Falls Ihr das nicht tut, wird es für Euch kein gutes Ende nehmen.«

Alejandro blickte von seinen Händen auf und starrte de Chauliac an. Der unterschwellige Zwang, den er schon während der Ausbildungszeit empfunden hatte, bestätigte sich nun; er hatte daran gedacht, den Papstpalast zu verlassen, er hatte viele Male mit dem Gedanken an Flucht gespielt, doch all das erübrigte sich nun. Ich weiß nicht, was er über mich weiß, dachte er und suchte in de Chauliacs durchdringenden blauen Augen einen Hinweis auf das Ausmaß seines Wissens. Was er sah, war de Chauliacs Wunsch, ihn in Erstaunen zu versetzen, und die Sicherheit, daß er sich unterwerfen würde. Traurig dachte er, daß es wohl am klügsten war, sich danach zu richten.

Mit einem tiefen, resignierten Seufzer sagte er: »Sind die Mitglieder dieses Königshauses anders als die anderen?«

De Chauliac lächelte beinahe boshaft; seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen, und begeistert setzte er zu einer Erklärung an. »Sie sind Plantagenets«, sagte er und betonte den Namen, als solle er für Alejandro eine Bedeutung haben. »Sie glauben, sie seien die edelste Linie in ganz Europa. Sie sind alle Riesen und hellhäutig mit Haaren aus gesponnenem Gold und Augen wie Saphire; das Nordische ist bei allen unverkennbar. Sie sind hochmütig, rücksichtslos und samt und sonders lasterhaft. Und es gefällt ihnen nicht, Befehle entgegenzunehmen, die von Seiner Heiligkeit kommen, obwohl sie äußerlich so tun, als beugten sie sich dem Willen der Kirche. Edward hat zwar ausdrücklich verlangt, daß ein Arzt zu ihm geschickt wird, aber er wird Eure Anweisungen nicht befolgen, ohne mit Euch darüber zu streiten.«

»Das klingt, als wären die Angehörigen des englischen Königshauses schrecklich unangenehme Leute«, sagte Alejandro.

De Chauliac lachte. »Oh, ganz und gar nicht. Edward und Philippa führen den lebhaftesten und prachtvollsten Hof in ganz Europa. Sie sind stolz darauf, ihren Gästen die wunderbarsten Bequemlichkeiten zu bieten. Sie haben ein Vermögen ausgegeben, um ihr Schloß in Windsor zu vergrößern, und Ihr werdet es zweifellos sehr spektakulär finden.«

»Spektakulärer als das hier?« Alejandro wies auf den Saal mit seiner reichen Ausstattung, in dem sie sich befanden. »Wie ist das möglich?«

»Edward will die Franzosen in allem überbieten. Das ist eigentlich nur natürlich, da er über seine Mutter den französischen Thron für sich selbst beansprucht. Ihr werdet sehen, daß die Franzosen ein sehr viel sittsameres und aufgeklärteres Volk sind als die Engländer. Edward muß der Aufgabe gewachsen sein, sie zu regieren, falls ihm diese Ehre zufallen sollte.«

Er schwieg ein paar Augenblicke, damit Alejandro in sich aufnehmen konnte, was er gesagt hatte. »Besondere Aufmerksamkeit sollt Ihr Prinzessin Isabella zollen, denn Seine Heiligkeit hat Pläne für ihre Vermählung. Ich warne Euch, sie ist ein eigensinniges und störrisches Mädchen und eine große Schönheit. Sie wird versuchen, Euch mit Charme nachsichtig zu stimmen, aber Ihr dürft nicht zulassen, daß ihre Natur Euch an der Erfüllung Eurer wichtigen Aufgabe hindert. Die anderen, den Schwarzen Prinzen und die Königin, ihre Gefolgsleute, werdet Ihr ähnlich geartet finden, aber weniger stark. Ich denke, Edward und Isabella werden Euch alle Hände voll zu tun geben.« Er erhob sich und zeigte damit an, daß das Gespräch beendet war. »Ich beneide Euch nicht um die Schwierigkeiten Eurer dortigen Arbeit«, sagte er, »aber ich beneide Euch um die erregende Aufgabe. Ich wünschte, ich könnte an Eurer Stelle gehen.«

Alejandro mißfiel die Idee, daß sein Wissen zu einem so anstößigen Zweck benutzt wurde, denn er konnte den Wunsch des ehrgeizigen Papstes nicht gutheißen, sich in die Affären der europäischen Staaten einzumischen, und wollte damit nichts zu tun haben. Doch er konnte nicht leugnen, daß de Chauliac recht hatte. Es war eine unvergleichliche Chance. Er schwor sich, diese Chance, soviel wie möglich zu lernen, gut zu nutzen.

»Ich werde mein Bestes tun, Herr«, sagte der Jude.

De Chauliac verbeugte sich tief und ging durch den üppigen Salon des Papstes auf den Pontifex zu. Wieder einmal hörte er sich dessen Klagen an und sprach mitfühlende Worte, doch die Isolierung wollte er nicht aufheben.

»Unter den Ärzten ist ein Spanier«, sagte er zu Clemens. »Er ist klug und geschickt und wird seine Sache besser machen als die anderen, glaube ich. Ich habe ihn nach England gesandt.«

Clemens lächelte zustimmend und fächelte sich mit seinem Fächer aus Pfauenfedern. »Gut gemacht, mein Freund. Zweifellos wird Edward erfreut sein, daß es uns gelungen ist, ihm einen Arzt zu schicken, der kein Franzose ist.« »Wir werden ungefähr zwanzig Tage unterwegs sein«, sagte der Hauptmann zu Alejandro. »Seine Heiligkeit hat uns zehn Gardisten gegeben, denn die Straßen sind heutzutage unsicher, überall herrscht Anarchie. Wir werden so schnell wie möglich reisen, denn ich will nicht zu lange an einem Ort bleiben, weil ich Angst vor der Pest habe.«

Sehr weise, dachte Alejandro, während er sein Pferd bestieg, ein feuriges dunkles Roß, das die schönen Insignien der Päpstlichen Garde trug. Er hatte seine Satteltasche gut hinter sich festgeschnallt und folgte dem Hauptmann, der die Gruppe aus dem Palasthof führte. Unter dem schützenden Banner des Papstes machten sie sich am späten Vormittag auf den Weg.

Ihre Reise ging bis zum vierten Tag zügig und ereignislos vonstatten. Sie nahmen eine Route, die ungefähr parallel zur Rhône verlief, und hatten auf dem Weg nach Dijon, das drei Tagesritte nördlich lag, bereits Lyon passiert, als sie einer unheimlichen Prozession von zerlumpten, schmutzigen Bauern begegneten, die sich auf der Straße staute und ihr Fortkommen behinderte.

»Sie sehen aus wie Gerippe«, sagte Alejandro und lenkte sein Pferd an der stöhnenden Karawane vorbei; er hielt sich den Ärmel vor die Nase, um ihrem Geruch zu entgehen. »Es müssen zweihundert oder mehr sein.« Er ritt nach vorn zum Hauptmann und fragte: »Was in aller Welt tun diese erbärmlichen Kreaturen?«

»Solche sind auf dem Land überall, sie ziehen von Stadt zu Stadt und geißeln sich vor aller Augen. Sie behaupten, die Retter der Menschheit zu sein, und denken, die schrecklichen Dinge, die sie einander und sich selbst antun, würden von Gott als Buße für die Sünden der Welt betrachtet. Sie meinen, Gott werde dadurch veranlaßt, die Seuche zu beenden. Sie finden von Tag zu Tag mehr Anhänger.«

»Aber ich habe keinen Anführer gesehen. Wie organisieren sie diesen gräßlichen Pilgerzug?«

»Angeblich hat jede Gruppe einen Meister, dem die Mitglieder totalen Gehorsam schwören; alle geloben, dreißig Tage oder länger bei der Gruppe zu bleiben. Sie erheben eine Abgabe für ihren Unterhalt während dieses Kreuzzuges, aber Gott allein weiß, was diese abgemagerten Gestalten zu essen bekommen. Man braucht sie bloß anzusehen; sie sind doch nur Haut und Knochen.«

Alle waren nackt bis zur Taille und mit blutgetränkter Asche verkrustet. Ihr ständiges Jammern beleidigte das Ohr und erfüllte die Luft mit den dissonanten Klängen von Trostlosigkeit und Weh. Die Reiter gaben ihren Pferden die Sporen, um sie hinter sich zu lassen.

Als sie sicher an der Prozession vorbei waren, sagte der Hauptmann: »Wenn ich Gott wäre, würde ich auf diese Elendsgestalten herabsehen und ihnen eine eigene Seuche schicken.«

»Wie es aussieht, hat Gott das bereits getan«, sagte Alejandro, »nämlich die Seuche des Wahnsinns.«

Sie ritten rasch voran, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die schreckliche Horde zu legen. Nach einigen Stunden erreichten sie die Außenbezirke einer Stadt und hielten an, um näher zusammenzurücken, ehe sie die Stadt passierten.

Obwohl Alejandro vom Krieg nur das wußte, was Hernandez ihm erzählt hatte, war ihm klar, daß die Schrecken des Krieges nicht grauenhafter sein konnten als die Szene, die sie auf dem offenen Marktplatz der Stadt erwartete. Sechs Feuer brannten, dicker Rauch erhob sich um sechs Pfähle, und an jedem hingen die verkohlten Überreste von etwas, das einmal ein Mensch gewesen war. Um diese Pfähle herum bewegten sich mehrere Dutzend jammernder Dämonengestalten, schrecklicher als alle, die sie in der Prozession gesehen hatten, bis zur Taille entblößt, den Rest ihres Körpers nur mit rohem Sackleinen bedeckt. Sie geißelten sich mit dornigen Zweigen und Peitschen mit Metallspitzen, und wenn sie sich nicht mehr selbst geißeln konnten, wandten sie sich um und schlugen sich gegenseitig. Blut tropfte von ihren Beinen und bildete Pfützen am Boden; überall war der Staub der Straße mit blutigen Fußabdrücken und blutigen Stoffetzen bedeckt. Hektisch tanzten sie um ihre verbrannten Gefangenen herum, aufgestachelt von einer großen Menge von Stadtbewohnern, die sich versammelt hatten, um das Schauspiel zu beobachten. Die Kirchenglocken läuteten in wilder Begleitung zu ihren scheußlichen Hymnen.

Alejandro und der Hauptmann sahen entsetzt und fasziniert zu; ihre Pferde tänzelten nervös, als einer der Flagellanten den Kreis verließ, um einen der Körper auf den Scheiterhaufen zu geißeln. Alejandro würgte beinahe, als er sah, daß der an den Pfahl gefesselte Mann noch lebte und sich unter den wilden Peitschenhieben wand. Er ritt näher heran, um besser zu sehen, und als er auf dem Ärmel des Mannes die rußigen Überreste eines gelben Kreises sah, preschte er mit seinem Pferd wütend vor.

Der Hauptmann hatte gesehen, daß sein Schützling die Beherrschung verlor, und schlug auf sein Pferd ein, um ihn einzuholen. Dann packte er die Zügel von Alejandros Reittier und brachte es abrupt zum Stehen.

»Monsieur! Ich bitte Euch, seid vernünftig! Das sind doch nur Juden!«

Wütend versuchte Alejandro sich loszureißen, doch der Hauptmann war viel größer und stärker als er, und er konnte sich nicht befreien. Der Hauptmann, der den Zorn in seinem Blick sah, erkannte, daß er ihn nicht unbegrenzt zurückhalten konnte. Inmitten des Chaos schrie er einem nahen Gardisten einen Befehl zu, und dieser sprang vom Pferd und legte rasch einen Pfeil in seinen Bogen. Mit verblüffender Genauigkeit zielte er, und der Pfeil traf mitten ins Herz des Gefangenen auf dem Scheiterhaufen und tötete ihn auf der Stelle.

Der schreckliche Kreis der Büßer hielt in seinem stöhnenden Tanz inne und drehte sich in einer einzigen Bewegung um, um zu sehen, welcher Verräter ihnen ihr Vergnügen genommen hatte. Sie erblickten die päpstliche Reisegesellschaft, ignorierten das schützende Banner und stürmten auf sie zu.

Wieder packte der Hauptmann die Zügel von Alejandros Pferd, gab seinem eigenen heftig die Sporen und versuchte, der wahnsinnigen Menge zu entkommen. Der ganze Geleitzug preschte davon und floh vor der verrückten, blutenden Horde. Die Reiter hielten erst inne, als sie tief im Wald und in Sicherheit waren.

Die Pferde waren nach der hastigen Flucht schweißnaß, und da die Dämmerung heranrückte, entschied der Hauptmann, über Nacht zu rasten. Während die Gardisten sich daranmachten, ihre Zelte aufzustellen, nahm der Hauptmann Alejandro beiseite.

»Euer Verhalten war unvorsichtig«, sagte er streng, »und hätte verheerende Folgen haben können.«

»Aber der Mann hat gelitten! Sie verbrannten ihn bei lebendigem Leib, und ich konnte nicht…«

»Ich verstehe Euer Mitleid mit den Leidenden, Arzt«, unterbrach ihn der Hauptmann, »aber keiner von uns hätte etwas tun können, um den Mann zu retten.«

»Ihr selbst habt doch Befehl gegeben, ihn zu töten! Ihr habt seine Qual auch gespürt.«

»Und einen guten Pfeil verschwendet«, sagte der Hauptmann. »Er war bloß ein Jude. Juden sind zum Leiden bestimmt. Es wäre klug, wenn Ihr Euch in Zukunft so wertlosen Heldenmuts enthalten könntet, wenn Ihr diese Reise bei guter Gesundheit beenden wollt.«

Wut stieg in Alejandro auf, und er mußte sich mühsam beherrschen. Verrate dich nicht, warnte er sich selbst. Ein Jude ist heute gestorben. Laß nicht zu, daß du der nächste bist.

Sie wandten sich leicht nach Westen, als sie Dijon passiert hatten, und nahmen eine Straße, die sie nach Norden und um Paris herum führte; am Ende würden sie so Calais erreichen und dort über den Kanal setzen.

Als sie noch eine Tagesreise östlich von Calais waren, begann einer der Gardisten über Kopf- und Magenschmerzen zu klagen. Alejandro untersuchte ihn sofort; wie er befürchtet hatte, begannen Hals und Achselhöhlen des Mannes anzuschwellen, und es stand fest, daß er sich infiziert hatte. Alejandro bat den Hauptmann, die Reise zu unterbrechen, um dem Mann etwas Ruhe zu gönnen, denn er wurde von Meile zu Meile kränker. Am nächsten Morgen wies ein anderer Gardist ähnliche Krankheitssymptome auf; am Nachmittag waren zwei weitere erkrankt.

Von den zehn Gardisten erkrankten fünf; die übrigen schickte Alejandro mit dem Hauptmann zusammen fort. Sie sollten in einiger Entfernung kampieren. Er selbst behandelte die Opfer mit Kräutern und Arzneien die er nach England mitnehmen sollte, trug dabei das Amulett und bedeckte seine Nase und seinen Mund, wie de Chauliac ihn angewiesen hatte.

Der erste Mann starb schon einen Tag nach Ausbruch der Krankheit, die übrigen waren in schrecklich elender Verfassung. Der Hauptmann drängte Alejandro, die Reise fortzusetzen, doch davon wollte der Arzt noch nichts hören. Er hatte große Hoffnung, mit der neu erlernten Behandlungsweise das Voranschreiten der Krankheit irgendwie beeinflussen zu können. Doch als der zweite Mann starb, begannen die restlichen Gardis- ten zu murren, und der Hauptmann, der an seine Pflicht dem Papst gegenüber dachte, drängte noch mehr auf Weiterreise.

»Ich gehe nicht weg, bis diese Männer entweder tot oder geheilt sind. Da kann ich keine Zugeständnisse machen.«

Das Murren der ängstlichen Gardisten nahm zu; sie sprachen davon, ohne Alejandro und ihre kranken Gefährten aufzubrechen. »Ich bin mit meiner Weisheit am Ende«, vertraute der verzweifelte Hauptmann dem Arzt an. »Ich muß Euch sicher nach England begleiten, und ohne anständige Eskorte kann ich das nicht. Wir haben schon zwei Männer verloren, und die anderen wollen nicht hierbleiben. Sie sind überzeugt, daß die Ansteckung hier irgendwo in der Luft lauert.«

»Dagegen kann ich nicht logisch argumentieren«, antwortete der Arzt. »Ich kann nichts sagen, um sie zu beruhigen. Ein weiterer Kranker ist jetzt dem Tod nahe, und noch zwei werden ihm sicherlich folgen.«

»Wie lange wird das dauern?« fragte der Hauptmann.

»Das kann ich nicht sagen; vielleicht einen Tag, vielleicht zwei.«

Der Hauptmann zog sich für ein paar Augenblicke zurück und kam dann überaus betrübt wieder. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Monsieur, für das, was ich jetzt tun werde, aber wir können uns nicht länger aufhalten.«

Alejandro verstand nicht; er sprang auf und folgte dem Hauptmann dahin, wo die kranken Gardisten lagen. In der kurzen Zeit, die er mit dem Hauptmann verbracht hatte, war der kränkste von ihnen gestorben; seine reglosen Augen starrten blicklos nach oben, Fliegen sammelten sich in den feuchten Augenwinkeln, und seine Brust hob und senkte sich nicht mehr. Die beiden anderen, die noch bei Bewußtsein waren, stöhnten und schrien in ihrem Elend.

Der Hauptmann trat zwischen die beiden Männer und sagte: »Macht Euren Frieden mit Gott.« Dann zog er sein Schwert.

Ihr mitleiderregender Anblick hätte einem Engel das Herz zerrissen, dachte Alejandro. Wie würde ich aussehen, wenn ich wüßte, daß meine Zeit gekommen ist? fragte er sich. Nicht anders. Sie werden wenigstens nicht länger leiden. Er machte keinen Versuch einzugreifen.

»Möge Gott sich ihrer und meiner Seele erbarmen«, sagte der Hauptmann. Und mit schnellen, gnädigen Stößen erlöste er die Seelen der letzten beiden kranken Gardisten.

»Und nun, Monsieur, werden wir aufbrechen, denn wir haben hier viel Zeit vergeudet. Gott wird die unschuldigen Seelen der Toten aufnehmen, aber Seine Heiligkeit wird dafür sorgen, daß Er mir nicht verzeiht, wenn ich Euch nicht sicher in England abliefere. Bitte packt Eure Sachen und kommt mit.« Sie ließen die Leichen im Wald liegen, da sie keine Mittel hatten, um sie zu begraben. Alejandro wünschte sich von Herzen, er hätte die solide Schaufel mitgebracht, die Carlos Alderon vor so langer Zeit in Aragon geschmiedet hatte.

Am zweiundzwanzigsten Tag nach der Abreise aus Avignon erreichte die dezimierte Gruppe den Hafen von Calais, der jetzt unter englischer Kontrolle stand; König Edwards Streitkräfte hatten ihn im Vorjahr in einer wilden, blutigen Schlacht erobert. In der Küstenstadt herrschte große Verwirrung, und die französischen Garden des Papstes klagten, sie fühlten sich wie auf feindlichem Gebiet. Wäre das päpstliche Banner nicht gewesen, hätte die englische Besatzungsmacht ihre Weiterreise gewiß behindert, denn sie waren kriegerisch aussehende Gruppen, die in Calais den Kanal überqueren wollten, alles andere als freundlich gesonnen.

Der Hauptmann ließ Alejandro und die restlichen fünf Gardisten in der Stadt zurück und ging zum Hafen, um eine Möglichkeit zur Überfahrt zu finden. Eine Stunde später kam er zurück und erklärte: »Wir haben wirklich Glück, das Wetter ist günstig für die Überfahrt. Ich habe einen Fischer gefunden, der begierig ist, unser Gold zu nehmen.«

Pferde und Männer gingen an Bord des soliden Schiffes, und der Fischer setzte Segel, um den frischen Wind zu nutzen. Alejandro war noch nie in einem Schiff auf dem offenen Meer gewesen und freute sich anfangs auf die Überfahrt nach England. Doch als sie die schützende Küste hinter sich ließen und die offene See erreichten, überfiel ihn schreckliche Übelkeit, und er konnte den Kopf, der zwischen seinen Knien hing, nicht mehr heben. Er starrte auf den Eimer mit seinem eigenen Erbrochenen, bis es so dunkel wurde, daß er ihn nicht mehr sehen konnte.

Der Kapitän hatte Mitgefühl mit der Schwäche des Arztes. »So eine Überfahrt ist nie leicht«, sagte er. »Bei rauher See sind manche Leute hinterher nie mehr dieselben. Aber ich denke, wir kommen gut voran; das Meer ist ruhig, und der Wind ist günstig für uns. Manchmal ist es sehr viel schlimmer als heute.«

Alejandro hob den Kopf gerade lange genug, um zu antworten: »Wie kann es noch schlimmer sein? Ich speie schon meine Eingeweide aus.«

»Danach habt Ihr vielleicht keine Beschwerden mehr«, sagte der Kapitän, »aber ich denke, Ihr solltet sie besser behalten. Vielleicht erleichtert es Euch zu hören, daß Ihr nicht als einziger leidet. Es heißt, sogar der mächtige Edward persönlich sei nicht seefest!« Er lachte, denn daß man den großen Edward heftig hatte erbrechen sehen, erschien ihm überaus komisch. Alejandro, der furchtbar litt, konnte sich dem nicht anschließen. Er ließ den Kopf wieder sinken und würgte trocken.

Sie erreichten das andere Ufer ohne Zwischenfall spät am nächsten Tag, und die ganze Reisegesellschaft ging schnell von Bord und führte die Pferde durch das flache Wasser zum felsigen Strand. Alejandro taumelte einige Zeit auf schwankenden Beinen umher, ehe er aufsaß.

Die weißen Felsen erhoben sich majestätisch aus dem Sand, und Alejandro sah zu, wie das Boot im verblassenden Sonnenlicht des Spätnachmittags kehrtmachte, um nach Frankreich zurückzusegeln, und ihn und seine Gefährten an diesen fremden Ufern zurückließ.

Alejandro zeigte auf eine ferne Stadt, deren Türme und Rauchsäulen am Horizont auftauchten, und fragte: »Ist das London?«

»Ja«, sagte der Hauptmann.

»Aber es sieht so klein aus! Und schaut nur, wie schmutzig die Luft darüber ist!« sagte Alejandro. »Ich hatte es mir größer und eindrucksvoller vorgestellt! Es sieht nicht aus wie eine Stadt, in der der große König Edward lebt.«

»Ich glaube, da ist er mit Euch einer Meinung«, sagte der Hauptmann, »denn augenblicklich hat er hier nur seine Armeen, wohnt aber westlich davon in Windsor. Ich habe gehört, daß er dort einen wunderbaren Palast hat. Heute abend werde ich Euch beim Tower von London abliefern, wie man mich angewiesen hat. Morgen werdet Ihr vielleicht nach Windsor gebracht.«

Die gutturale Sprache des englischen Volkes war hart und abrupt, fand Alejandro, ganz anders als sein lyrisches heimatliches Spanisch oder das weiche, fließende Französisch, das er gelernt hatte. Die groben Laute attackierten seine Ohren, als der päpstliche Gesandte durch die Menge ritt, die die große Brücke in die Stadt London verstopfte. Einmal hatte er Deutsch sprechen hören, das ein ungeübtes Ohr mit Englisch hätte verwechseln können, doch der Klang beider Sprachen gefiel ihm nicht.

Er blickte hinunter auf die Ufer des Flusses Themse und sah die Leichen, die sich dort angesammelt hatten; einige trieben dahin, andere schaukelten im seichten Wasser nahe dem Ufer. Er konnte ihre Verwesung bis hoch oben auf die Brücke riechen. Das Wasser sah eher wie Schlamm aus, überall trieben Exkremente und Unrat, und er erblickte kaum irgendwo eine klare Oberfläche.

Noch immer flatterte das päpstliche Banner ihrem Zug voran, und überall traten die Menschen beiseite, um sie vorbeizulassen. Beim Anblick des goldenen Kreuzes auf rotem Grund fielen jammernde Bittsteller auf die Knie und falteten die Hände zum Gebet. Alejandro war verwirrt über die Aufmerksamkeit, die er und seine Begleiter erregten, und lenkte sein Pferd zwischen die Gardisten, um weniger aufzufallen.

Am Tor des Towers sorgte der Kastellan, der sie begrüßte, dafür, daß ihre Habseligkeiten in ihre vorübergehenden Unterkünfte gebracht wurden. »Seine Majestät erwartet Euch, ist aber nach Windsor gegangen, wo er Euch einen besseren Empfang bereiten kann. Er läßt Euch bitten, heute nacht hier zu rasten und morgen nach Westen zu reiten, wenn es Euch genehm ist.«

Da er begierig war, etwas über die Zustände außerhalb Englands zu erfahren, lud der Kastellan sie ein, an diesem Abend mit ihm zu speisen. Er hoffte, sie würden in allen Einzelheiten von ihrer Reise durch Frankreich berichten. Der Hauptmann stimmte bereitwillig zu, und die Abendmahlzeit wurde im Hauptwohnsaal des Kastellans serviert. Ein langer Holztisch war beladen mit dampfenden Fleischspeisen und knusprigen Broten, heiße Rüben lagen auf einer Platte angehäuft und wurden von Mann zu Mann weitergereicht. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, dröhnte Alejandros Kopf von der Anstrengung, die Gespräche zu verstehen. Er hatte auf der Reise von dem Hauptmann einige Brocken und Sätze in Englisch aufgeschnappt, denn an den Abenden in ihrem dunklen Lager hatten sie außer Reden nicht viel zu tun gehabt. Doch das Englisch des Hauptmanns war sehr dürftig und seine Aussprache schlecht; Alejandro hatte von ihm nicht genug lernen können, um sich zu verständigen, und bat häufig um Übersetzungen ins Französische.

Beim ersten Tageslicht wurde Alejandro von dem Hauptmann geweckt. »Wir sind aufbruchsbereit«, sagte er. »Ich habe einige Dinge mitgebracht, die Ihr von Seiner Heiligkeit überbringen sollt.«

Alejandro richtete sich auf, rieb sich die Augen und nahm das Päckchen entgegen. »Warum ruht Ihr nicht ein oder zwei Tage aus?« fragte er. »Ihr und Eure Männer müßt doch gewiß nicht sofort aufbrechen.«

»Lieber nicht«, sagte der Hauptmann. »Mir liegt nichts an der englischen Erde, und die englischen Soldaten machen sich nichts aus der guten französischen Erde, wenn sie die Wahl haben.«

Alejandro wollte ihn nicht gehen lassen. »Aber sicher sind ein oder zwei Tage doch nicht zu beschwerlich ...«

»Ihr vergeßt, guter Herr, daß mein König mit demjenigen, in dessen Hände ich Euch jetzt übergebe, im Krieg steht. Im Augenblick herrscht Waffenstillstand, wegen der Pest, aber der wird bald zu Ende sein. Ich diene zwar dem Papst, aber ich bin für alle Zeit ein Sohn Frankreichs, und ich möchte in meine Heimat zurückkehren. Das könnt Ihr sicher verstehen, so weit von Eurem eigenen Land entfernt ...«

»Nur zu gut ...« dachte Alejandro. »Dann sage ich Euch adieu und wünsche Euch eine sichere Heimkehr«, sagte er. Der Hauptmann salutierte und ging.

Als Alejandro wieder allein war, öffnete er das Päckchen, um den Inhalt zu inspizieren. Es enthielt mehrere Schriftrollen für den König und seine Minister und einige kleine Geschenke für die Damen sowie eine Börse mit Gold für ihn selbst.

Rasch kleidete er sich an und ging die Treppe hinauf zu einigen englischen Wachleuten, die die umgebende Landschaft beobachteten. Sein Herz wurde ihm schwer, als er die sechs Reiter kleiner und kleiner werden und schließlich verschwinden sah, und er fragte sich, wer von ihnen Avignon wohl nicht erreichen würde.

Auf dem Ritt nach Windsor hielt Alejandro sich dicht beim Führer seiner Eskorte, der unter König Edward in Frankreich gedient und die Sprache recht gut erlernt hatte. Alejandro bestürmte ihn dauernd mit Fragen, erkundigte sich nach den Namen alltäglicher Gegenstände und erbat Rat über die richtige Art, die englische Königsfamilie zu begrüßen, anzusprechen und sich zu verabschieden. Sein Lehrmeister amüsierte sich anfangs, doch nach und nach wurde er der unablässigen Fragen des jungen Mannes überdrüssig. Er war froh, als sie die Tore des Schlosses erreicht hatten und er Alejandro an seinem Bestimmungsort abliefern konnte.

Alejandro stellte fest, daß Windsor eine riesige Festung mit dicken Steinmauern und prachtvollen Türmen war, die hoch über die umgebenden Wälder ragten. Im unteren Hof wurde er von einem stattlich aussehenden Mann, der reich gekleidet und von noblem Äußeren war, begrüßt.

»Ich bin Sir John Chandos, Berater des Königs Edward und des Prinzen von Wales, und ich heiße Euch willkommen in unseren Mauern.« Der Arzt erwiderte die förmliche Verbeugung des Mannes und kam sich dabei ziemlich linkisch vor. Er war noch nicht an so höfische Umgangsformen gewöhnt.

»Pardon, Monsieur, je ne comprends pas.«

»Ach, ja«, sagte der Mann auf französisch. »Unsere grobe Sprache ist Euch unbekannt. Moi aussi, je préfère la langue française.« Er sprach auch weiter Französisch, da es die einzige gemeinsame Sprache zwischen ihm und Alejandro war. »Ich soll Euch in Eure Gemächer auf der Ostterrasse des Schlosses begleiten. Wir haben eine Suite von Räumen für Euch vorbereitet, die Ihr sicherlich annehmbar finden werdet. Der König hat großen Wert darauf gelegt, daß dem Abgesandten Seiner Heiligkeit während seines Aufenthaltes in unserem Reich alle Annehmlichkeiten zur Verfügung stehen.«

Alejandro folgte Sir John durch die Höfe in den Wohnbereich des Schlosses. Die Räume und Gänge waren von Fackeln und Kerzen hell erleuchtet, und während er unter ihnen hindurchging, sagte er: »Ich sehe, daß Öl in England nicht so teuer ist wie in Spanien.«

Sir John lachte. »Oh, es ist teuer genug, aber unser König duldet keine Dunkelheit in Windsor.«

Sie schritten durch eine geräumige Halle mit gewölbter Decke, deren Wände mit gewebten Behängen geschmückt waren, die glorreiche Schlachtenszenen darstellten; über dem Kamin hingen drei Gruppen gekreuzter Schwerter, umgeben von mehreren riesigen Geweihen.

»Welches Ungeheuer hatte denn solche Hörner?« fragte Alejandro und wies nach oben. »Lebt es hier in der Nähe? Wenn ja, dann sagt es mir, damit ich ihm aus dem Weg gehen kann.«

Sir John lachte. »Ihr braucht nichts zu fürchten, denn diese Geweihe sind sehr alt und stammen vom irischen Elch; der Vater König Edwards hat sie von den Torfmooren Irlands mitgebracht. Seit Hunderten von Jahren hat man keine Elche mehr gesehen; es heißt, sie seien doppelt so groß gewesen wie ein gutes Pferd.«

»Sie sehen eher aus, als stammten sie von einem Baum und nicht von einem Pferd«, sagte Alejandro. »Alles hier ist so groß! Ich komme mir wie ein Zwerg vor. Sind diese Plantagenets denn solche Riesen?«

»Das würdet Ihr denken, wenn Ihr sie in der Schlacht sehen würdet«, sagte Sir John und errötete dabei vor Stolz. »Sie wirken wie Goliath in einer Rüstung.«

Und ich bin kein David, dachte Alejandro.

Ein langer Tisch, groß genug für mehrere Familien, beherrschte die Mitte des Raumes. Ringsum standen mit reichen Schnitzereien verzierte Stühle. Das Rautenmuster des Fußbodens bestand aus glattem Marmor, abwechselnd schwarz und braun, und war hier und da mit gewebten Teppichen und Tierfellen bedeckt. Als sie den Raum verließen, kamen sie in einen langen, hell erleuchteten Korridor. An seinem Ende wandten sie sich nach rechts, kamen an mehreren geschlossenen Türen vorbei und blieben schließlich an einem kleinen Alkoven stehen.

Sir John öffnete die Tür und bat Alejandro hinein; der Arzt trat ein, sah sich in seinem neuen Zuhause um und war beeindruckt von den feinen Möbeln und der reichen Ausstattung.

»Ich glaube, Ihr werdet diese Räume sehr bequem finden, Monsieur. Ihr braucht nur diesen Glockenstrang zu ziehen, dann wird sogleich Euer Diener erscheinen und nach Euren Wünschen fragen.« Sir John hielt inne, damit Alejandro sich kurz umsehen konnte, und fuhr dann fort: »Die Familie wird sich beim siebten Glockenschlag zum Dinner in der großen Halle versammeln. Der König würde sich freuen, wenn Ihr an seinem Mahl teilnehmen würdet. Ich verlasse Euch jetzt; ich freue mich darauf, später in Eurer Gesellschaft zu sein. Guten Abend, Doktor Hernandez.«

Beim Klang der Glocken hielt Alejandro im Auspacken inne und lauschte aufmerksam. Er zählte mit, um die Uhrzeit festzustellen. Es waren sieben Schläge. Noch einmal überprüfte er seine Kleidung, damit alles perfekt in Ordnung war, denn er hatte nie zuvor so feine Sachen getragen und mußte bei jedem Kleidungsstück auf die richtige Verwendung achten. Ein letztes Mal strich er sich die Beinkleider glatt, die er verabscheute, verließ seine Gemächer und machte sich auf den Weg in die große Halle.

Der Raum, der ihm schon vorher exquisit erschienen war, wirkte nun noch prächtiger durch die dort versammelte Gesellschaft. Zahlreiche Personen in prächtiger Kleidung lauschten einem Musikanten, der zwischen ihnen herumging und seine Laute an einem bunt bestickten Band über der Schulter trug.

Eine anmutige Frau, hellhaarig und dicklich, saß auf einem von zwei großen hölzernen Sesseln mit roten Samtpolstern. Trotz ihrer prächtigen Gewänder und Juwelen trug ihr Gesicht den bekümmerten Ausdruck tiefer Trauer. Er dachte: Das ist die Königin, die gerade erst ihre Tochter verloren hat; kein Wunder, daß sie so niedergedrückt aussieht ...

Alejandro betrachtete die anderen Anwesenden im Raum. Er blieb verborgen in der Tür stehen und beobachtete die strahlende Versammlung, ohne sich selbst zu zeigen. Es gab viel zu sehen; er versuchte zu erraten, welche von den Versammelten die Söhne und Töchter des Königspaares waren. Fast alle hatten helle Haut, helles Haar und helle, blaue oder graue Augen. Eine der jungen Damen war über und über mit funkelnden Juwelen behängt und in glänzenden Satin gewandet; er hielt sie für eine Prinzessin. Eine andere hatte Haare in der Farbe von schimmerndem Kupfer ...

Alejandros heimliche Beobachtung wurde abrupt durch den Klang eines Clairons unterbrochen, der das Eintreten einer bedeutenden Persönlichkeit ankündigte.

Ein Mann mit einer schmalen goldenen Krone im ergrauenden Haar schritt rasch in den Raum, dicht gefolgt von einem gutgekleideten jungen Mann ähnlichen Aussehens. Alejandro dachte, daß beide einen guten Kopf größer waren als er selbst. Beide waren von ansehnlicher, männlicher Gestalt. Hätten sie Rüstungen getragen, hätte er sie für irgendwie bedeutende Krieger gehalten. Es war offensichtlich, daß es sich um Vater und Sohn handelte, und ebenso offensichtlich, daß sie Könige waren oder sich dafür hielten. Die Versammelten verneigten sich alle gleichzeitig, als der König näher kam; der Prinz blieb zurück und nahm seinen Platz unter den anderen ein. Schließlich blieb der König vor der sitzenden Frau stehen, die Alejandro für die Königin gehalten hatte. Er reichte ihr seine Hand, sah sie mit funkelnden Augen an, und sie kicherte wie ein junges Mädchen und nahm seine Hand. Sanft zog er sie vom Stuhl hoch.

»Meine Königin«, sagte der König und küßte zart ihre Hand. Er führte sie durch die sich verneigende Versammlung und sorgte dafür, daß sie bequem saß; dann schritt er feierlich an das andere Ende der Tafel und ließ sich auf einem hochlehni- gen hölzernen Stuhl mit Samtkissen nieder. Nachdem er saß, forderte er seine Gäste auf: »Nehmt Platz.«

Unter allgemeinem Stühlerücken setzten die Gäste sich um den großen Tisch. Alejandro sah einen freien Stuhl und erkannte zu seiner großen Verlegenheit, daß er vermutlich für ihn selbst bestimmt war. Hastig trat er nun in den Raum und sah, daß Sir John sich sofort von seinem Sitz erhob und auf ihn zukam.

»Euer Majestät«, sagte Sir John, während er eilig auf den Arzt zuging, »gestattet, daß ich Euch Doktor Hernandez vorstelle, den ärztlichen Gesandten, den Seine Heiligkeit, Papst Clemens, uns geschickt hat. Er ist erst heute nachmittag eingetroffen.«

Aller Augen wandten sich sofort Alejandro zu, auch die durchdringenden blauen Augen des Königs. Der Herrscher musterte den fremden Gast schnell und überaus gründlich, denn Edward liebte Clemens nicht besonders und vertraute ihm noch weniger; trotz ihrer eifrigen Korrespondenz war keiner von beiden von den guten Absichten des anderen überzeugt.

Alejandro ließ die aufdringliche Musterung reglos über sich ergehen, da er nicht wußte, was er tun sollte; Sir John hielt ihn an der Schulter, und Alejandro wartete, bereit, sich von ihm führen zu lassen.

Endlich ließ König Edwards Blick ihn los, und er sagte: »Wir sind entzückt, Doktor Hernandez, daß Ihr so weit gereist seid, um unserer Familie beizustehen. Es ist freundlich und großzügig von Seiner Heiligkeit, für unseren Schutz zu sorgen, indem sie uns Eure Dienste zur Verfügung stellt. Bitte nehmt mit uns das Abendessen sein. Wir sind begierig, die Neuigkeiten aus Avignon zu hören, die nur Ihr uns berichten könnt.«

Der König nickte in Richtung des leeren Stuhls, und Alejandro spürte, wie der diensteifrige Sir John ihn hinführte. Er setzte sich und zog den Stuhl an den Tisch. Zu seiner Rechten saß die hellhaarige und graziöse Prinzessin, die er zuvor bemerkt hatte. Er sah sie an und lächelte höflich.

»Mein Vater duldet nicht, daß seine Gäste sich verspäten«, sagte sie.

Sie sah Alejandro direkt an und lächelte kokett, und er spürte, wie alle ihn anschauten und auf seine Antwort auf diese unfreundliche Bemerkung warteten.

Das muß die ungezogene Isabella sein, dachte er. Sie ist genauso, wie de Chauliac gesagt hat. »Das ist nicht mehr als recht«, sagte Alejandro, »denn ein König verdient die höchste Achtung aller seiner Untertanen.« Alejandro wandte sich an den König und fuhr zerknirscht fort: »Bitte verzeiht meine Unhöflichkeit, Majestät, ich kenne mich in den Bräuchen Eures Königreiches noch nicht aus. Ich bin ein unwissender Spanier und weit von den Tröstungen meiner Heimat entfernt.«

Er hätte nichts Besseres sagen können, denn der König war stolz auf die Eleganz seines Hofes und legte größten Wert auf perfekte Gastfreundschaft. »Wir werden dafür Sorge tragen, daß Ihr in unseren Bräuchen unterwiesen werdet, Sir, damit Ihr Euch hier wohl fühlt. Ich kann nicht dulden, daß irgend etwas das Wohlbefinden meiner Gäste beeinträchtigt.«

Dann lachte der König herzlich. »Nach Auskunft des Heiligen Vaters, junger Mann, seid Ihr alles andere als unwissend. Er hegt große Bewunderung und Wertschätzung für Eure Fähigkeiten als Arzt. Und nun müßt Ihr mir meine Ignoranz vergeben, denn ich habe gegen meine Pflichten als Euer Gastgeber verstoßen. Bitte gestattet mir, Euch meiner geliebten Königin Phillippa vorzustellen.« Er wies in die Richtung der Königin.

Alejandro erhob sich so eilig, daß er beinahe seinen Stuhl umgeworfen hätte, und verbeugte sich tief vor der Königin, die ihm gnädig ein Lächeln gewährte. Unter den jüngeren Mädchen im Raum erhob sich gedämpftes Kichern; sie fanden seine aufrichtige, aber linkische Verbeugung sehr amüsant.

»Bitte, nehmt wieder Platz, Monsieur; ich bin diejenige, die sich durch Eure gelehrte Anwesenheit geehrt fühlt.«

Alejandro gehorchte der Aufforderung der Königin und wurde rot vor Verlegenheit über seinen erfolglosen Versuch, höflich zu sein.

»Doktor Hernandez«, fuhr der König fort, »ich hoffe aufrichtig, daß Ihr uns eine Arznei für die scharfe und übereilte Zunge meiner Tochter verschreiben könnt.« Er wies auf das Mädchen, das ihn vorhin getadelt hatte, und Alejandro sah den wütenden Gesichtsausdruck der Prinzessin. »Wir alle leiden unter Isabellas unbeherrschbarem Drang, unsere Unvollkommenheiten zu korrigieren. Aber sucht die Ursache dieser Eigenart zuerst bei mir; ich habe meine Isabella verwöhnt und kann niemandem die Schuld geben außer mir selbst. Und nun lernt meinen Sohn Edward kennen, den Prinzen von Wales.«

Der junge Mann, der mit dem König eingetreten war, sagte: »Eure Anwesenheit ist uns eine Ehre, Doktor«, während er Alejandro ein Zeichen gab sitzenzubleiben. »Seine Heiligkeit hat viel über Eure Ausbildung und Eure Fertigkeiten geschrieben. Er versichert uns, daß Ihr unsere Familie heil durch diese Plage bringen werdet.«

Er hat meine Fähigkeiten übertrieben, fürchte ich, dachte Alejandro bei sich; bei den Soldaten, die auf der Reise hierher krank wurden, haben sie wenig ausgerichtet. Er beschloß, eine realistischere Beschreibung dessen zu geben, was er für die englische Familie tun konnte, wenn er Gelegenheit hatte, den König unter vier Augen zu sprechen, denn er wollte die Damen nicht beunruhigen.

Das Gespräch wandte sich den Neuigkeiten aus Europa zu, und alle spitzten die Ohren, als Alejandro von seiner Reise aus Avignon erzählte. Er war dankbar für die Gelegenheit zu sprechen, denn sein Kopf dröhnte von der Anstrengung, den Gesprächen am Tisch zu lauschen, die in zwei ihm fremden Sprachen geführt wurden. Er berichtete den Anwesenden von seiner Begegnung mit den abstoßenden Flagellanten und ihrem barbarischen Angriff auf die Reisegesellschaft; sehr bekümmert erzählte er vom Tod der päpstlichen Garden. Die Zuhörer schwiegen aufmerksam; alle waren in ihre eigenen Gedanken über Europas traurige Situation versunken.

Der Prinz von Wales bemerkte die düstere Stimmung und gab der Unterhaltung geschickt eine andere Wendung. »Wie kam es, daß Ihr in Frankreich wart, fern von Eurem heimatlichen Spanien, und dort die Aufmerksamkeit des päpstlichen Leibarztes erregtet?«

Alejandro dehnte die Wahrheit ein wenig. »Ich erhielt meine medizinische Ausbildung in Montpellier. Alle ausgebildeten Ärzte in der Gegend um Avignon wurden aufgefordert, sich beim Leibarzt des Papstes zu melden, und dieser traf seine Auswahl unter uns, nachdem er sich unsere Fertigkeiten angesehen hatte. Doktor de Chauliac unterwies diejenigen, die für das Ausland ausgewählt wur- den, in seinen besonderen Techniken zum Schutz des Papstes.«

Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu; von den meisten verstand Alejandro nichts. Ein Musiker spielte leise auf einer Harfe, während ein Narr zu der fröhlichen Weise seine Kapriolen schlug und alle entzückte, besonders ein kleines Mädchen, das auf der anderen Seite der Prinzessin saß. Ihr perlendes Gelächter war reizend und ihre überschäumende Fröhlichkeit ansteckend. Ich wünschte, es wäre so ansteckend wie die Seuche, dachte Alejandro.

Obwohl die königliche Familie ein Mitglied durch die Pest verloren hatte, wirkten die Anwesenden weitgehend unberührt von den grausamen Geschehnissen in der übrigen Welt. Nur die Königin hatte den vielsagenden Ausdruck von Trauer und Verlust, der im übrigen Europa so weit verbreitet war. Ansonsten herrschte hier echte Fröhlichkeit; die Herren waren kräftig und robust, die Damen anmutig und charmant. In diesem Schloß herrschte eine geheimnisvolle Immunität gegen die Folgen der Seuche, und Alejandro fand die Gesellschaft sehr vom Glück begünstigt. Er beschloß, sein Bestes zu tun, um ihnen ihre Zufriedenheit zu erhalten.